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"Ich versuche, ein ganz eigenes Feld zu finden"

Interview mit Gustav Kuhn (Sommer 1998)

Gustav Kuhn ist nicht nur als origineller, stilbewußter Dirigent ein Begriff. Er ist auch bekannt dafür, jede Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen, um gegen den maroden Kulturbetrieb Position zu beziehen. Freilich ist Kuhn nicht nur ein Polemiker, sondern ein echter Rebell, der seine eigenen Vorstellungen wider das Establishment der international vernetzten Agenturen, wider den gedankenlosen Opportunismus verwirklicht. Für Schlagzeilen hat Kuhn nicht nur mit einer finalen Ohrfeige als Bonner Opernchef, sondern auch mit seiner Doppelberufung als Musiker und Segler gesorgt – Kuhn ist Steuermann des österreichischen Nationalteams im Soling-Wettbewerb. In seinem Buch "Aus Liebe zur Musik" (Henschel Verlag) hat Kuhn seine musikalische Weltsicht von praktischen Ratschlägen zum Dirigieren bis hin zum "Sinn im musikalischen Kunstwerk. Ein philosophischer Versuch" dargelegt. Für seinen künstlerischen Idealismus hat er vor allem in Italien günstige Arbeitsbedingungen vorgefunden – ausgerechnet in einem Land, in dem der etablierte Kulturbetrieb, an dem, so Kuhn, "alles schlecht ist", von den Streichungen der öffentlichen Gelder besonders hart betroffen ist. In diesem Sommer hat Kuhn eine vielbeachtete szenische Aufführung der Oper Guntram bei den Richard-Strauss-Tagen in Garmisch-Partenkirchen geleitet. Nun erscheint dieser Guntram beim Budget-Label Arte Nova, und weitere Projekte mit Kuhn, seinem italienischen Akademieorchester und den in seiner Obhut zu Stars herangereiften Sängern sind geplant.

Lokaltermin am Passionsspielhaus Erl, der Heimstätte der von Kuhn ausgerufenen Tiroler Festspiele, die in diesem Jahr zum ersten Mal stattfanden. Der Dirigent hat Verspätung. Da nähert sich ein Motorrad. Unbehelmt, mit flatterndem Bart, steuert Gustav Kuhn seinen Chopper in den Hof. Der Termin mit dem tirolischen Landeshauptmann und dem Erler Bürgermeister hat etwas länger gedauert. Umso optimistischer ist Kuhn nach dem großen Erfolg seiner ersten Tiroler Festspiele bezüglich der Finanzierung für die nächsten Jahre. Es ist ihm auf Anhieb gelungen, in seinem kleinen Heimatort ein Festival von überregionaler Bedeutung auszurichten, das nun alljährlich stattfinden soll.
CS: Wie geht es mit den Tiroler Festspielen weiter?
GK: Wir wurden von Publikum und Presse mit Lob überhäuft. Das gibt nicht nur uns großen Auftrieb, sondern auch den Politikern. Denn das Land Tirol hat uns kräftig unterstützt, außerdem einige Privatsponsoren, und die haben jetzt gesehen: Das kommt phantastisch an. Also tun die sich nun auch leichter mit dem Finanzieren. Nachdem wir diesmal das Rheingold hatten, tanzen wir aus der Reihe und setzen den Ring zunächst mit dem Siegfried fort. 1999 muß man Siegfried spielen, Wagners gebrochenstes Werk mit dem stilistischen Wandel zwischen zweitem und drittem Akt: so unüberbrückbar, und doch gilt es als Einheit – das ist ein irres Stück direkt vor der Jahrtausendwende. Meine Inszenierung wird natürlich auch auf den historischen Zeitpunkt bezugnehmen. Beim Rheingold hat die Fußballweltmeisterschaft reingespielt, beim Siegfried wird es der aktuelle Umbruch sein. 2000 folgt dann die Götterdämmerung, 2001 die Walküre, 2002 ist Passion, 2003 kommt der komplette Ring. Während des Jahres, wo in Erl die Passionsspiele stattfinden, gehen die Tiroler Festspiele nach Innsbruck. Im kommenden Jahr setzen wir nicht nur den Ring fort, sondern auch den Zyklus der Bruckner-Sinfonien, der bei uns rückwärts läuft: In diesem Jahr wars die Neunte, nächstes Jahr kommt die Achte. Dann muß ich mit Mortier sprechen – der ist so ein blendender Redner! –, ob wir es zur Regel werden lassen können, daß er die Eröffnungsrede hält. Das weiß er noch nicht. Außerdem fahren wir fort mit Uraufführungen: von Jürgen Doetsch, dem Leiter des Inntal-Chors, mit einem Streichquartett von Johannes Maria Staudt, und mit Werner Pirchner.
CS: Werden Sie die Aufträge immer in der näheren Umgebung vergeben?
GK: Nein, um Gottes Willen. Aber die ist intensiv einbezogen. Solange ich auf meinem Apfelbaum schönes Obst habe, muß ich es mir ja nicht aus Spanien schicken lassen. Wenn es hier in der Umgebung vitales Musizieren und Komponieren gibt, verwende ich das. Künftig werden sicher auch italienische Komponisten beauftragt – ich kenn’ die ja alle. Darauf ist es nicht beschränkt. In Skandinavien zum Beispiel tut sich eine Menge, das ist hochinteressant. Wir suchen und sind offen. Es muß jemand sein, der eine vitale Musik schreibt, die vielleicht auch die Bereiche Pop und Klassik verbindet. Es muß natürlich nicht mit Pop zu tun haben, und ich weiß, daß Bernstein den Spruch, zwei Songs der Beatles seien ihm wichtiger als die ganze Zweite Wiener Schule, nicht so kategorisch gemeint hat – Whiskey sei Dank… Aber man kann auch nicht eine ganze Kulturschiene, an der die Kinder dranhängen, einfach abtun als "Scheißmusik", und nur intellektuelle, verklärte, abstrakte Musik goutieren.
CS: Was hat Sie bewogen, das Erler Festival zu gründen?
GK: Ich habe das wie so vieles gemacht, weil mir der normale Musikbetrieb maßlos auf die Nerven geht. Deshalb mobilisiere ich meine ganzen Kräfte, um etwas zu machen, was ausweicht aus dieser Norm, die einfach nur langweilig, schlecht und fantasielos ist.
CS: Was ist schlecht am Musikbetrieb?
GK: Alles. Die Planung ist miserabel wie die Stimmung. Als ich voriges Jahr bei den Salzburger Festspielen den Titus machte, sagte Jerry Hadley irgendwann so nach vierzehn Tagen: "This can’t be opera, because it’s fun." Das war das beste und präziseste, was man über Opernproduktionen derzeit sagen kann.

Wir dürfen uns nicht beeindrucken lassen von Frustbolzen und Premierendrücken! Ich versuche, ein ganz eigenes Feld zu finden, wo mich niemand stört, wo das Menschliche stimmt, wo die Vorbereitung erschöpfend ist und wo ich eine Atmosphäre schaffen kann, die das Publikum sofort spürt. Sehen Sie, die anderen haben eben nicht eine Vorlaufzeit von einem Jahr, weil sie die Sänger dafür nicht haben. Wir hingegen haben unsere eigene Akademie, mit den eigenen Sängern. Und wenn einer es so weit gebracht hat wie der Albert Dohmen, dann ist er als Ehrenmitglied weiter dabei. Bei uns investiert jeder in die Idee "Kunst", und investieren bedeutet in diesem Fall, daß man mal ein Jahr am Stück dranbleibt, mehrere Jahre im voraus denkt, die Stimmentwicklung der Sänger genau plant.
CS: Darauf nehmen Sie viel Rücksicht…
GK: Nicht nur Rücksicht! Sie müssen eine Stimme gezielt entwickeln. Der heutige Betrieb ist ja so geisteskrank. Früher war es selbstverständlich, daß eine Stimme sich nur über gewisse Partien entwickeln konnte. Das gibts nicht mehr. Und wenn wir dann einmal was durchbringen und einer groß rauskommt wie der Dohmen, schüttelt die Fachwelt den Kopf: Wo kommt da plötzlich raketenartig dieser neue Wozzeck her? Wir wissen seit sieben Jahren, was für ein guter Sänger das ist. Nur muß man auch Charakter haben. Der hat vor sieben Jahren genau die gleichen Angebote gehabt wie heute. Hätte er damals Wotan gesungen, so hätte er heute keine Angebote mehr, weil die Stimme ruiniert wäre. Wir müssen die Sänger schützen vor dem gierigen Zugriff der Agenturen.
CS: Heute stehen Sie an der Spitze der Accademia di Montegridolfo südlich von San Marino. Wie hat das begonnen?
GK: Vor zehn Jahren, als ich Opernchef in Rom war, mußte ich feststellen, daß da ganz junge, hochbegabte Leute als staatlich verordnete Zweitbesetzung in der letzten Reihe des Opernhauses saßen. Mit denen hatte keiner geprobt, und wenn einer der Stars ausfiel, ersetzte man ihn durch einen anderen Star. Folglich kamen die nie zum Einsatz. Das ging mir wahnsinnig auf die Nerven. Also holte ich erstmals in der italienischen Operngeschichte diese armen Nibelungenzwerge nach vorne. Ich begann, mit denen zu probieren. Wenn die Leute fragen, wieso unsere Sänger so an der Akademie, an unserer Idee hängen – hier ist die Lösung: Denken Sie nur an heutige Stars wie Roberto Scandiuzzi oder Roberto Servile, die wir auf den Weg gebracht haben. In Rom haben wir bald gesehen, daß unsere Vorstellungen nicht mit der Kalkulation einer staatlichen Institution zur Deckung gebracht werden konnten. Wir können eben nicht in einem Jahr einen Sänger machen. Wir wissen nicht, ob es zwei oder sieben Jahre dauert. Das hängt von der Rollen- und Stimmentwicklung ab. Wir lösten uns dann ab und gingen nach Macerata, wo ich sechs Jahre lang Festspielleiter war. Aber auch da kamen Probleme: Die Politik, die Geld hineinpumpt, setzt auf Startheater. Macerata hätte andere Aufgaben als, sich an Weltkarrieren anzuhängen. Doch wir konnten unsere Idee vor der Verwässerung retten, indem wir Feretti als Sponsor gewannen, denen das Schloß zu Montegridolfo gehört, in dem die Akademie seit 1994 sitzt. Dort haben wir traumhafte Bedingungen.
CS: Sie haben jetzt den Guntram von Richard Strauss aufgenommen. Was ist das Besondere an dieser frühen Oper?
GK: Zuerst ist die ethische Haltung des Helden hervorzuheben, verbunden mit einer genialen Meisterschaft der Instrumentation. Der Guntram ist zwischen Macbeth und Till Eulenspiegel entstanden, da stand der junge Strauss ja bereits im Zenit seines Schaffens. Eigentlich war der Guntram für uns jetzt in der Orchesterarbeit interessanter als das Rheingold. Ich war von der Frische so hingerissen! Auch von der Naivität: "Du edle Frau", das habe ich natürlich ironisch inszeniert. Aber in der Ironie steckt ja eine große Sehnsucht drin – es wäre nicht schlecht im Leben, wenn ich das mal zu einer Frau sagen könnte.
CS: Wie stehen die Orchestermusiker zum Guntram?
GK: Obwohl es verdammt schwer zu spielen ist, machte es einen Riesenspaß, sowohl in San Carlo zu Neapel als auch mit meinem Akademieorchester Filarmonia Marchigiana, das noch etwas ehrgeiziger und jünger ist, und einsatzfreudig bis zum Umfallen. Ich sehe, daß wir ein bißchen den Dreh raushaben, wie ihn in dieser Art Celibidache hatte, der ein Orchester so motivieren konnte, daß einfach jeder Moment mit dem Maximum gespielt wurde. Das ist erstaunlich. Doch wenn sie sich disziplinieren, sind die Italiener fantastisch. Das Land ist so reich, und sie haben so viele wunderbare Musiker. Sie sind nur zu unorganisiert. Gelingt es aber, wie jetzt bei uns, dann kommt Erstaunliches raus.
Interview: Christoph Schlüren
Gustav Kuhn
1945 bei Salzburg geboren
studiert Komposition und Dirigieren, u. a. bei Bruno Maderna und Herbert von Karajan
anschließend Studium der Psychologie und Philosophie mit Promotion
1970 Beginn der Dirigierlaufbahn in Istanbul
Chefpositionen an den Opernhäusern in Bern, Bonn, Rom und beim Macerata Festival
Seit 1986 zusätzlich Opernregie
Seit 1992 Leitung der Accademia di Montegridolfo
1997 Gründung der Tiroler Festspiele Erl
(veröffentlicht in Klassik Heute, 1998)