Gustav Kuhn ist nicht nur als origineller, stilbewußter
Dirigent ein Begriff. Er ist auch bekannt dafür, jede Gelegenheit
beim Schopf zu ergreifen, um gegen den maroden Kulturbetrieb Position
zu beziehen. Freilich ist Kuhn nicht nur ein Polemiker, sondern
ein echter Rebell, der seine eigenen Vorstellungen wider das Establishment
der international vernetzten Agenturen, wider den gedankenlosen
Opportunismus verwirklicht. Für Schlagzeilen hat Kuhn nicht
nur mit einer finalen Ohrfeige als Bonner Opernchef, sondern auch
mit seiner Doppelberufung als Musiker und Segler gesorgt
Kuhn ist Steuermann des österreichischen Nationalteams im Soling-Wettbewerb.
In seinem Buch "Aus Liebe zur Musik" (Henschel Verlag)
hat Kuhn seine musikalische Weltsicht von praktischen Ratschlägen
zum Dirigieren bis hin zum "Sinn im musikalischen Kunstwerk.
Ein philosophischer Versuch" dargelegt. Für seinen künstlerischen
Idealismus hat er vor allem in Italien günstige Arbeitsbedingungen
vorgefunden ausgerechnet in einem Land, in dem der etablierte
Kulturbetrieb, an dem, so Kuhn, "alles schlecht ist",
von den Streichungen der öffentlichen Gelder besonders hart
betroffen ist. In diesem Sommer hat Kuhn eine vielbeachtete szenische
Aufführung der Oper Guntram bei den Richard-Strauss-Tagen in
Garmisch-Partenkirchen geleitet. Nun erscheint dieser Guntram beim
Budget-Label Arte Nova, und weitere Projekte mit Kuhn, seinem italienischen
Akademieorchester und den in seiner Obhut zu Stars herangereiften
Sängern sind geplant.
Lokaltermin am Passionsspielhaus Erl, der Heimstätte der von
Kuhn ausgerufenen Tiroler Festspiele, die in diesem Jahr zum ersten
Mal stattfanden. Der Dirigent hat Verspätung. Da nähert
sich ein Motorrad. Unbehelmt, mit flatterndem Bart, steuert Gustav
Kuhn seinen Chopper in den Hof. Der Termin mit dem tirolischen Landeshauptmann
und dem Erler Bürgermeister hat etwas länger gedauert.
Umso optimistischer ist Kuhn nach dem großen Erfolg seiner
ersten Tiroler Festspiele bezüglich der Finanzierung für
die nächsten Jahre. Es ist ihm auf Anhieb gelungen, in seinem
kleinen Heimatort ein Festival von überregionaler Bedeutung
auszurichten, das nun alljährlich stattfinden soll.
CS: Wie geht es mit den Tiroler Festspielen weiter?
GK: Wir wurden von Publikum und Presse mit Lob überhäuft.
Das gibt nicht nur uns großen Auftrieb, sondern auch den Politikern.
Denn das Land Tirol hat uns kräftig unterstützt, außerdem
einige Privatsponsoren, und die haben jetzt gesehen: Das kommt phantastisch
an. Also tun die sich nun auch leichter mit dem Finanzieren. Nachdem
wir diesmal das Rheingold hatten, tanzen wir aus der Reihe und setzen
den Ring zunächst mit dem Siegfried fort. 1999 muß man
Siegfried spielen, Wagners gebrochenstes Werk mit dem stilistischen
Wandel zwischen zweitem und drittem Akt: so unüberbrückbar,
und doch gilt es als Einheit das ist ein irres Stück
direkt vor der Jahrtausendwende. Meine Inszenierung wird natürlich
auch auf den historischen Zeitpunkt bezugnehmen. Beim Rheingold
hat die Fußballweltmeisterschaft reingespielt, beim Siegfried
wird es der aktuelle Umbruch sein. 2000 folgt dann die Götterdämmerung,
2001 die Walküre, 2002 ist Passion, 2003 kommt der komplette
Ring. Während des Jahres, wo in Erl die Passionsspiele stattfinden,
gehen die Tiroler Festspiele nach Innsbruck. Im kommenden Jahr setzen
wir nicht nur den Ring fort, sondern auch den Zyklus der Bruckner-Sinfonien,
der bei uns rückwärts läuft: In diesem Jahr wars
die Neunte, nächstes Jahr kommt die Achte. Dann muß ich
mit Mortier sprechen der ist so ein blendender Redner! ,
ob wir es zur Regel werden lassen können, daß er die
Eröffnungsrede hält. Das weiß er noch nicht. Außerdem
fahren wir fort mit Uraufführungen: von Jürgen Doetsch,
dem Leiter des Inntal-Chors, mit einem Streichquartett von Johannes
Maria Staudt, und mit Werner Pirchner.
CS: Werden Sie die Aufträge immer in der näheren Umgebung
vergeben?
GK: Nein, um Gottes Willen. Aber die ist intensiv einbezogen. Solange
ich auf meinem Apfelbaum schönes Obst habe, muß ich es
mir ja nicht aus Spanien schicken lassen. Wenn es hier in der Umgebung
vitales Musizieren und Komponieren gibt, verwende ich das. Künftig
werden sicher auch italienische Komponisten beauftragt ich
kenn die ja alle. Darauf ist es nicht beschränkt. In
Skandinavien zum Beispiel tut sich eine Menge, das ist hochinteressant.
Wir suchen und sind offen. Es muß jemand sein, der eine vitale
Musik schreibt, die vielleicht auch die Bereiche Pop und Klassik
verbindet. Es muß natürlich nicht mit Pop zu tun haben,
und ich weiß, daß Bernstein den Spruch, zwei Songs der
Beatles seien ihm wichtiger als die ganze Zweite Wiener Schule,
nicht so kategorisch gemeint hat Whiskey sei Dank
Aber
man kann auch nicht eine ganze Kulturschiene, an der die Kinder
dranhängen, einfach abtun als "Scheißmusik",
und nur intellektuelle, verklärte, abstrakte Musik goutieren.
CS: Was hat Sie bewogen, das Erler Festival zu gründen?
GK: Ich habe das wie so vieles gemacht, weil mir der normale Musikbetrieb
maßlos auf die Nerven geht. Deshalb mobilisiere ich meine
ganzen Kräfte, um etwas zu machen, was ausweicht aus dieser
Norm, die einfach nur langweilig, schlecht und fantasielos ist.
CS: Was ist schlecht am Musikbetrieb?
GK: Alles. Die Planung ist miserabel wie die Stimmung. Als ich voriges
Jahr bei den Salzburger Festspielen den Titus machte, sagte Jerry
Hadley irgendwann so nach vierzehn Tagen: "This cant
be opera, because its fun." Das war das beste und präziseste,
was man über Opernproduktionen derzeit sagen kann.
Wir dürfen uns nicht beeindrucken
lassen von Frustbolzen und Premierendrücken! Ich versuche,
ein ganz eigenes Feld zu finden, wo mich niemand stört, wo
das Menschliche stimmt, wo die Vorbereitung erschöpfend ist
und wo ich eine Atmosphäre schaffen kann, die das Publikum
sofort spürt. Sehen Sie, die anderen haben eben nicht eine
Vorlaufzeit von einem Jahr, weil sie die Sänger dafür
nicht haben. Wir hingegen haben unsere eigene Akademie, mit den
eigenen Sängern. Und wenn einer es so weit gebracht hat wie
der Albert Dohmen, dann ist er als Ehrenmitglied weiter dabei. Bei
uns investiert jeder in die Idee "Kunst", und investieren
bedeutet in diesem Fall, daß man mal ein Jahr am Stück
dranbleibt, mehrere Jahre im voraus denkt, die Stimmentwicklung
der Sänger genau plant.
CS: Darauf nehmen Sie viel Rücksicht
GK: Nicht nur Rücksicht! Sie müssen eine Stimme gezielt
entwickeln. Der heutige Betrieb ist ja so geisteskrank. Früher
war es selbstverständlich, daß eine Stimme sich nur über
gewisse Partien entwickeln konnte. Das gibts nicht mehr. Und wenn
wir dann einmal was durchbringen und einer groß rauskommt
wie der Dohmen, schüttelt die Fachwelt den Kopf: Wo kommt da
plötzlich raketenartig dieser neue Wozzeck her? Wir wissen
seit sieben Jahren, was für ein guter Sänger das ist.
Nur muß man auch Charakter haben. Der hat vor sieben Jahren
genau die gleichen Angebote gehabt wie heute. Hätte er damals
Wotan gesungen, so hätte er heute keine Angebote mehr, weil
die Stimme ruiniert wäre. Wir müssen die Sänger schützen
vor dem gierigen Zugriff der Agenturen.
CS: Heute stehen Sie an der Spitze der Accademia di Montegridolfo
südlich von San Marino. Wie hat das begonnen?
GK: Vor zehn Jahren, als ich Opernchef in Rom war, mußte ich
feststellen, daß da ganz junge, hochbegabte Leute als staatlich
verordnete Zweitbesetzung in der letzten Reihe des Opernhauses saßen.
Mit denen hatte keiner geprobt, und wenn einer der Stars ausfiel,
ersetzte man ihn durch einen anderen Star. Folglich kamen die nie
zum Einsatz. Das ging mir wahnsinnig auf die Nerven. Also holte
ich erstmals in der italienischen Operngeschichte diese armen Nibelungenzwerge
nach vorne. Ich begann, mit denen zu probieren. Wenn die Leute fragen,
wieso unsere Sänger so an der Akademie, an unserer Idee hängen
hier ist die Lösung: Denken Sie nur an heutige Stars
wie Roberto Scandiuzzi oder Roberto Servile, die wir auf den Weg
gebracht haben. In Rom haben wir bald gesehen, daß unsere
Vorstellungen nicht mit der Kalkulation einer staatlichen Institution
zur Deckung gebracht werden konnten. Wir können eben nicht
in einem Jahr einen Sänger machen. Wir wissen nicht, ob es
zwei oder sieben Jahre dauert. Das hängt von der Rollen- und
Stimmentwicklung ab. Wir lösten uns dann ab und gingen nach
Macerata, wo ich sechs Jahre lang Festspielleiter war. Aber auch
da kamen Probleme: Die Politik, die Geld hineinpumpt, setzt auf
Startheater. Macerata hätte andere Aufgaben als, sich an Weltkarrieren
anzuhängen. Doch wir konnten unsere Idee vor der Verwässerung
retten, indem wir Feretti als Sponsor gewannen, denen das Schloß
zu Montegridolfo gehört, in dem die Akademie seit 1994 sitzt.
Dort haben wir traumhafte Bedingungen.
CS: Sie haben jetzt den Guntram von Richard Strauss aufgenommen.
Was ist das Besondere an dieser frühen Oper?
GK: Zuerst ist die ethische Haltung des Helden hervorzuheben, verbunden
mit einer genialen Meisterschaft der Instrumentation. Der Guntram
ist zwischen Macbeth und Till Eulenspiegel entstanden, da stand
der junge Strauss ja bereits im Zenit seines Schaffens. Eigentlich
war der Guntram für uns jetzt in der Orchesterarbeit interessanter
als das Rheingold. Ich war von der Frische so hingerissen! Auch
von der Naivität: "Du edle Frau", das habe ich natürlich
ironisch inszeniert. Aber in der Ironie steckt ja eine große
Sehnsucht drin es wäre nicht schlecht im Leben, wenn
ich das mal zu einer Frau sagen könnte.
CS: Wie stehen die Orchestermusiker zum Guntram?
GK: Obwohl es verdammt schwer zu spielen ist, machte es einen Riesenspaß,
sowohl in San Carlo zu Neapel als auch mit meinem Akademieorchester
Filarmonia Marchigiana, das noch etwas ehrgeiziger und jünger
ist, und einsatzfreudig bis zum Umfallen. Ich sehe, daß wir
ein bißchen den Dreh raushaben, wie ihn in dieser Art Celibidache
hatte, der ein Orchester so motivieren konnte, daß einfach
jeder Moment mit dem Maximum gespielt wurde. Das ist erstaunlich.
Doch wenn sie sich disziplinieren, sind die Italiener fantastisch.
Das Land ist so reich, und sie haben so viele wunderbare Musiker.
Sie sind nur zu unorganisiert. Gelingt es aber, wie jetzt bei uns,
dann kommt Erstaunliches raus.
Interview: Christoph Schlüren
Gustav Kuhn
1945 bei Salzburg geboren
studiert Komposition und Dirigieren, u. a. bei Bruno Maderna und
Herbert von Karajan
anschließend Studium der Psychologie und Philosophie mit Promotion
1970 Beginn der Dirigierlaufbahn in Istanbul
Chefpositionen an den Opernhäusern in Bern, Bonn, Rom und beim
Macerata Festival
Seit 1986 zusätzlich Opernregie
Seit 1992 Leitung der Accademia di Montegridolfo
1997 Gründung der Tiroler Festspiele Erl
(veröffentlicht in Klassik Heute, 1998) |