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Interview mit Leonard Slatkin

Von der Kunst, fremde Städte ohne Stadtplan zu erkunden

 (London, 14.10.94)
Mit Musik rundherum wuchs Leonard Slatkin auf, Sproß der Außenstimmen des berühmten Hollywood-Streichquartetts, des Primarius Felix Slatkin, der auch als Dirigent und Arrangeur bedeutend war, und der Cellistin Eleanor Aller. Im Hause der Slatkins gingen die Großen der Musik aus und ein: Arnold Schönberg, Frank Sinatra, Arnold Schönberg usw. Leonard lernte zunächst Geige spielen und wurde später zu einem exzellenten Pianisten. Karriere jedoch machte er als Dirigent, zunächst Assistent von Walter Susskind, dann ab 1979 Chefdirigent des Saint Louis Symphony Orchestra, das er zu einem weltweit geachteten Klangkörper formte, dessen warmer Klang vielen eher europäisch als typisch amerikanisch erschien. Seit dieser Saison ist Slatkin als Nachfolger von Rostropowitsch Chefdirigent des National Symphony Orchestra in Washington und Ehrendirigent in Saint Louis. Slatkin hat vor allem seit jeher außergewöhnliches rhythmisches Feeling besessen, das seinen Aufführungen immer tänzerische Eleganz verleiht, und besticht mit fein ausgehörter Arbeit und kultiviertem Klang auch in sehr komplizierten Partituren. Unter den Dirigenten ist er, seit Bernsteins Tod, unumstritten der Champion amerikanischer Musik von Gershwin bis zur symphonischen Moderne. Diesmal gastiert Slatkin beim BR-Symphonieorchester mit Werken aus der Alten Welt: dem ersten Schostakowitsch-Violinkonzert (Solist: Christian Tetzlaff) und der selten zu hörenden zweiten Symphonie von Anton Bruckner.
CS: Wie konnten Sie sich als Dirigent durchsetzen?
LS: Indem ich ständig bereit war, so gut wie möglich auf alles vorbereitet war. 1974 riefen die New Yorker Philharmoniker bei mir an: "Muti ist in letzter Minute ausgefallen. Wollen Sie morgen Ihr Debüt mit dem Orchester geben?" "Okay." "Werden Sie das Programm beibehalten?" "Ja." Das Programm, das war Berlioz' Waverley-Ouverture, das dritte Beethoven-Konzert mit Byron Janis und die Fünfte Prokofjew. Die Berlioz-Ouverture kannte ich überhaupt nicht. Also mußte ich sie in der Nacht lernen, denn natürlich sah es am besten aus, wenn ich das Programm unverändert ließ. Das ist es, was von jungen Dirigenten zu erwarten ist: diese Herausforderungen annehmen!
In Saint Louis machte mein Lehrer Susskind die sechste Symphonie von Vaughan Williams. Er wollte hören, wie es im Saal klingt, und bat mich, hochzugehen und den Anfang zu machen. Ich fing also an, und er unterbrach mich nicht, bis wir, 35 Minuten später das ganze Stück durchgespielt hatten. Das ist der Job: Sie müssen auf alles vorbereitet sein. Sie müssen soviel Repertoire wie möglich lernen. Und wenn Sie eine Gelegenheit erhalten, nehmen Sie sie wahr - wenn Sie sich dazu in der Lage sehen. Salonen lernte die Dritte Mahler in zwei Tagen, um sie hier in London zu dirigieren, und hatte einen großen Erfolg damit. William Steinberg fragte einen Studenten: "Kennen Sie die zweite Symphonie von Ernst Toch?" "Nein." "Dann wünsche ich Ihnen viel Vergnügen damit, denn morgen müssen sie die dirigieren." Er gab Partituren aus, und die ganze Klasse mußte die Symphonie über Nacht lernen. Da war keine Zeit, sich irgendwo eine Aufnahme zu besorgen - jeder mußte durch. Die wirklich guten Dirigenten schafften es.
CS: Was haben Sie von Ihrem Vater gelernt?
LS: Wenn Sie mit so großen Musikern als Eltern aufwachsen, ist das erste, was Sie mitbekommen, Achtung nicht nur für die Musik, auch für die Musiker. Sie lernen, zu respektieren, was sie tun. Daraus resultiert meine Beziehung zu den Orchestern. Ich versuche, sehr direkt zu sein in den Proben. Das, dies, das, dies... Bei Fehlern, von denen ich weiß, daß der Betreffende sie wahrscheinlich nicht wiederholt, sage ich nichts. Ich vertraue dem Orchester. Manchmal, wenn Sie zuviel an den Details proben, können Sie sich verheddern und die Architektur des Stücks verfehlen. Wenn irgendetwas nicht klappt, muß ich nicht gleich unterbrechen - ich markiere mir die Seite und probe diese Stellen hinterher extra. In vielen Fällen fordere ich auch nichts Bestimmtes, weil ich nie genau weiß, wie ich es im Konzert machen werde - vieles hängt vom Abend ab. Einmal empfinden Sie, daß Sie es vorwärtstreiben müssen, ein anderes brauchen Sie es zögerlicher. Das Orchester kennt das Stück, ich kenne es auch - wir gehen einfach auf die Bühne und machen großbesetzte Kammermusik, haben Spaß, hören einander zu.

CS: Wie studieren Sie eine Partitur?
LS: Das spielt sich in meinem Kopf ab, niemals am Klavier, dieser scheinbaren Hilfe. Ich will mir ja nicht den Klavierklang einprägen, sondern den Orchesterklang. Das ist eine Übungssache, das Partiturstudium ohne Klanghilfe, das innere Hören. Manchmal ist Einiges allerdings so kompliziert, daß es nicht geht, aber ich habe festgestellt, daß man es dann meistens auch am Klavier nicht wirklich hört. Es macht mir nichts aus, wenn ich ein Stück noch nie gehört habe. Ich gehe nur nach dem, was sich mir aus der Partitur mitteilt. Wenn ich in eine Stadt komme, in der ich noch nie war, ziehe ich es vor, vorher nichts darüber zu wissen. Ich leihe mir einen Wagen und fahre einfach los, ohne Stadtplan. Und ich verirre mich und muß den Weg zurückfinden. Auf diese Art lerne ich, mich auszukennen. Und indem ich mich verirrte, habe ich schon die interessantesten Dinge entdeckt, auf die ich sonst nie gekommen wäre. So habe ich immer meinen individuellen Ausgangspunkt. Jeder muß Dinge für sich selbst entdecken. Später, um die Meinung zu formen oder zu festigen, ist es auch interessant, zu wissen, was andere Leute denken. Aber der spontane, unvoreingenommene erste Eindruck ist essentiell.
CS: Komponieren Sie auch so?
LS: Ja. Aber nicht besonders gut. Meine Musik ist nicht eigenständig. Sie klingt normalerweise ein wenig wie das, was ich gerade dirigiere. Aber ich mache keine weiteren Gedanken über meine Kompositionen. Ich tue das nur, um mir ständig zu vergegenwärtigen, wie es ist, etwas zu erschaffen. Wir Dirigenten sind ja nur Nachschaffende - die Musik ist bereits da. Es ist wichtig, diese Mentalität zu verstehen, diesen Prozeß, wo etwas aus dem Nichts geschaffen wird. Außerdem erhalten Sie sich so den Respekt vor dem Komponisten. Es ist dann keine Sache, sondern Leben.
CS: Sie sind ausgewiesener Spezialist in der Musik Ihrer Heimat. Welche der heute lebenden amerikanischen Komponisten schätzen Sie besonders?
LS: John Corigliano ist hochinteressant, voller Emotionalität. Joseph Schwantner, Steven Hartke, John Harbison, Joan Tower, viele...
CS: Sie hatten eine besondere Beziehung zu William Schuman...
LS: Ja, zu diesem liebenswürdigen, aufgeschlossenen Menschen, dem ich vertrauen konnte. Er war ein urbaner Musiker und echter Symphoniker, mit einer sehr persönlichen Sprache und typischen Technik. Er stand ein wenig im Schatten Coplands, der stilistisch flexibler war.
CS: Man redet heute viel über Stilsuche, und wenn einer einen Stil gefunden hat, heißt das meistens, daß die Entwicklung aufhört und er sich reproduziert.
LS: Wie Bruckner.
CS: Wie bitte?
LS: Ja. Er fand einen Stil, und bei dem blieb er. Er versuchte, es zu verbessern, zu verändern, und doch klingt es immer wieder so, jede seiner Kompositionen. Die zweite Symphonie ist seine kühnste, neuartigste gewesen. Was ich jungen Dirigenten raten möchte: Versucht nicht, um jeden Preis der nächste große Bruckner- oder Brahms-Dirigent zu werden. Erarbeitet euch zusätzlich ein Repertoire, das kein anderer beherrscht. Ich habe das mit dem amerikanischen Repertoire gemacht zu einer Zeit, als das keiner sonst tat. Nur so kann man die Welt verändern, und es gibt so viel gute Musik überall, daß es nicht so schwierig sein kann, einen eigenen Bereich zu finden.

Interview: Christoph Schlüren

(veröffentlicht im Münchner Kulturmagazin 'Applaus')