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William Byrd/arr. John Barbirolli: The Earl of Salisburys
Pavane (aus 'An Elizabethan Suite');
BBC Symphony Orchestra, London, Mai 1967;
Dutton Laboratories CD SJB 1008;
Unser heutiges Prisma stellt ihnen CD-Neuerscheinungen mit dem
Dirigenten Sir John Barbirolli vor, der am 2. Dezember 1999 seinen
hundertsten Geburtstag gefeiert hätte. Es handelt sich dabei
überwiegend um Wiederveröffentlichungen alter Schallplatten-Aufnahmen,
die nun fast alle erstmals auf CD erschienen sind. Einige dieser
Aufnahmen sind sogar zum ersten Mal überhaupt zugänglich.
Zum Einstieg hörten Sie den ersten Satz einer von Barbirolli
arrangierten 'Elisabethanischen Suite', welche historisch-puristisch
eingestellten Hörern ein Graus sein mag. Andere empfanden Barbirollis
derartige Bearbeitungen, wie auch die innige Vortragsweise, die
er seinen Musikern übertrug, als durchaus geschmackvoll und
zeitgemäß. Bei der 'Elisabethanischen Suite' handelt
es sich um Orchesteradaptionen von Klavierstücken aus dem berühmten
'Fitzwilliam Virginal Book'. Das vorgestellte Stück stammt
von William Byrd und trägt den Titel 'The Earl of Salisburys
Pavane'. Die Suite ist bei dem englischen Label Dutton Laboratories
erschienen, gekoppelt mit einer gleichfalls 1967 produzierten Einspielung
von Beethovens 'Eroica'. Später Barbirolli also, hier ausnahmsweise
mit dem BBC Symphony Orchestra und nicht mit "seinen"
Musikern vom Hallé Orchestra Manchester. In der 'Eroica'
übrigens beeindruckt Barbirolli mit herber Verve und Macht,
fast, als gälte es, die unerbittliche Monumentalität Klemperers
mit dem musikantischen Schwung seines Landsmanns Beecham zusammenzuzwingen.
Besonders fesselnd gelingt der sehr breite, fahl ausgeleuchtete
Trauermarsch und das Poco andante des Finales. Störend sind
bei dieser Aufnahme, welche einen gewichtigen Platz unter den traditionellen
Deutungen des Werks beanspruchen kann, leider die grell herausstechenden,
eher unkultivierten Hörner.
Beethoven wird nicht der erste Komponist sein, den der Kenner mit
Barbirolli assoziiert. Eher denkt man an seine unvergeßlichen
Wiedergaben von Sibelius, Mahler und englischer Spätromantik.
Doch auch für Barbirolli gilt: Beethoven war der Komponist,
den er am meisten dirigierte. Und Barbirollis Beitrag ist essentiell,
wenngleich nicht spektakulär. Man kann gerade an seinen Aufführungen
der Klassiker hören, daß der in England und New York
häufig vorgebrachte Vorwurf der Sentimentalität und exzessiven
Strukturvergessenheit höchstens partiell zutrifft. Dies erfährt
man ausgiebig auf einer Doppel-CD von Dutton Laboratories, die ausschließlich
Beethoven-Studioaufnahmen mit dem Hallé Orchestra aus den
Jahren 1947 bis 59 bringt: die Symphonien Nummer 1, 5 und
8, das 5. Klavierkonzert mit Mindru Katz, die Egmont-Ouvertüre
und die 3. Leonoren-Ouvertüre. Damit nicht genug: gleichfalls
bei Dutton erschienen Live-Mitschnitte aus den Jahren 1936 und 1937
mit dem New York Philharmonic Orchestra, das den jungen Briten zum
Nachfolger Toscaninis gekürt hatte. Neben Mozarts 33. Symphonie
KV 319 und dem Scherzo aus Mendelssohns Streicher-Oktett sind dies
von Beethoven die 4. Symphonie und die Coriolan-Ouvertüre.
Hören wir nun letzteres Werk in einer Aufnahme aus der Carnegie
Hall vom 19. Dezember 1937.
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Ludwig van Beethoven: Coriolan-Ouvertüre op. 62;
New York Philharmonic, New York, 19.12.1939;
Dutton Laboratories CD SJB 1011;
Dieser Mitschnitt von Beethovens Coriolan-Ouvertüre ist erstmals
veröffentlicht auf einer CD mit raren Live-Aufnahmen der New
Yorker Philharmoniker unter ihrem damaligen Chefdirigenten John
Barbirolli aus den dreißiger Jahren bei dem englischen Label
Dutton Laboratories, welches schon seit längerem für seine
hervorragenden Remasterings historischer Dokumente bekannt ist.
Dutton, in Deutschland im Vertrieb von Helikon harmonia mundi, hat
in den letzten Jahren in Zusammenarbeit mit der Barbirolli Society
eine umfangreiche Barbirolli-Edition gestartet, die mittlerweile
auf fast 20 CDs angewachsen ist. In dieser Serie finden sich auch
zwei zunächst wenig originell anmutende Sammlungen kürzerer
Orchester-Highlights unter dem Titel 'Hallé Favourites'.
Doch gerade diese scheinbar unbedeutenden Kleinodien entpuppen sich
eins ums andere als echte Juwelen, und wohl nie so pointiert glänzend
hat man Lehárs 'Gold und Silber'-Walzer gehört
da hätten die Wiener allerhand abzugucken! Seien es nun italienische
Opern-Interludien oder nordische Elegien, nichts nimmt Barbirolli
beiläufig, überall spürt man die ganze Liebe zur
Sache und das tiefe Gespür fürs Idiomatische. Eine Rarität
der besonderen Art kommt aus Spanien: die drei 'Danzas fantásticas'
des Sevillaners Joaquin Turina. Kapriziös-wechselvoller Überschwang
prägt den finalen Tanz, der folgerichtig 'Orgía' betitelt
ist eine Orgie, auch der feinen Töne.
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Joaquin Turina: Orgía aus 'Danzas fantásticas';
Hallé Orchestra, Manchester, 19.12.1951;
Dutton Laboratories CD SJB 1013 "Hallé Favourites Volume
2";
Wo auch der große Magier Leopold Stokowski Joaquin Turinas
'Danzas fantásticas' nicht eingespielt hat, kann man getrost
feststellen, daß John Barbirolli hiervon 1951 mit dem Hallé
Orchestra die feinste, packendste Aufnahme geglückt ist. Wer
orchestrale Effekte mag und nicht prinzipiell gegen Potpourris eingestellt
ist, wird mit den beiden "Hallé Favourites"-CDs
bestens bedient sein. Nicht unbedingt überraschend, aber für
viele neu dürfte die Feststellung sein, daß Barbirolli
einer der fesselndsten Maestri des Wiener Walzers war. Was für
eine Glut und Wendigkeit, wie kapriziös prickelnd und natürlich
gesanglich zugleich die Walzer und Polkas der Sträuße
und Lehárs unter seiner Stabführung lebendig werden!
Nichts von gemütlicher Routine. Unwiderstehlicher Beleg seiner
feurig mitreißenden Art ist die ebenfalls von Dutton erhältliche
Kollektion 'Viennese Night' mit dem Hallé Orchestra, die
nach Zigeunerbaron-Ouverture, Gschichten aus dem Wienerwald,
An der schönen blauen Donau, Kaiserwalzer und vielem anderen
mit einer köstlich komischen Strauß-Fantasie Landauers
für Klavierduo und Orchester schließt, mit den legendären
Rawicz und Landauer am Flügel. Einen eindeutigen Geschmack
von Barbirollis Wiener Nächten in Manchester gibt auch die
Fledermaus-Ouvertüre, aufgenommen 1956.
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Johann Strauß d. J.: Fledermaus-Ouvertüre;
Hallé Orchestra, Manchester, Juni 1956;
Dutton Laboratories CD SJB 1010 "Viennese Night";
Barbirolli bewegte sich bei Johann Strauß wie ein Fisch im
Wasser, wobei ihm seine frühe Opernerfahrung zugute gekommen
sein mag. Ohne diese selbstverständliche Beherrschung des Wiener
Idioms ist der legendäre Mahler-Dirigent nicht denkbar, dem
einige der großartigsten dokumentierten Aufführungen
Mahlerscher Symphonien zu verdanken sind, darunter vor allem die
Studioaufnahmen der 6. und 9. bei EMI und Konzertmitschnitte der
Symphonien Nr. 1-4. Die erste Symphonie ist soeben bei Dutton auch
in der Studioversion von 1957 wiedererschienen. Und die englische
BBC hat in ihrer sensationellen BBC-Legends-Reihe unlängst
Konzerte mit der 3. und 4. Symphonie erstmals aufgelegt. Die späte
Hallé-Aufnahme der Dritten von 1969 stieß allgemein
auf enthusiastische Resonanz. Doch auch die Aufführung der
Vierten in Prag anläßlich einer Osteuropa-Tournee des
BBC Symphony Orchestra im Januar 1967 ist großartig in der
Weite der Vision und tiefen Auslotung des lyrischen Gehalts. Da
spielen einige kleinere Patzer, vor allem des ersten Horns, kaum
eine Rolle. Lediglich Heather Harpers Gesang im Finale ist allzu
sehr von dieser Welt
Der andere Komponist, für den die
Verankerung im Wiener Ton unentbehrlich ist, wurde in diesem Jahr
landauf, landab breitgespielt: der Jubilar Richard Strauss. Wer
einmal das 'Heldenleben' mit Barbirolli gehört hat, weiß,
welch eminenter Strauss-Dirigent er war. Bei Dutton gibts
auch Strauss mit ihm, auf der eher irreführend betitelten CD
"Barbirolli at the Opera": neben Weber-Ouvertüren,
Vorspielen aus Lohengrin und der Traviata sowie der Figaro-Ouvertüre
eine Rosenkavalier-Suite von 1946, aus der Hallé-Frühzeit,
die orchestral diskutabel und aufnahmetechnisch nicht allzu befriedigend
ist. Umso suggestiver erklingen die selten zu hörenden, von
Clemens Krauss zusammengestellten Symphonischen Fragmente aus 'Die
Liebe der Danae', deren irisierendes Farben- und Linienspiel Barbirollis
Temperament sehr entgegenkam und 1955 mit dem Hallé Orchestra
für His Masters Voice aufgezeichnet wurde.
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Richard Strauss: Symphonische Fragmente aus 'Die Liebe der Danae',
arrangiert von Clemens Krauss;
Hallé Orchestra, Manchester, 12.1.1955;
Dutton Laboratories CD SJB 1004 "Barbirolli at the Opera";
John Barbirolli wurde am 2. Dezember 1899 in London als Sohn eines
Italieners und einer Französin in eine Musikerfamilie hineingeboren.
Als Cellist machte er sich früh einen Namen und wurde 1916
das jüngste Mitglied des Queens Hall Orchestra. Er trat
außerdem solistisch auf und spielte viel Kammermusik, darunter
in Anwesenheit des Komponisten die Uraufführung von Gabriel
Faurés zweitem Klavierquartett. 1924 gründete er ein
eigenes Streichorchester. Schnell wurde seine dirigentische Begabung
evident. Die British National Opera Company engagierte ihn. 1928
nahm er mit seinem Orchester Haydns 104. Symphonie und von Mozart
die Kleine Nachtmusik auf. Ab 1928 dirigierte er in Covent Garden,
und 1931 wurde er erster Dirigent des Scottish Orchestra. Auf dieser
Position erwarb er sich einen hervorragenden Ruf, und dank der Empfehlungen
berühmter Solisten wie Kreisler und Heifetz erhielt er 1936
eine Einladung der New Yorker Philharmoniker, damals "Philharmonic-Symphony
Orchestra of New York". Die Begeisterung bei Orchester und
Publikum war so überwältigend, daß er unmittelbar
darauf als Nachfolger Arturo Toscaninis zum Chefdirigenten berufen
wurde. So erfolgreich Barbirolli in New York startete, so sehr wurde
er im Lauf der Jahre von den Kampagnen der nach wie vor auf Toscanini
eingeschworenen Presse zermürbt und trat schließlich
zurück. Barbirollis New Yorker Jahre als Scheitern hinzustellen,
wäre freilich gründlich verfehlt, und als er Ende der
fünfziger Jahre zu seinem einstigen Orchester als Gastdirigent
zurückkehrte, erfuhr der gereifte und gesundheitlich gebrochene
Musiker eine andere, tiefere Art von Wertschätzung. In der
New Yorker Zeit war Barbirolli bekannt für seine geradezu exzessiven
Deutungen des spätromantischen Repertoires. Eindrückliches
Beispiel dafür ist eine Aufnahme der 2. Symphonie des von ihm
so sehr geliebten Jean Sibelius, welche am 24. Juni 1940 entstand
und jetzt bei Dutton wiederveröffentlicht ist. Um wieviel wilder
und extrovertierter als seine späteren, maßstabsetzenden
Sibelius-Aufnahmen mit dem Hallé Orchestra das ist, in der
überbordenden Leidenschaft auf dem schmalen Grat des kaum noch
zu Kontrollierenden dahinstürmend! Wir hören den ersten
Satz, eigentlich ein Allegretto.
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Jean Sibelius: 1. Satz Allegretto aus der 2. Symphonie D-Dur op.
43;
New York Philharmonic, New York, 24.6.1940;
Dutton Laboratories CDEA 5016;
Gegen Ende seiner New Yorker Jahre, mitten im Zweiten Weltkrieg,
war Barbirolli ein unglücklicher Mann geworden, der keine wirklich
fruchtbare Zukunft an diesem Ort für sich absehen konnte. Da
kam 1943 ein Angebot aus Manchester, das seit Anfang der dreißiger
Jahre verwaiste Hallé Orchestra wiederaufzubauen. Barbirolli
zögerte nicht lange, nahm den Posten an und schuf einen der
besten englischen Klangkörper, dem er bis zu seinem Tod am
29. Juli 1970 als Chefdirigent verbunden blieb trotz zwischenzeitlicher
Leitung des Houston Symphony Orchestra und hohen Aufgaben als begehrter
Gastdirigent, so seit Anfang der sechziger Jahre regelmäßig
bei den Berliner Philharmonikern. Barbirolli ist das "Wunder
von Manchester" zu verdanken, an dem später gerne Simon
Rattles "Wunder von Birmingham" gemessen wurde. Bereits
1950 schrieb der große Kollege Stokowski nach einem Konzertbesuch
einen Brief an Barbirolli, in dem es unter anderem heißt:
"Ich war überwältigt von der Kraft der Ausführung
und hingerissen von den Feinheiten. Sie und ihre Musiker haben eines
der wenigen wirklich großartigen Orchester in der Welt aufgebaut.
Es war ein wahres Vergnügen, wie sie differenzierten zwischen
den Stilen von Rossini, Delius, Vaughan Williams und Mozart
Bitte tun Sie mir den Gefallen und übermitteln Sie jedermann
im Orchester meinen Dank für das herrliche Spiel. Manchester
kann sich glücklich schätzen, einen solchen Dirigenten
und ein solches Orchester zu besitzen."
Soweit Leopold Stokowski an John Barbirolli. Mit dem Hallé
Orchestra konnte Barbirolli, der so gar nicht englischstämmige
englische Patriot, sich auch endlich hemmungslos einsetzen für
die Musik seiner englischen Landsleute. Edward Elgars Musik ging
ihm wohl am meisten zu Herzen, was man in seinen Aufnahmen, den
besten im ganzen Katalog, durchweg merken kann. Bei BBC Legends
ist eine Kopplung englischer Musik aus vier Konzerten zwischen 1967
und 1970 erschienen, die neben William Waltons 'Partita' und Brittens
'Sinfonia da Requiem' und 'Purcell-Variations' die einzige erhaltene
Aufnahme Barbirollis von Edward Elgars Konzertouvertüre 'Alassio
(In the South)' enthält entstanden kurz vor seinem Tod.
Man kommt angesichts von Barbirollis völliger Identifikation
mit dieser Musik nicht umhin, ihr eine Größe zuzuerkennen,
die sie anderswo kaum haben dürfte. Es folgt ein Ausschnitt
aus 'Alassio'.
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Edward Elgar: Concert Overture 'Alassio (In the South)' op. 50 (Anfang);
Hallé Orchestra, London, 20.5.1970;
BBC Legends BBCL 4013-2 (Vertrieb: Musik-Welt);
Neben Elgar waren sein älterer Freund Ralph Vaughan Williams,
der ihm seine 8. Symphonie widmete, sowie Frederick Delius, Arnold
Bax und John Ireland Barbirollis Favoriten unter den Komponisten
seiner englischen Heimat. Er hat mit dem Hallé Orchestra
die Werke vieler weiterer Komponisten uraufgeführt, hat, wie
schon zuvor in New York, ein bis in entfernteste Winkel gespanntes
Repertoire durchmessen, jedoch nur selten ein neues Werk später
wiederaufgeführt. Er empfand einen deutlichen Mangel an wirklich
großer zeitgenössischer Musik. Hohe Wertschätzung
brachte er auch dem 1901 geborenen Edmund Rubbra entgegen, einem
von Brahms, Sibelius, altenglischer Polyphonie und orientalischer
Melismatik angeregten Symphoniker. Im Dezember 1950 nahm Barbirolli
mit dem Hallé Orchestra Rubbras 1947-48 entstandene Fünfte
Symphonie auf, die unlängst von der EMI in der Serie British
Composers wiederaufgelegt wurde zusammen mit kleinen Stücken
von Rubbra und Michael Heming sowie der späten Erstveröffentlichung
der ersten Aufnahme des Violinkonzerts von Benjamin Britten
damals noch in der ersten Fassung , gespielt von Theo Olof.
Bei Rubbras 5. Symphonie neigt Barbirolli im ersten Satz zu überzogenen
Tempokontrasten. Insgesamt aber ist seine Gestaltung ausgesprochen
plastisch und charakteristisch, so im nun folgenden Finale, einem
Allegro vivo, welches zum Schluß im Adagio-Tempo zyklisch
zum ersten Satz zurückführt.
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Edmund Rubbra: 4. Satz Allegro vivo Adagio aus der 5. Symphonie
B-Dur op. 63;
Hallé Orchestra, London, Dezember 1950;
EMI 566053-2;
Wie viele seiner Dirigentenkollegen liebte es Barbirolli, Renaissance-
und Barockmusik für das moderne Orchester zu arrangieren. Einige
dieser Arrangements erlangten große Beliebtheit, so die "Purcell-Suite",
deren sechs Sätze aus Schauspielmusiken, Masques und der Oper
'Dido und Aeneas' von Englands größtem Barockmeister
Henry Purcell stammen. Barbirolli ging mit dieser Suite insgesamt
dreimal ins Studio. Aus der raren frühesten Einspielung mit
dem New York Philharmonic vom 7. Februar 1938 hören wir die
Chaconne 'Didos Lament', von Barbirolli für Englischhorn
und Streicher gesetzt. Die Kürzungen sind durch den Wegfall
des sinngebenden Texts durchaus sinnvoll und mit viel Gespür
vorgenommen. Die Aufnahme findet sich auf einer Zusammenstellung
von Dutton Laboratories, die außerdem von Ottorino Respighi
die prachtvoll gestalteten 'Fontane di Roma', Deutsche Tänze
von Schubert und bisher Unveröffentlichtes von Paul Creston
und Gian-Carlo Menotti umfaßt. Nun also Barbirollis Version
von Purcells Klage der Dido.
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Henry Purcell: 'Didos Lament' aus 'Purcell-Suite', arrangiert
von John Barbirolli;
Engelbert Brenner (Englischhorn), New York Philharmonic, New York,
7.2.1938;
Dutton Laboratories CDEA 5019;
Eine komplette CD mit Barockmusik zeigt Barbirolli als Begleiter
seiner Frau Evelyn Rothwell mit Oboenkonzerten von Marcello, Händel,
Albinoni, Cimarosa-Benjamin sowie Corelli-Sonatensätzen in
einer Oboenkonzert-Fassung von Barbirolli sicher nichts für
die Anhänger der "historischen Aufführungspraxis",
aber mit der wendig verzierenden Solistin eines der gelungensten
Beispiele für das, was bis dahin als "Zauber des Barock"
gelten durfte. Exemplarisch dafür ist das Adagio aus Benedetto
Marcellos c-moll-Konzert in der Version von Johann Sebastian Bach,
hier in einem Arrangement der Solistin Evelyn Rothwell.
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Benedetto Marcello: Adagio aus dem Oboenkonzert c-moll, arrang.
Rothwell/Mackerras;
Evelyn Rothwell (Oboe), Hallé Orchestra, Cricklewood, 6.6.1959;
Dutton Laboratories CD SJB 1009;
Auch die weiteren bei Dutton Laboratories erschienenen CDs mit Sir
John Barbirolli sind für Interessenten allesamt lohnend, so
erstmals das legendäre Wagner-Konzert der New Yorker Philharmoniker
vom 20. November 1938 in der Carnegie Hall mit einem furiosen Tannhäuser-Bacchanal,
dem Tristan-Vorspiel mit Liebestod, Barbirollis kurzer Suite aus
dem 3. Akt der Meistersinger, dem Siegfried-Idyll und der Rienzi-Ouvertüre.
Gerade letzteres Werk, das in seiner plakativen Äußerlichkeit
zu Wagners schwächeren gehört, erfährt unter Barbirolli
eine ungeheuer packende, dem aggressiv Banalen nie verlegen ausweichende,
brillante Deutung. Ganz in seinem Revier war Barbirolli bei Edvard
Grieg, wo neben der Lyrischen Suite und dem Huldigungsmarsch aus
Sigurd Josalfar die Symphonischen Tänze und die von Hans Sitt
orchestrierten Norwegischen Tänze mit einer Subtilität
und vitalen Kraft erstehen, die dem Meister der kleinen Form vollauf
gerecht werden. Außerdem sei verwiesen auf die unbändige
erste Hallé-Aufnahme von Berlioz 'Symphonie fantastique',
zusammengespannt mit Faurés 'Shylock-Nocturne' und Wagner,
sowie auf zwei vorübergehend nicht erhältliche Titel mit
französischer Musik aus Manchester bzw. mit der Vierten Schumann
und der Fünften Tschaikowskij aus New York. Als großen
Dirigenten der Wiener Klassik, hierin vergleichbar Monteux, Schuricht
oder Szell, präsentiert eine andere Dutton-CD Barbirolli und
sein Hallé Orchestra mit drei Haydn-Symphonien: mit den Nummern
83, 88 und 96. Die 88. Symphonie in G-Dur wurde 1953 für His
Masters Voice aufgenommen, blieb aber bis jetzt unveröffentlicht
im Archiv der EMI liegen. Umso mehr ein Anlaß für uns,
daraus das Finale zu hören Allegro con spirito: wirklich
geistvoll, spritzig, mit trockenem "Grip", ohne je spröde
zu sein.
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Joseph Haydn: 4. Satz Allegro con spirito aus der 88. Symphonie
G-Dur;
Hallé Orchestra, Manchester, 31.8.1953;
Dutton Laboratories CD SJB 1003;
Zu den Höhepunkten in der Barbirolli-Edition bei Dutton zählt
eine Zusammenstellung von New Yorker Aufnahmen der Jahre 1938 und
39 in wie so oft in dieser Reihe für jene
Zeit erstaunlich plastischer und klarer Klangqualität. Nach
einer fulminanten 'Francesca da Rimini'-Tondichtung Tschaikowskijs
und einer sehr erfrischenden Auslegung von Debussys 'Ibéria'
hört man da eine Vierte Symphonie Franz Schuberts, wie man
sie mit solchem kantabel austarierten Schwung wohl nie gehört
hat. Das wird ganz besonders im Allegro-Finale deutlich, das sonst
immer zu lang wirkt und schwerfällig daherkommt. Nicht so unter
Barbirolli mit den New Yorkern zu einer Zeit, die eigentlich nicht
als seine glänzendste gilt, aber glänzend genug dokumentiert
ist, um das interpretatorische Umfeld ziemlich blaß aussehen
zu lassen.
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Franz Schubert: 4. Satz Allegro aus der 4. Symphonie c-moll DV 417;
New York Philharmonic, New York, 21.1.1939;
Dutton Laboratories CDEA 5000;
Hört man eine solche inspirierte Schubert-Aufführung,
so kann man nur bedauern, daß mit John Barbirolli nicht mehr
Einspielungen des Standard-Repertoires vorliegen. Seine Plattenfirma,
die EMI, behandelte ihn zeitlebens etwas stiefmütterlich und
zog ihm vermeintlich zugkräftigere Kollegen vor. Das rächt
sich nun zunehmend im Zuge der Sichtung und Verbreitung der Barbirolli-Diskographie.
Er war einer der ganz großen Maestri des zwanzigsten Jahrhunderts,
mit einer wirklich eigenen, tief ausgeprägten künstlerischen
Physiognomie, wie man sie bei heutigen Musikern selten antrifft.
Es ist eine Schande, daß sein wegweisender Zyklus der Sibelius-Symphonien
von der EMI bis heute nicht auf CD herausgegeben wurde die
Symphonien Nummer Vier und Sechs hat vielleicht keiner sonst so
überzeugend zu gestalten vermocht. Doch irgendwie blieb Barbirolli,
sieht man von seinem ihn verehrenden Konzertpublikum ab, ein wenig
verkannt. Das mag auch mit seinem zunehmenden körperlichen
Verfall zu tun gehabt haben. Gegen Ende seines Lebens verließ
er bei größeren Werken zwischen den Sätzen das Podium,
um sich mit Whisky aufzuputschen. Das konnte kaum Idolfunktion haben.
Doch seine Aufführungen hatten es in sich, bis zum Schluß.
Fast möchte man meinen: je später desto besser. Welch
eine knirschende Spannung herrschte in der keineswegs ausgewogenen
Aufführung der Achten Symphonie Anton Bruckners mit dem Hallé
Orchestra zwei Monate vor seinem Ableben! Man kann sich einbilden,
eine Todesnähe zu spüren, die mit Weinerlichkeit nicht
das Geringste zu tun hat. So paßt es sicherlich, unseren Rundblick
abzuschließen mit dem Finalschluß aus Bruckners 8. Symphonie,
mit der Wiedererstehung des "Todesthemas" aus dem Kopfsatz.
Das durchaus erschütternde Dokument ist von Carlton Classics
in der BBC-Radio-Classics-Serie erhältlich.
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Anton Bruckner: Schluß des 4. Satzes der 8. Symphonie c-moll
(2. Fassung, Hrsg. Robert Haas);
Hallé Orchestra, London, 20.5.1970;
BBC Radio Classics 15656 91922 (Vertrieb: Musik-Welt)
Sendemanuskript für BR 4
(Redaktion: Dr. Norbert Christen);
Produktion: 17.9.1999 (Karlheinz Steinkeller);
Erstsendung: 18.9.99, 18.oo19.45, "Prisma
Christoph Schlüren, im September 1999
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