"Sisyphos rolls on his stone "Juha Kangas und die Münchner Philharmoniker |
Ein unbekanntes, zeitgenössisches Programm, ein hierzulande nur in Fachkreisen
diskutierter Dirigent: Unter ungewöhnlichen Vorzeichen standen
drei Konzerte der Münchner Philharmoniker unter Leitung des
Finnen Juha Kangas. Den Rahmen bildeten Schlüsselwerke von
zwei führenden finnischen Komponisten in deutschen Erstaufführungen.
Dazwischen gab es zweimal Günter Bialas: Erstmals in München
den vielleicht innigsten der späten Abgesänge des 1995
verstorbenen Wahlmünchners, die Trauermusik für Bratsche
und Orchester; außerdem die Uraufführung eines Gelegenheitswerks
von 1989, dem schon in den dreißiger Jahren konzipierten Walzer
und Galopp einer harmlos solide gearbeiteten, nostalgischen
Genre-Musikanterie, die sich bei Milhaud, Mahler, Ravels La valse
und zum Schluß Strawinskij einhängt. Die knapp zwanzigminütige
Trauermusik dagegen, von Helmut Nicolai mit tragfähigem Ton
und beharrendem Ernst vorgetragen, überhöht das spröde
Klangbild zu abgeklärter Verklärung, der ein gläsernes
Minimum an Sinnlichkeit genügt. Kangas hob mit gänzlich
unsentimentalem Feuer die dunklen, schroffen Seiten einer Musik
hervor, der latent eine romantische Inbrunst innewohnt, die sie
sich nicht gestattet. Anders zuvor das weitflächige Rimbaud-Tongedicht
Le bateau ivre des 1941 geborenen Erkki Salmenhaara. Zunächst
begeisterter Anhänger von Györgys Ligetis elaborierten
Klangstrukturen, gestattete sich Salmenhaara hier 1965 eine vorbildlos
"konterrevolutionäre" Wendung: Statt Clustern benutzte
er plötzlich reine Dreiklänge unter Fortführung des
feldtechnischen Ansatzes. So unterwarf er tonale Bausteine atonaler
Formung, was freilich unverstanden und folgenlos blieb eine
Stilinsel in der Musikgeschichte. Nun wurde Le bateau ivre, dessen
dunkles Leuchten und befremdendes Misterioso wie eine unheimliche
Begegnung zwischen Tapiola-Sibelius und Ligeti scheinen, historische
Gerechtigkeit zuteil. Trotz gewisser Längen wirkt diese wie
aus eigendynamischen Prinzipien entstehende Klangwelt ungebrochen
suggestiv und ist nicht zuletzt ihrer Ausnahmestellung wegen hörenswert. Selten hat man dieses Orchester so
vehement und glutvoll, aber auch so düster und harsch spielen
gehört. Solcher rückhaltlose Einsatz ist allerdings die
Grundbedingung, um die in Pehr Henrik Nordgrens 3. Symphonie op.
88 umschlossenen, fundamental divergierenden Welten zu evozieren.
Dieses Werk, vor knapp vier Jahren in einer fieberhaften Schaffensphase
von zwei Monaten zu Papier gebracht, übersteigert in dichten
33 Minuten die von Mahler, Schostakowitsch und Pettersson kommende
symphonische Tradition des Leidens und Bekennens in Tönen.
Es ist, als wollten Inferno und Purgatorio zur gleichen Zeit am
gleichen Ort ihr Reich errichten. Im ersten Satz, Lamentations,
kämpft die g-moll-Klage gegen ihre Vernichtung. Zwei der sechs
Sätze sind "verlorene" Klavierinterludien inmitten
der orchestralen Auftürmungen. Der dritte Satz, Choral, ist
wie ein Gebet über den nie endenden Zweifel. Der unerbittlich
lärmenden, besessen ihr Thema niederwalzenden Defiance folgt
attacca ein Epilogue, der vom Schicksalhaften durch die Schrecken
in die Welt der Träume gerät, um in eine Steigerung zu
münden, die nur an einer Grenze haltmachen kann, muß:
an den physischen Grenzen des Orchesters. Nordgrens heteropolyphone
Sprache thematisiert das existentielle Ringen zwischen Ordnung und
Chaos, sein Orchester ist ein immer wieder an die Grenzen des faßbaren
Zusammenhangs auseinanderdrängendes Kollektiv von Individuen,
die ihre eigenen Wirklichkeiten leben, aus deren Ineinanderwirken
eine neue Wirklichkeit entsteht. Daraus mag sich zum Teil die identifikatorische
Dimension von Nordgrens Musik, ihre Kraft, das Publikum zu bündeln,
erklären. Das Verschiedene wird zur Einheit überhöht,
ohne das Verschiedensein preiszugeben. Das Ganze hat so eine religiöse
Dimension, fordert von Ausführenden und Hörern unbedingtes
Loslassen und Mitgehen ein. Aber es gibt keine Erlösung
Nordgren, über den Schluß seiner Symphonie: "Sisyphos
rolls on his stone
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