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Kuhns vitalistisches Delirium

Die neun Beethoven-Symphonien
bei den Tiroler Festspielen Erl

Im Zentrum überregionalen Interesses steht bei den Tiroler Festspielen, die dieses Jahr zum dritten Mal stattfanden und in eine verheißungsvolle Zukunft blicken dürfen, natürlich Wagners Ring des Nibelungen in weit mehr als achtunggebietenden Aufführungen. Doch sind diese Festspiele durchgängig ein Hochseilakt ambitioniertester Projekte. Ganz nebenbei waren Beethovens sämtliche Klaviersonaten zu hören. Und auch einen Composer-in-residence wollte man herholen: Schwedens führenden Komponisten Anders Eliasson. Dieser freilich erkrankte schwer und mußte absagen. Wer aber in Erl seine vier Goethe-Lieder (wundervoll schlicht gesungen von Julia Oesch und mit erschöpfendem Verständnis begleitet von Daniel Linton-France) und das mit äußerstem Engagement vorgetragene Klarinettenquintett Ombra gehört hat, dürfte auf weitere Begegnungen mit Eliassons Werk gespannt sein. Eine solche Konzentration aufs Wesentliche ohne den Anflug asketischer Attitüde, seine so eigentümliche Harmonik, die weiteste Spannungsbögen zwingend zusammenhält, und unbeschreibliche Fülle und Dichte des Ausdrucks: Zweifellos ist Eliassons Musik von höchster Qualität, die es hierzulande erst noch zu entdecken gilt. Und im kommenden Jahr möchte man sich in größerem Umfang weiter seinem Schaffen – auch dem orchestralen – widmen. Daneben wurden in kleinen Werkschauen der dadaistische Österreicher Haimo Wisser (einer der interessantesten seines Landes, der 1998 Selbstmord beging) und der Filigranwerker Niccolò Castiglioni vorgestellt.
Gustav Kuhn, Initiator, künstlerischer Leiter und Chefdirigent der Tiroler Festspiele, schreckt vor keiner noch so gewaltigen Häufung großer Brocken zurück. Er ist der ursprüngliche Rebell geblieben, und er ist ein unnachahmlicher Meister in der Kunst, das Unmögliche möglich zu machen. So gab es unter seiner Leitung innerhalb von drei Wochen nicht nur zweimal die Götterdämmerung, sondern auch eine beeindruckend klar strukturierte und feurige Fünfte Symphonie von Anton Bruckner (die Entgleisung, in der Coda des Schlußsatzes die Orgel hinzuzunehmen, läßt sich mit des Dirigenten Ergötzen an barocker Klangpracht erklären), eine hinreißend und spannungsgeladen ausmusizierte Zweite Mahler, zweimal das Verdi-Requiem und, als finalen Höhepunkt, das "Beethoven-Delirium": Das Orchestra del Teatro di San Carlo di Napoli spielte unter Kuhns Leitung an drei aufeinanderfolgenden Abenden sämtliche neun Beethoven-Symphonien. Ein vermessener Kraftakt? Mitnichten.

Von vornherein ließ Kuhn –der die Abende im ausverkauften, akustisch vortrefflichen Passionsspielhaus mit launigen, spontanen Reden eröffnete – wissen, daß es ihm nicht um eine weitere Variante philologisch korrekter Aufführungspraxis geht. Vielmehr gehe es darum, diese Musik in all ihrer Lebendigkeit und Menschlichkeit unmittelbar erstehen zu lassen. Genau das ist ihm und seinen Abend für Abend zu besserer Form auflaufenden Mitstreitern geglückt. Angesichts des aktuellen Umfelds wirkt Kuhns Beethoven geradezu vitalistisch. Es gelingt ihm, das revolutionäre Feuer bis zu stichflammenartiger Vehemenz zu entfachen, dabei aber Wärme, Innigkeit, Poesie nicht zu opfern, sondern als Elemente unerschöpflicher Mannigfaltigkeit in den symphonischen Prozeß zu integrieren und aus den so ins Extreme getriebenen Kontrasten eine bebende Spannung zu gewinnen. Dieser Beethoven ist elementar, im besten Sinne naiv, unmittelbar kommunizierend und dabei grundsätzlich aus der bewußten Entfaltung des Strukturellen heraus verstanden. Die langsamen Sätze und die lyrischen Seitenthemen sind von natürlichster Sanglichkeit. Nicht, daß ich mit allem einverstanden wäre: Wie immer ist das Vivace im Kopfsatz der Siebenten zu schnell, der 6/8-Rhythmus und die entscheidenden Unterschiede in der Artikulation werden geopfert. Viele Tutti-Stellen sind, zumal in der Achten, arg außer Balance – die genaue Ausarbeitung leidet. Und die Tempoverhältnisse im Scherzo der Neunten stimmen wie üblich nicht, wofür man mit packendem Impetus entschädigt wird. Zu geradezu hysterischer Begeisterung bringt Kuhn nicht nur das Publikum, sondern auch seine Musiker, wenn er mit fast tierisch anmutender Energie die obsessiven Steigerungen körperhafte Gestalt annehmen läßt, so im fulminanten Finale der Siebenten, wo man meinen könnte, er möchte das Haus zum Einsturz bringen. Am großartigsten gelingt zum Abschluß die Neunte Symphonie, im weltentrückten Adagio und im Chorfinale, das man so trefflich einstudiert und mitreißend musiziert kaum je zu hören bekommt. Weniger denn je ist da zu spüren von dem eigentlich kaum zu bewältigenden Kraftakt. Und so gespielt, ist Beethovens Musik zeitlos lebendig und bedarf keiner mehr oder weniger gutgemeinten Wiederbelebungsversuche. Für die Tiroler Festspiele ergibt sich daraus lediglich ein Folgeproblem: Soll, nach dem überwältigenden Erfolg, das Delirium zur Tradition werden?
Christoph Schlüren
(Rezension für Frankfurter Rundschau)