Der Strom schwillt weiter anDas finnische Phänomen |
Wo man auch hinblickt in der musikalischen
Welt unserer Tage, überall findet man Finnen: Dirigenten- und
Sängerstars, erfolgreiche und hochoriginelle Komponisten, fulminante
Geiger, Pianisten und andere Instrumentalisten, Orchester, Chöre
und Ensembles von Weltrang (eine ähnliche Dominanz der Finnen
gibts nur noch im Automobilsport). Das ist umso sensationeller,
wenn man bedenkt, dass die Gesamtzahl der finnischen Bevölkerung
derjenigen des Großraums Hamburg entspricht. In Finnland herrscht
eine Euphorie für klassische Musik, die uns nur ungläubig
staunen machen kann. Die übermächtige Vaterfigur, der
große Komponist Jean Sibelius, lebte bis vor weniger als einem
halben Jahrhundert. Insofern ist die Situation vergleichbar derjenigen
in Deutschland nach Beethoven, um 1870 die ruhmreiche Vergangenheit
wirft noch ihre langen Schatten, das Selbstwertgefühl ist immens.
Die Musikerziehung in Finnland ist landesweit vorbildlich organisiert,
und in jeder etwas größeren Stadt, die kulturell etwas
auf sich hält, gibt es ein professionelles Orchester. Klassische
Musik und Volksmusik genießen eine Popularität, die höchstens
noch mit dem benachbarten Estland vergleichbar ist. Das international
sichtbare Ergebnis dieser atemberaubenden Entwicklung sind Dirigenten
wie Segerstam, Berglund, Salonen, Oramo, Saraste, Vänskä,
Kamu oder Franck, von der Flut an Sängern und Instrumentalvirtuosen,
Komponisten und Ensembles (man denke nur an das phänomenale
Ostrobothnian Chamber Orchestra!) ganz zu schweigen. Behutsam entwickelte er seinen Stil
heraus aus der nordischen Tradition über Neoklassizismus und
Zwölftönigkeit hin zu einer freitonalen Sprache, die aus
motivischen Keimen komplexe Formorganismen wachsen ließ. Kokkonen
schrieb mit 'Die letzten Versuchungen' die finnische Nationaloper
schlechthin, die auch international eine der erfolgreichsten Opern
der zweiten Jahrhunderthälfte wurde. Der 1911 geborene Erik
Bergman ist ein bekennender 'Modernist', der bis heute ungebrochen
aktiv sein Schaffen mit jedem Werk völlig neu definieren
möchte. Einojuhani Rautavaara (geb. 1928), der als erster Finne
ein durchweg seriell organisiertes Werk schrieb, hat über neoromantische
und -impressionistische Stationen einen sanften, wohlklingenden
Stilpluralismus entwickelt, der ihm weltweit zu überwältigenden
Erfolgen verhalf. Wichtige weitere Komponisten seiner Generation
sind der Einzelgänger Usko Meriläinen, Aulis Sallinen
mit mehreren sehr erfolgreichen Opern, der Bannerträger der
'Avantgarde'-Ästhetik Paavo Heininen und der Eremit der 'neuen
Einfachheit Erkki Salmenhaara. Christoph Schlüren |