Widerstreit der ArchetypenPehr Henrik Nordgrens Vierte Symphonie uraufgeführt |
Seit dem triumphalen Erfolg seiner Dritten Symphonie vergangenen November in
München (mit den Münchner Philharmonikern unter Juha Kangas)
wird Finnlands großer Symphoniker Pehr Henrik Nordgren mit
Ehrungen, Preisen und Offerten überhäuft. Bislang in Helsinki
als fern der Hauptstadt lebender Außenseiter ignoriert, hat
ihn die heimische Kritik nun zum Helden auserkoren. Nordgren, der
einer der Hauptkomponisten des diesjährigen Wien Modern-Festivals
sein wird, erhielt vom Symphonieorchester des Finnischen Rundfunks
den Auftrag zu einem großen Orchesterwerk, das wohl seine
Fünfte Symphonie werden dürfte. Für Ida Haendel schreibt
er im Auftrag des City of Birmingham Symphony Orchestra unter Sakari
Oramo die Konzertfassung der Dritten Violinsonate von George Enescu
Niederschlag inniger Wahlverwandtschaft im eigentümlichen
Widerspiel von Monodie und polyphoner Verästelung, von archaischem
Volkston und verschlungenem Chroma. Nordgren versucht, den Traum
vieler Geiger wahrzumachen: das Violinkonzert des reifen Enescu,
jenes unvergleichlichen Musikers, der für Pablo Casals das
"größte musikalische Universalgenie seit Mozart"
war, für Yehudi Menuhin schichtweg "das absolute Maß",
und der trotzdem vergessen wurde, mangels Lobby. Ausgangspunkt der Symphonie ist das
primitivistische "Es war ein Mann"-Motiv des betrunkenen
Warlaam aus Mussorgskijs Boris Godunow, das dieser im Hintergrund
lallt, während der falsche Dimitrij sich nach dem Weg in die
Freiheit erkundigt Essenzgut einer Szene, in der sich, so
der Schostakowitsch-Exeget Nordgren, "die ganze Tragik des
russischen Volkes spiegelt". Zweifellos ist das Verhältnis
von Einzelnem und Masse, die finale Bündelung individueller
Schicksale im kollektiven Fatum ein Nordgrensches Zentralthema,
das sich bei ihm kompositorisch konkret niederschlägt wie bei
keinem anderen Tonschöpfer. Immer wieder zerfließen die
eben noch so faßlichen Konturen in einer bedrohlichen Vielstimmigkeit,
einer Art "Heteropolyphonie", die die Grenzbereiche des
zusammenhängend Erfaßbaren restlos ausschöpft und,
immer in unmittelbarer Gefahr, vom Chaos verschlungen zu werden,
den Zersetzungstendenzen der eigenmächtigen Einzelstimmen nur
noch mit dem nackten Selbsterhaltungstrieb, mit dem "Schwert
des letzten Willens" begegnen kann insofern ist Nordgrens
Symphonik, von ihrer Grundveranlagung und aufs Extremste, existentiell.
Die ersten zehn Minuten der Vierten Symphonie sind ein einziges,
verzweifeltes Ringen zwischen den im ursprünglichen Wortsinn
religiösen und den obsessiv zerstörerischen Kräften,
scheinbar ausweglos. Da weichen die Zerrbilder ängstlicher
Klage, innigem Choral. Doch umso unerbittlicher setzt sich in mehreren
Anläufen die harsche Gegenwelt durch, bis hin zur finalen "Exekution",
der eine verzweifelt hochtreibende Englischhornklage folgt, die
zugleich als struktureller Unifikator wirkt. Die introvertierte
Schönheit des Endes ist eine entrückte. |