Peteris Vasks, geboren am 16. April
1946 in Aizpute, ist heute der weltweit bekannteste lettische Komponist.
Wie die Esten Arvo Pärt, Lepo Sumera, Veljo Tormis und Erkki-Sven
Tüür gehört er zu den führenden baltischen Tonsetzern
und teilt mit ihnen die Neigung zu wehmütigem Schönklang,
verzückter Naturvision und innigem Gebet. Andererseits aber
sind Vasks' Werke von delirierenden Abschnitten, von Katastrophen
durchsetzt, die an das harte Schicksal, an die Leiden seines lettischen
Volkes auf dem Weg zur Freiheit erinnern sollen. Und immer wieder
sind es die Stimmen der Vögel, die für Vasks Vitalität
symbolisieren und in seiner Musik in Korrespondenz mit der menschlichen
Stimme, die ganz profund der "Stimme des Gewissens" gehorchen
will, treten. Vasks möchte Bekenntnis- und Naturmusiker zugleich
sein, und er möchte zuallererst den Hörer berühren,
ja, seine Musik scheint auffordern zu wollen: "Werde ein besserer
Mensch!" Peteris Vasks, Sohn eines baptistischen Priesters
in einem bis vor kurzem brutal unterdrückten Land, ist ein
Prediger in Tönen. Nun spielt im Rahmen der Musica Viva das
berühmte litauische Vilnius-Quartett neben Kompositionen der
Russin Gubaidulina, des Litauers Barkauskas und des großen
finnischen Einzelgängers Nordgren das zweite Streichquartett
"Sommergesänge" von Vasks.
CS: Glauben Sie, daß man in der Musik Ideale ausdrücken
kann, einen Glauben bekennen kann, daß das auf rein musikalischem
Wege vermittelt werden kann?
PV: Ja. Ich bin wahrscheinlich ganz naiv, aber ich glaube, ja. Ich
denke, daß die Künstler, die wirklich "mit Blut"
komponieren oder Romane schreiben, eine positive geistige Energie
aufbringen. Und die ganze positive geistige Energie zusammen ist
eine positive Kraft. Und dem steht entgegen diese Aggressivität,
diese Panzer und Raketen, diese Kalaschnikow-Automaten-Leute und
-Ideen - das ist eine andere Kraft. Wir müssen mit dieser geistigen
Energie ein Gleichgewicht schaffen, die aggressive Seite in Schach
halten. Diese geistige Energie existiert, ist ein Plus, und ich
bin ein "Soldat" aus dieser "positiven Armee".
Ich denke, daß das meine Funktion ist: dieses Gleichgewicht
zu erhalten.
Aber wenn Sie ein konkretes Programm haben - "Stimmen des Lebens",
"Stimme des Gewissens" zum Beispiel - muß der Hörer
das wissen?
Nein. Das ist mit meiner Musik nur so, daß ich dem Publikum
ein bißchen helfen möchte. Und wenn ich solche Titel
zuhilfenehme, ist das für viele gut zum Zweck der Orientierung.
Sonst ist Musik doch Musik und nichts weiter, und natürlich
kann man sie hören ohne diese Titel, ohne daß sie etwas
verliert. Für mich ist das Programmatische wichtig, aber sicher
für viele Zuhörer nicht.
CS: Hat so ein Titel wie "Sommergesänge" mit dem
zu tun, was Sie anregte? Mit Ihrer Motivation? Inwieweit haben Sie
beim Komponieren das Programm im Sinn? Denken Sie daran?
PV: Ja und nein. Wahrscheinlich ja, ich habe es im Sinn. Ich habe
gewählt zwischen verschiedenen Titelvarianten, um die passendste
zu bekommen.
CS: Sie hatten also die Wahl. Aber bei der Musik - hatten Sie da
auch die Wahl?
PV: Auch da waren viele, viele Skizzen und Papiere, und dann bleibt
nur das Letzte. Für mich ist wichtig, daß es immer so
gut wie irgend möglich wird. Da habe ich keine Wahl. Ich mache
keine Kompromisse, kenne keine Zeit - jedesmal: Jede meiner Kompositionen
ist eine Erste und Letzte, mit Maximum - mit Maximum an Konzentration
und Expressivität. Alle Noten, die nicht nötig sind für
meine Musik, fallen weg, und nur das wichtigste bleibt, diese hundert
Prozent. Sie mögen meine Musik schlecht oder gut finden, das
ist eine andere Sache. Aber ich muß sagen können: "Besser
habe ich es nicht gekonnt. Ich habe alles gegeben." Ich bin
dankbar, daß ich solchen Charakter habe. Es ist nämlich
traurig, daß viele Komponisten keine solche Personal-Zensur
haben. Oft wären ein, zwei gute Stücke viel besser für
den Komponisten - und den Rest der Welt - als zehn Stücke!
Das ist auch eine Charakterfrage, und mancher schreibt eben zuviel
und das ist sein Unglück.
CS: Welche Komponisten heute haben diesen Charakter?
PV: Pehr Henrik Nordgren und Anders Eliasson zum Beispiel, und Arvo
Pärt, wahrscheinlich Giya Kancheli; Górecki ursprünglich
- wie großartig doch der erste Satz seiner dritten Symphonie
ist! - aber in den letzten Jahren weiß ich nicht. Aber Lutoslawski
ist mein höchstes Beispiel in der Musik: so professionell und
mit solcher Expressivität, so existentiell. Was für eine
vierte Symphonie von einem achtzigjährigen Komponisten! Unglaublich.
CS: Lettland ist noch nicht lange den
Klauen der Sowjetmacht entronnen. Wie hat die Lockerung der Zensur
unter Gorbatschow die Freiheitsideale wieder nach oben gespült?
PV: Nun, indem das nicht mehr so starr war, zeigte sich, daß
nicht alles verloren war, daß die Ideale noch lebendig waren.
Mit der Lockerung kam es wie ein Sog: Alle bemerkten, wie falsch
dieses System war. Was bedeutete "Sowjetunion", "sowjetisches
Volk", dieser "gemeinsame" Staat? Warum nur die russische
Sprache? Überraschend schnell war diese ganze amoralische Seite
kaputt. Das Fundament des "Hauses" waren nur Lügen
und Gier.
CS: Hängt das mit Atheismus zusammen?
PV: Ja. Aber in der postkommunistischen Realität war das dann
auch sehr eine Modesache, daß plötzlich alle Leute in
die Kirchen gehen wollten. Davor war die Kirche nur in der Weihnachtszeit
voll, und um Ostern. Und plötzlich komponierten die, die vorher
Kantaten und Hymnen für die kommunistische Partei geschrieben
hatten, sehr aktiv geistliche Musik... Katholisch, lutheranisch,
lateinisch, lettisch usw. So wurden Funktionäre aus kommunistischen
Zeiten konjunkturbedingt Musikfunktionäre des freien Lettland.
Für mich ist alles viel einfacher. Ich war immer frei. Ich
sagte auch vorher, was ich meinte, und damals war das sehr schlecht
für mich - ich hatte nie die Möglichkeit, ins Ausland
zu reisen. Aber ich war frei und konnte es bleiben. Es ist eine
schöne Zeit jetzt, kompliziert wie immer. Aber es ist zu wenig
Idealismus da. Zuerst war das überall, in den Zeitungen, Zeitschriften
usw. Aber die Ideale werden verdrängt von Realitäten,
Geld, tagaus tagein. Die Journalisten in Lettland suchen wie überall
Skandale. Aber wo sind die Sterne? Das ist zu wenig. Das möchte
ich doch hochhalten im Ausdruck meiner Musik. Und ich mache keine
Konjunkturstücke, die nur für diese Zeit sind. Das Gewissen
bleibt ja.
Interview: Christoph Schlüren (1994/95)
CD-Tips (Stand 1995): Das im Konzert zu hörende zweite Streichquartett
hat das Duke Quartet zusammen mit Werken von Tüür und
Pärt unter dem Titel "Baltic Elegy" eingespielt (Collins/in-akustik
CD 14752) - die Aufführung ist sehr fein und klar, ausgezeichnet
aufgenommen. Die mit Abstand besten Aufnahmen von zwei Vasks-Streicherwerken
finden sich auf zwei hervorragenden Kompilationen baltischer Streichermusik
mit dem Ostbottnischen Kammerorchester aus Finnland, über dessen
Leiter Juha Kangas der Komponist denn auch sagt: "Keiner ist
tiefer in meine Musik eingedrungen und versteht es, ihren Ausdruck
so unmittelbar hervorzubringen wie Kangas." Dieses Ensemble
war unlängst auf einer umjubelten ersten Deutschland-Tournée
zu hören und soll im Juli beim Tegernsee-Festival in Kreuth
mit Natalia Gutman gastieren. Von Vasks hat Kangas bisher die Streichersymphonie
"Stimmen" (Finlandia/east-west CD 4509-97892-2) und das
innige "Cantabile" (Finlandia CD 4509-97893-2) aufgenommen,
gekoppelt mit Hochinteressantem aus Litauen und Estland. Die erste
Vasks-CD war 1993 nach dem Vertragsabschluß mit dem Schott-Verlag
erschienen und enthält neben "Cantabile" und "Stimmen"
die verzweifelte "Musica dolorosa" und die farbschillernde
"Botschaft" in guten Einspielungen (Wergo CD 286220-2).
Das größte Vasks-Projekt aber hat die englische Firma
Conifer in Angriff genommen: Zunächst war eine CD erschienen,
die neben bisher Greifbarem das Englischhorn-Konzert und die großorchestrale
Hymne auf den Freiheitswillen des lettischen Volks "Lauda"
enthielt (Conifer/BMG CD 75605 51236-2, leider recht inkompetent
dirigiert). Ganz neu ist nun, mit dem Solisten David Geringas und
der Rigaer Philharmonie, das Cellokonzert erschienen ("eine
Schilderung vom Bestehen der Persönlichkeit gegen die Brutalität
der Macht"), zusammen mit "Stimmen" (Conifer CD 75605
51271-2), und außerdem eine vielseitige Zusammenstellung von
Kammermusik für Flöte, Cello, Klavier, Klaviertrio, Bläserquintett,
gespielt von lettischen Musikern (Conifer CD 75605 51272-2). Die
Conifer-Serie ist in den angelsächsischen Ländern ein
großer Erfolg und wird bald mit den Streichquartetten 1-3
fortgesetzt.
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