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Barbirolli 100

Die Dutton-Jubiläumsedition für den großen Dirigenten

Manchmal kommen ein günstige Umstände zusammen und – wenn die Welt ausnahmsweise gerecht ist – es kommt ein großer Mensch zu verdienten Ehren, womöglich postum. So ist es bei Sir John Barbirolli, dem gemeinsam mit Thomas Beecham bedeutendsten englischen Dirigenten dieses Jahrhunderts. Am 2. Dezember 1899 geboren, hätte Barbirolli diesen Monat seinen hundertsten Geburtstag gefeiert, und nicht zuletzt im Hinblick auf dies runde Jubiläum begann vor zwei Jahren das britische Label Dutton Laboratories zusammen mit der Barbirolli Society, eine inzwischen auf mehr als 20 CDs angewachsene Barbirolli-Edition herauszugeben. Wenn Duttons Konkurrent Biddulph – wie unlängst in Klassik Heute zu lesen war – der Rolls Royce der Historik-Labels ist, so muß Dutton mindestens als der Bentley der Szene gelten. Auf dem Kontinent war weniger die exzellente Restaurationsarbeit Michael Duttons Grund für eine breite Wiederentdeckung Barbirollis, vielmehr fanden hier einige Veröffentlichungen der hochkarätigen Serie "BBC Legends" enthusiastischen Anklang, besonders der späte Konzertmitschnitt von Gustav Mahlers Dritter Symphonie, der auch den renommierten Mahler-Preis "Toblacher Komponierhäusl" gewann. Man kannte ja bereits die überwältigende EMI-Aufnahme Barbirollis von Mahler Neunter mit den Berliner Philharmonikern, außerdem eine grandiose Sechste sowie die Erste und Fünfte Symphonie. Doch hier verstummten die letzten Zweifler und erkannten in Barbirollis einen der größten Mahler-Exegeten des Jahrhunderts.
Darüber gerät leicht in Vergessenheit, daß der Sohn eines italienischen Geigers und einer Französin, exquisite Cellist und langjährige Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker (1936-43) auch in anderem Repertoire Unübertroffenes geleistet hat. So muß sein Zyklus der sieben Symphonien von Jean Sibelius als beste Gesamteinspielung dieser in ihrer Bedeutung und Tragweite hierzulande noch immer verkannten Gipfelwerke nordischer Tonkunst gelten – der Geburtstag wirkt Wunder: EMI hat für nächstes Jahr die CD-Erstveröffentlichung angekündigt. Die so spannungsreich charakteristischen Brahms-Symphonien mit den Wiener Philharmonikern hingegen bleiben weiterhin auf Eis liegen. Die meisten Aufnahmen hat Barbirolli mit dem Hallé Orchestra Manchester gemacht, welches er 1943 mitten im Krieg in desolatem Zustand übernahm, mit unverwechselbar expressiver Musizierkultur zu Weltgeltung führte und bis zu seinem Tod am 29. Juli 1970 leitete. Am meisten liebte er, der nicht-englischstämmige Patriot, die Musik Edward Elgars, und seine Elgar-Aufnahmen sind in der hymnisch-resignativen Größe und innigen Zartheit unerreicht – man höre nur die beiden Symphonien, die Enigma-Variationen oder die späte Falstaff-Tondichtung! Nicht weniger zuhause war Barbirolli in den symphonischen Werken von Ralph Vaughan Williams, Arnold Bax oder Frederick Delius (alles EMI). Das bisherige CD-Spektrum hat bei weitem nicht das verfügbare Barbirolli-Repertoire abgedeckt, und so konnte Dutton in seiner Barbirolli-Edition eine unerschöpfliche Schatzgräberei entfalten.

Insbesondere die Tondokumente aus New York werfen Schlaglichter auf die exaltierte Frühzeit, die "wilde Phase" dieses bescheidenen Grandseigneurs. So kann man eine vor jagendem Ausdruck überbordende Zweite Sibelius-Symphonie hören, eine herrlich leichte, schwungvoll balancierte Vierte Schubert ("Tragische"), eine leidenschaftlich packende Fünfte Tschaikowskij, klar umrissene Mozart- und Beethoven-Symphonien, glühende Wagner-Evokationen, Respighis "Fontane di Roma" usw. Auch Raritäten sind dabei, manche in absoluter Erstveröffentlichung (Creston, Menotti). Mit dem Hallé Orchestra gibt es kultige Potpourris vom Feinsten, so zwei Volumes "Hallé Favourites" (u. a. Joaquin Turinas "Danzas fantásticas"), eine hinreißende Wiener-Walzer-Kollektion (herausragend Lehárs "Gold und Silber"), ein in allen Einzelheiten wundervoll charakteristisch erfaßtes Edvard-Grieg-Album, eine fieberrasende Symphonie fantastique und anderes von Berlioz, und natürlich Mahlers Erste Symphonie von 1957. Rechtzeitig zu Weihnachten sind zwei CDs zu bekommen, wo Barbirollis seine Frau, die legendäre Evelyn Rothwell, in barocken Oboenkonzerten begleitet. Sehr zu empfehlen sind auch Haydn-Symphonien mit dem Hallé Orchestra (Nr. 83, 88 und 95, wobei Nr. 88 von 1953 erstmals veröffentlicht ist!), aber auch die Beethoven-Symphonien (Eroica, Nr. 1, 5 und 8) sind nicht zu verachten. Und für alle, die sowieso schon wissen, wie fesselnd dieser Mann zu dirigieren verstand, gibts in limitierter Auflage das Jubiläums-Doppelalbum "Glorious John", welches als klingendes Porträt rare Aufnahmen von 1911 bis 1969 Revue passieren läßt. Mein Wunsch: Hoffentlich kommt bald das Schumann-Violinkonzert mit Yehudi Menuhin.

Christoph Schlüren (1999)

(Das Label Dutton Laboratories wird vertrieben
über Helikon Harmonia Mundi.)

(Beitrag für Music Manual)