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Mantren wider den Zeitgeist

Eero Hämeenniemis Helsinki Biennale

Das Programm der neunten Helsinki Biennale wich grundlegend ab von den Inhalten anderer Festivals zeitgenössischer Musik. Verantwortlich zeichnete diesmal der Komponist Eero Hämeenniemi, ein glühender Verehrer südindischer Lebensart und -kultur, der die vielfältigen Veranstaltungen dem Motto "The twain have already met" unterstellte, in freimütig verspäteter Erwiderung von Rudyard Kiplings unwiderlegbarer Feststellung "Oh, East is East and West is West, and never the twain shall meet".
Werke westlicher Komponisten, die von östlicher Musik inspiriert wurden, waren folglich einer der Leitstränge der Biennale, deren historischer Höhepunkt für das Abschlußkonzert vorgesehen war. Da spielte das Philharmonische Orchester Helsinki unter dem jungen Holländer Jurjen Hempel die Uraufführung der Three Mantras from the opera 'Avatara', das orchestrale Hauptwerk von John Foulds (1880-1939), 67 Jahre nach Vollendung der Komposition. Der in Manchester geborene Foulds, der schon vor der Jahrhundertwende als erster Europäer mit Vierteltönen experimentierte, war einer der interessantesten Tonschaffenden seiner Generation und erforschte ab 1915 die indischen Musizierweisen mit mehr Konsequenz als seine Kollegen. In der modalen Systematik nahm er Messiaen voraus, blieb jedoch in der Tonalität verankert, und im Rhythmischen ist eine jubilierende Vitalität und Urgewalt wirksam, wie sie keiner seiner Landsleute je entfesselte. In den dreißiger Jahren ging Foulds nach Indien, wo er Musikdirektor von All India Radio wurde, das Indo-European Orchestra gründete und kurz vor Kriegsausbruch in Kalkutta an der Cholera starb. Viele seiner letzten Werke sind verschollen.
Die Three Mantras, Vorspiele zu den Akten, sind das einzige, was aus Foulds' wahrscheinlich vernichteter Oper Avatara erhalten ist. Das ätherische Mantra of Bliss mit Frauenchor-Vocalisen wird umrahmt vom komplex dissonanten und teuflisch schweren Mantra of Action und dem gnadenlosen Mantra of Will, einem polyrhythmischen Manifest des freien Willens auf der Basis eines 7/4-Chaconne-Motivs: wild entschlossen, von überwältigender Radikalität, reinste Dämonie in Klängen. Welch ein Monument an Originalität und Können - schockierend, daß das bis jetzt nicht erklungen ist. Daß in Helsinki symphonische Geschichte geschrieben wurde, war nicht allen Beteiligten klar: Die Intendantin der Philharmoniker übte sich in arroganter Inkompetenz und erreichte damit, daß die Orchesterstimmen erst drei Tage vor dem Konzert eintrafen; der Dirigent verstand die inneren Zusammenhänge des Werks nicht, rückte dieses mit seiner Unfähigkeit, Übergänge plausibel zu gestalten, in ein kurzatmig episodisches Licht und war in den rhythmisch verwickelten Abschnitten mit seiner steifen Körpersprache überfordert. So müssen spätere Aufführungen den wahren Umfang Fouldsscher Qualitäten enthüllen. Da steht die deutsche Erstaufführung nicht nur der Three Mantras aus, sondern auch so zauberhafter Werke wie des beflügelten Tonpoems April-England, der Pasquinades Symphoniques, des Klavierkonzerts oder seines Kammermusikschaffens.
Mit der Uraufführung von Eero Hämeenniemis Layapriya für vier südindische Perkussionisten und Orchester und mit Colin McPhees Gamelantoccata für Orchester und zwei Klaviere Tabuh-Tabuhan von 1936 endete das Schlußkonzert. Die Inder um Karaikudi Mani hatten zuvor in einem umjubelten Konzert ihre für Europäer nach wie vor unfaßbare metrische Korrelationsfähigkeit bewiesen, hatten es wirklich verstanden, ohne fixierte Tonhöhen alleine auf der rhythmischen Ebene unerhört weittragende Spannungsbögen zu erichten und die Zuhörer mehr zu fesseln als die meisten westlichen Interpreten. Nun versah Hämeenniemi dieses Ritual mit stilbewußter orchestraler Aura, was ihm das breite Publikum herzlich dankte. Tabuh-Tabuhan von McPhee war in der vortrefflichen Instrumentation balinesischer Überlieferung ein ungleich besserer Vorbote des Minimalismus, den Mangel an Elastizität der Tonhöhen gleicht der Farbenreichtum des Orchesters aus. Trotz aller originären Vertiefung in die Gamelanpraxis ist das im Westen wurzelnde Musik, die östliche Stilmittel exploriert. Leider taktierte der zackige Dirigent in unfreiwillig komischem Gegensatz zum tänzerisch mühelosen Fluß der Patterns.
Von ungleich höherem Rang war der Auftritt Sakari Oramos (des designierten Nachfolger von Simon Rattle in Birmingham) am Pult des Symphonieorchesters des Finnischen Rundfunks. Die Uraufführung des rhythmisch delikaten Klavierkonzerts von Jouni Kaipainen bewältigten er, Solist Juhani Lagerspetz und das Orchester mit Bravour. Doch welche Pfade verfolgt Kaipainen, ein ehemals überzeugter Modernist, heute? Die Frage, ob es sich bei seinem neuesten, mit gediegener Technik aufbereiteten Werk um das sechste Prokofjew-Konzert, das fünfte Rachmaninow-Konzert oder das dritte Ravel-Konzert handelte, entbehrte provokativer Unwahrheit und ließ sich um Namen wie Bartók, Strawinskij oder Milhaud beliebig erweitern. Es ist ein übergewichtiger Nachtrag zur spätestromantisch-neoklassizistischen Produktära, eine aufwendige Fusion von Gestrigkeiten. Kaipainens Konzert für Bratsche und kleines Orchester übrigens, von Ilari Angervo und der Tapiola Sinfonietta unter Hannu Lintu frisch aus der Taufe gehoben, entpuppte sich als (in zehn Tagen in Partitur gesetzter!) eklektizistischer Sturm im Wasserglas.

Rundum grandios und ein einziges Fatum aufständischer Naturhaftigkeit ist hingegen die 1993 entstandene dritte Symphonie von Pehr Henrik Nordgren, die Sakari Oramo ausgezeichnet - wenn auch mit etwas Scheu vor geballten schwarzen Schlacken - musizieren ließ. Hier hat der Komponist zu einem Ausdruckskontinuum gefunden, das in der dunklen Glut, der unausweichlichen linearen Kraft wie Lava aufscheint. Der 1944 geborene Nordgren hat die Einflüsse einstiger Vorbilder wie Schostakowitsch oder Ligeti seit langem transzendiert und eine ganz persönliche, freitonal-polyphone Clustertechnik entwickelt, die die melodische Energie ins Gigantische zu dimensionieren imstande ist - Tonsatz als wachgeträumte Utopie, als Überhöhung existentieller Not zu hymnisch wildem Erddurchdrungensein. Das Werk, das im November (in München) erstmals hierzulande zu hören sein wird, ist in vier zusammenhängenden Sätzen mit zwei verhaltenen Interludien für Klavier Solo gegliedert. Den sich aufbäumenden Lamentations folgt ein durchbrochener Choral, und die markerschütternde Vehemenz der Defiance mündet in die noble Violenz des Epilogue, in eine Apotheose aller Sonnenfinsternisse. Nordgrens Dritte ist eine der großartigsten Symphonien unserer Zeit, der wohl stärkste Beitrag finnischer Symphonik seit Sibelius, und langsam beginnen im Zuge solcher Aufführungen auch die Finnen, das überragende Format dieses dem kapitalen Kulturbusiness Abtrünnigen zu erahnen.
Ein 1995 geschriebenes Konzert für Horn und Streicher von Nordgren brachten Sören Hermansson und das fantastische Ostbottnische Kammerorchester unter Juha Kangas erstmals zu Gehör, ein Canto perpetuo e oscuro, der vom im Pastoralen so schmucken Solisten mehr Vierteltonwilligkeit und dramatischen Biß verlangt. Die Ostbottnier führten auch erstmals das komplette Book for Strings von Dänemarks Leitfigur Per Nørgård auf, fragile Hommages an Bartók, Lutoslawski und Sibelius, Fischschwärme aus den galaktischen Gewässern unendlicher Proportionalitäten. Auch die Serenata per archi vom Norweger Ketil Hvoslef, hinreißend verrückte Apotheose repetitiver Absurditäten und steinerweichender Parcours frontaler Überraschungen, war da ebenso zu hören wie Kalevi Ahos zum Bersten mit Imagination vollgesaugte Zweite Kammersymphonie, die Säcke voller Dämonen in unsere Ohrmuscheln entläßt; des weiteren Werke von Pallasz und Scelsi, die Pärt entwundenen Klangzacken der Memorial Cairns vom Nordiren Piers Hellawell und Anders Eliassons Violinkonzert von 1993, ein Werk aus unergründlicher substantieller Tiefe und Konzentration, kompromißloser Ausdruck zeitloser Klassizität, dem Solisten Jari Valo und seinen Mitstreitern zur zweiten Natur geworden. Das Ostbottnische Kammerorchester unterstrich seinen Ausnahmerang am Antistar-Firmament unbeirrbarer Unterwerfung unter unablässig neue tonschöpferische Konstellationen.
Die finnische Première von Anders Eliassons Kimmo für Trompete und sechs Schlagzeuger, einem inwärts klagenden Gedenkstück an das tragische Schicksal seines begabten Schülers Kimmo Nevonmaa (1960-96), gaben Håkan Hardenberger und das Kroumata Ensemble. Nie habe ich eine so konstante Vision orchestraler Vielfalt und Kontrolle in einer reinen Schlagzeugbesetzung verwirklicht gehört, die Trompeter werden Kimmo lieben! - ein weiterer Beleg für die überragende Stellung des Schweden, der am 3. April fünfzig Jahre alt wird.
Hämeenniemis Open ears-Grundgedanken entsprachen unmittelbar animierende Auftritte von Alarmel Valli mit klassischem karnatischen Tanz, Shelley Hirsch mit Oh Little Town of East New York und der Shobana Jeyasingh Dance Company. Muhal Richard Abrams leitete das UMO Jazz Orchestra, das Avanti!-Ensemble brachte Edward Vesalas wildwüchsige Vis fluminis heraus, Marathon-Geiger John Storgårds riß den Bogen über Xenakis, Lou Harrison, Roger Reynolds und Corigliano. Ein Schwerpunkt war die Präsentation zentraler amerikanischer Komponisten: John Corigliano, Christopher Rouse und Joseph Schwandtner - in Europa eine seltene Gelegenheit, die auf den geharnischten Widerstand der finnischen Kritiker stieß. Man wollte kein Verständnis für die affirmative Naivität empfinden, geißelte Sentimentalität und Primitivismus. Dabei sind Coriglianos Erste Symphonie mit ihrem Aufeinanderprallen auseinanderdriftender Zeitzustände und Räumlichkeiten, sein weitgespanntes Streichquartett mit der widerstrebende Zeitschichten komprimierenden "Fuge", die musikalisierten Konkretismen der Three Hallucinations von unwiderlegbarer Qualität und direkter Wirkung. Corigliano hat keine Angst vor unerwünschten Nebenwirkungen, desgleichen der 1949 geborene Christopher Rouse, der aus dem Spannungsfeld zwischen Led Zeppelin-Orgie und Samuel Barber-Verklärung in seiner Zweiten Symphonie (1994) zu packender Dichte findet. American symphony - why not in Europe? Man kann Eero Hämeenniemi nur danken dafür, wie nachdrücklich er für eine Woche kategorische Beliebigkeiten kraft musikalischer Lebendigkeit entkräftete, Mantren wider den Zeitgeist formulierte.

Beitrag von Christoph Schlüren