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Neues von Nordgren und anderen

Ein Boom, zwei Labelschicksale

Die klassische Musik boomt in Finnland wie sonst vielleicht nur – traditionell – der Rallyesport und das Saunieren. Musiker aus Finnland sind weltweit gefragt: Sakari Oramo Nachfolger Simon Rattles in Birmingham, Esa-Pekka Salonen fest im Sattel in L.A., Osmo Vänskä demnächst Chef in Minnesota, Paavo Berglund, Leif Segerstam, Jukka-Pekka Saraste und der junge, gefährdete Shootingstar Mikko Franck gefragte Gastdirigenten in aller Welt, der exzentrische Olli Mustonen Liebling der sensationshungrigen Kritik, die Komponisten Rautavaara, Nordgren, Aho, Lindberg und Saariaho mit Kompositionsaufträgen großen Kalibers überhäuft – kaum zu glauben bei einer Bevölkerung von knapp über 4 Millionen. Seit Sibelius hat Finnland eine rasante musikalische Entwicklung genommen, die höchstens noch mit derjenigen des benachbarten Estland – dem Zentrum der "singing revolution" – zu vergleichen ist. Da floriert natürlich auch die heimische Plattenindustrie. Doch hier hat man einen folgenschweren Fehler begangen. Das Traditionslabel Finlandia ging vor einigen Jahren mit großen internationalen Zuwachserwartungen im Warner-Konzern auf. Der hat nun unübersehbar mit der Schließung der Teldec- und Erato-Produktionsstätten die Notbremse gezogen, und Finlandia als längst vernachlässigtes Sorgenkind ist voll in den Depressionsstrudel geraten. So bot man unlängst dem musikalisch hochkarätigsten Exklusivjuwel, dem Weltklasse-Streicherensemble Ostrobothnian Chamber Orchestra und seinem Dirigenten Juha Kangas, fürderhin unannehmbare Konditionen an: Aufnahme und Produktion solle man künftig selbst bezahlen, das fertige Band sei man zu veröffentlichen bereit, Honorare gäbe es dafür auch keine mehr. Mit Kangas’ Orchester hat man viele Aufnahmen von zentraler Bedeutung vorgelegt, worunter diejenigen von Werken des existentialistischen Einzelgängers Pehr Henrik Nordgren herausragen, darunter sein quasi-improvisatorisch von haltloser Bedrängung zu fern aufschimmernder Hoffnung durchdringendes Altsaxophon-Konzert mit dem fantastischen John-Edward Kelly (Finlandia 3984-23392-2) oder, mit dem Symphonieorchester des Finnischen Rundfunks unter Kangas, die gigantisch aufgipfelnden Symphonien Nr. 2 und 4 (3984-29720-2). In Nordgrens Musik sind verwandte Elemente zu Schostakowitsch, Ligeti, Pettersson und Pärt amalgamiert zu einer zutiefst expressiven, düsteren und klanglich suggestiven Tonsprache. Er ist der eigentümlichste finnische Komponist unserer Zeit. Kangas hat mit seinen Musikern für Finlandia u. a. auch hinreißende Einspielungen baltischer Werke von Vasks, Sumera etc. und die Gesamtaufnahme der exquisiten Streicherwerke des führenden Dänen Per Nørgård vorgelegt. Finlandia hat im übrigen beim großen Vorbild Jean Sibelius eine in ihrer fast asketischen Linearität richtungsweisende Gesamtaufnahme der Symphonien veröffentlicht: mit dem Chamber Orchestra of Europe unter Paavo Berglund (3984-23389-2) – mir zu einseitig, nach Meinung anderer ideal. Und man hat auf die Erfordernisse des Markts reagiert mit der Budget-Doppel-CD-Serie 'Meet the Composer' in mehr als 20 Folgen, die so unterschiedliche Tonschöpfer wie den Sibelianer

Leevi Madetoja, den Avantgardepionier der ersten Stunde Erik Bergman, den profilierten Einzelgänger Usko Meriläinen, die Spektralklang-Auratiker Magnus Lindberg und Kaija Saariaho oder natürlich Nordgren umfaßt. Hier lohnt es sich wirklich, zuzugreifen und Neuland zu erkunden.
Die Konkurrenz schläft nicht, und die heißt in Finnland Ondine. Das gleichfalls in Helsinki ansässige Label hat das größte Renommée mit einem stattlichen Rautavaara-Projekt eingefahren. Am bekanntesten wurde Segerstams Einspielung der siebten Symphonie 'Angel of Light' (869-2). Einojuhani Rautavaara fand durch eklatante Stilwandlungen zu einem wohlklingenden, farbenreich wabernden Melos, womit er überall in der Welt beim Publikum Anklang findet. Ondine widmet sich ausgiebig auch international weniger beachteten Größen, so Einar Englund mit 7 im Windschatten von Schostakowitsch entstandenen Symphonien, den Orchesterwerken des kosmopolitischen Musikanten Uuno Klami (1900-61), worunter Sakari Oramos Mischalbum mit einigen übermütig humoresken Nummern hervorragt (859-2), den Symphonien des Spätromantikers Erkki Melartin oder den Werken der einst vom zentraleuropäischen Modernismus angeregten Revolutionäre Aarre Merikanto und Ernest Pingoud. Exzellent ist ein Album des neusachlichen Symphonikers Joonas Kokkonen, dirigiert von Berglund (860-2). Viel historisch Verdienstvolles ist im Katalog verzeichnet, und auch die aktuelle Szene kommt nicht zu kurz, sei es nun Nordgren (fabelhaft zwei Streichquartette mit dem Kokkola-Quartett: 713-2) oder die mit ihrem Salzburger Opernerfolg emporkatapultierte Kaija Saariaho, von der die Klang- und Geräuschgestik des Balletts 'Maa' am wirkungsvollsten ist (791-2). Wenn nun Ondine sich gegen Finlandia durchsetzen sollte, so nicht nur der kampflosen Überlassung des Feldes wegen, sondern auch aufgrund gezielterer Repertoirepolitik und Verpackungsästhetik. Doch hat Ondine noch keineswegs gewonnen, denn die härteste Konkurrenz kommt aus dem benachbarten Schweden: BIS, der Gigant unter den nordischen Klassiklabels, ist mit umfassenden symphonischen Anthologien von Joonas Kokkonen, Aulis Sallinen und des eminent erfindungsreichen Kalevi Aho im Rennen, und vor allem mit dem riesigen und international gepriesenen Unternehmen einer Sibelius-Gesamtwerkschau inklusive aller abweichenden Fassungen und Frühwerke. Und natürlich mit Nordgren, dessen fesselnde Streichersymphonie 'Cronaca' das Ostrobothnian Chamber Orchestra unter Juha Kangas mit atemberaubender Verve und bestrickendem Zauber zum unwiderstehlichen Erlebnis werden läßt (BIS 826). In Finnland ist des Reichtums kein Ende…

Christoph Schlüren