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Stimme des Gewissens

Expressivität und Ideale – der lettische Komponist Peteris Vasks

Seit den achtziger Jahren nimmt die Popularität baltischer Musik weltweit kontinuierlich zu. Bei dem, was man international davon kennt, handelt es sich fast ausschließlich um estnische Musik: nicht so sehr um den überragenden Sinfoniker Eduard Tubin, dessen wichtigste Werke nach wie vor unverständlicherweise kaum je im Konzert zu hören sind, sondern um Zeitgenossen wie Veljo Tormis, den unlängst verstorbenen Lepo Sumera, Erkki-Sven Tüür, Urmas Sisask und vor allem Arvo Pärt, der nicht nur in den angelsächsischen Ländern nachgerade ein Klassiker der Moderne geworden ist. Wohl kein anderer Komponist sakraler Musik dürfte heute so erfolgreich sein wie Pärt mit seinen asketischen Tintinnabuli-Strukturen. Litauische Musik kennt man weniger, abgesehen vielleicht von Klavierstücken des Nationalromantikers und Skrjabin-Zeitgenossen Mikolajus K. Ciurlionis. Das Schaffen von Osvaldas Balakauskas, Bronius Kutavicius oder Onute Narbutaite wird nur von wenigen Eingeweihten gewürdigt. Um Lettland stünde es ähnlich – Georgs Pelecis oder Peteris Plakidis fallen einem ein –, wäre da nicht Peteris Vasks, jener Prediger in Tönen, der binnen weniger Jahre, mit dem Rückenwind effektiver Arbeit des Schott-Verlags, den Weg in die erste Liga jener international bekannten Komponisten des einstigen Ostblocks nahm, die mit ihrem wehmütigen Wohlklang in Formeln neuer Einfachheit den Sehnsuchts-Nerv der Westkonsumenten treffen. Inzwischen wird Vasks gern in einem Atemzug mit den musikalischen Ikonenmalern wie Pärt, Kancheli oder Górecki genannt. Solcher Kult ist zweifellos der Verbreitung der Musik nützlich, wenngleich die Gemeinsamkeiten bei näherem Hinhören abnehmen.
Peteris Vasks versteht sich als Nationalkomponist im zeitlosen Sinn, indem er nicht nur seine Botschaft seinen lettischen Landsleuten vermittelt, sondern zugleich die Botschaft des lettischen Volks in die Welt hinausschicken möchte. Um diese Motivation zu verstehen, muß man etwas vom Schicksal der Letten wissen. Vasks’ erschütternde "Musica dolorosa", eine sehr persönliche Trauermusik auf den Tod seiner Schwester, wurde von seinen Landsleuten zugleich als tönende Trauer eines ganzen Volkes verstanden. Dem mittleren baltischen Staat zwischen Estland und Litauen hat die russifizierende Sowjetpolitik am übelsten mitgespielt. Nach 1945 wurden zunächst über 100.000 Letten nach Sibirien und Mittelasien deportiert, doch mußte bald der ursprüngliche Plan, das ganze Baltikum von der angestammten Bevölkerung zu säubern, aus Kostengründen aufgegeben werden. Aber vor allem in Lettland, wo heute zweieinhalb Millionen Menschen leben, wurden fortwährend Russen angesiedelt. Die lettische Sprache wurde verboten, und heute stellen die Letten in den großen Städten des unabhängigen Landes nicht mehr die Mehrheit. In den letzten Jahren vor der Unabhängigkeit aber "war alles in Agonie versunken: es herrschten Alkoholismus, Pessimismus, Nihilismus, Verzweiflung. In dieser tiefen Nacht konnte man nur noch auf einen Morgen warten. Das einzig Positive in der Gorbatschow-Zeit war, daß die Zensur durch den KGB nachließ. Komponisten übrigens waren gewissermaßen frei in ihrem Schaffen, besonders in der Instrumentalmusik. Da habe ich nie Kompromisse gemacht. Mit Texten konnte man sich natürlich nicht so frei bewegen. Ich war immer auf der Gegenseite zur Macht – auch jetzt bin ich eine aktive Opposition. Ich denke, daß in jedem "normalen" Staat der Künstler in Opposition sein muß. Es mag poetisch klingen, aber doch: Jeder Künstler muß ein Gewissen sein für sein Volk, seinen Staat. Das ist für mich immer ganz einfach gewesen. Für viele war das viel komplizierter. Ich hatte zwei Leben in jener Zeit: mein tägliches Leben in der kommunistischen Gesellschaft und meine Insel, wo ich komponiere, wo ich frei bin. Aber für die Leute, die nur ein Leben haben, war und ist es schwer. Ende der achtziger Jahre jedenfalls begannen wir zu spüren, daß wir trotzdem nicht alles verloren hatten unter dem kommunistischen Joch. Wir alle waren begeistert von der Freiheitsidee. Dann, im Januar 1991, die Barrikaden in Riga, diese riesigen Massendemonstrationen mit früher verbotenen nationalen Flaggen: Für uns, ein kleines Volk, war das so groß und schön! Natürlich ist das Ideal schöner als die Realität, und es ist ein langer Prozeß."
Für sein eigenes Volk will der Künstler Vasks das Gewissen verkörpern, und vor der restlichen Welt versteht er sich als Stimme seines Volkes – ethisch, moralisch, religiös. Und ganz unprätentiös sieht er sich als Kämpfer aus dem Reich der Töne, der es mit den Machthabern und Unterdrückern des Alltags aufnehmen will, mit den Militärs, mit der Korruption, mit Gewalt und Rücksichtslosigkeit. Vasks’ Musik – das sind die Steinwürfe eines David, der dem blinden Glauben an den zivilisatorischen Goliath die Wahrheit des Unschuldigen entgegenhält. Der Komponist als guter Mensch? Gewiß. Wer dem Menschen Vasks begegnet ist, wird an der Lauterkeit seiner Intentionen wohl kaum zweifeln. Vasks’ musikalische Sprache mag zwar raffinierte technische Details enthalten, sie wirkt jedoch ganz und gar nicht elaboriert, sondern unmittelbar expressiv und naiv, ja gelegentlich geradezu unbehauen. Juha Kangas, dem mit seinem Ostrobothnian Chamber Orchestra die spannendsten, unmittelbarsten Aufnahmen von Werken Vasks’ zu verdanken sind (die Sinfonie "Stimmen", "Cantabile"und "Musica adventus") hat in der finnischen Provinz Erfahrungen gesammelt mit den Reaktionen der ländlichen Zuhörerschaft: "Vasks’ Kompositionen treffen gerade auf dem Land, in den Dörfern, bei den sogenannten einfachen, nicht so gebildeten Leuten auf ein seelisches Verstehen, eine emotionale Offenheit wie wenig andere Musik unserer Zeit. Ich denke, daß es seine Ehrlichkeit ist, nicht mehr zu sagen als das Wesentliche und Sinnvolle, und nichts sagen zu wollen, was ihm nicht zu Gebote steht." Also so etwas wie eine zeitgenössische Volksmusik für den Konzertsaal?
Peteris Vasks wurde am 16. April 1946 in Aizpute als Sohn eines baptistischen Pfarrers geboren. Umgeben von Musik wuchs er auf: Der Vater war ein guter Tenor und spielte einige Instrumente; die Mutter hatte eine sehr schöne Sopranstimme; die Schwestern spielten Klavier, der kleine Peteris die Geige, "und ich lebe noch in dieser Zeit: Wir hatten kein Fernsehen, keinen Plattenspieler. Aber wir hatten eine Hausmusiktradition, und natürlich Musik in der Kirche. Es war so organisch und einfach, und ich verstand schon als ganz Junger: Musik ist das Wichtigste für mich." Seinen damaligen Geigenlehrer verehrt Vasks bis heute als seinen wichtigsten Lehrer. Achtjährig begann er mit dem Komponieren: "Es kam ganz plötzlich. Einige unbegleitete Lieder auf Kindertexte. Dann einige Stücke für Geige, für zwei Geigen. Aber dieser schöpferische Prozeß war so intim, daß ich einige Jahre lang mit niemandem darüber sprach: "Keiner ist zuhause – gut, jetzt komponiere ich etwas." Es war mein größtes Geheimnis, über all die Jahre; auch noch, als ich ab 1959 Kontrabaß studierte. Ich betrachtete das Komponieren als mein musikalisches Tagebuch." Umso wichtiger ist ihm der soziale Aspekt heute: "Was bedeutet denn Komponieren? Das ist ein Prozeß: Komponist, Interpret und Publikum. Es ist nicht abstrakt, für ein Instrument, nein: Du komponierst es für einen Freund. Er hat Interesse, das zu studieren. Also schreibe ich für ihn. Da war ein sehr gutes Bläserquintett, also schrieb ich zwei Bläserquintette."
Als Pfarrerssohn und Nicht-Parteimitglied war Vasks selbstverständlich ein "Staatsfeind", der beim Studium von den Behörden schlimm schikaniert wurde. Er brachte es weit auf dem Kontrabaß, spielte zum Abschluß immerhin sein eigenes Arrangement von Saint-Saëns’ a-moll-Cellokonzert.

Nach einjährigem Militärdienst, einer schöpferisch fruchtlosen Zeit, nahm er sein Kompositionsstudium bei Valentin Utkins auf (1973-78). Doch im Grunde ist Vasks "ein klassischer Autodidakt", der die wesentlichen Kenntnisse und Anregungen aus unermüdlichem Partiturstudium bezog. Längst hatte er die ihm zugänglichen zeitgenössischen Werke kennengelernt. Die polnische Avantgarde war wie eine Obsession über ihn gekommen: früher Penderecki, Lutoslawski, Serocki, Górecki usw.: "Lutoslawski ist immer noch mein Lieblingskomponist: so professionell, ausdrucksstark und existentiell. Und was für eine vierte Symphonie, von einem Achtzigjährigen!" Für so verschiedene Tonschöpfer wie Anders Eliasson, Pehr Henrik Nordgren, Arvo Pärt oder, in seinen Symphonien, Giya Kancheli hegt er höchste Bewunderung, aber auch – das mag vielleicht überraschen – für John Adams: "Er ist wie eine amerikanische Jeans. Er ist einfach und voller Vitalität. Was ich so wichtig finde: Bei ihm ist Musik ein positives Ideal. Seine "Harmonielehre" ist gute, schöne Musik. Er ist natürlich naiv, und ich bin auch naiv. Und er ist aktiv. Für mich ist es das Schrecklichste in der Musik, wenn es nur passiv, selbstzerstörerisch, ohne Ideal, ohne wahren Inhalt ist. Was ich aber zum Inhaltlichen sagen will: Musik muß doch Expressivität haben, emotional wirken, und ich verstehe nicht, was eine "philosophische Komposition" sein soll. Philosophie in der Musik? Natürlich kann man, wenn etwas sehr langweilig ist, sagen, es sei philosophisch gemeint. Aber wo ist dann das Persönliche, der unverwechselbare Ausdruck? Das kommt bei mir alles von meinem Vater: Ich erinnere mich leibhaftig, wie expressiv seine Gebärdensprache war, wenn er predigte. Viele andere lasen ihre Predigt nur ab. Er hingegen arbeitete viel daran, machte sich ein paar Notizen, und wenn er dann zu den Menschen sprach, war das sehr intensiv, das Beste, was er geben konnte. Nichts anderes mache ich in der Musik. Ich muß das Wichtigste sagen. Auch da geht es um Ideale, um Glaube, um Liebe. Ich muß das erzählen, in Musik, für meine Mitmenschen. Und wie ich es tue, so bin ich – das ist mein Charakter."
Vasks hat bisher viel Kammermusik geschrieben, darunter ein Klaviertrio und drei Streichquartette, aber auch sehr beliebte Solostücke für Flöte, Cello und Klavier. Sein Beitrag zur Chormusik ist für baltische Verhältnisse erstaunlich gering, dafür umso gewichtiger, was Gehalt und stilistische Ambition betrifft. "Litene" und "Zemgale", zwei überbordend expressive Balladen für gemischten Chor über die tragischsten Kapitel der lettischen Geschichte, beziehen viele ihrer klanglich-strukturellen Mittel aus der polnischen Avantgarde. Fürs große Orchester vollendete er, nach "Lauda" (einer innigen Hymne auf den Überlebenswillen seines Volks) und dem Cellokonzert, als Auftragswerk der Londoner Proms, seine zweite Symphonie. Vasks liebt die der menschlichen Stimme am nächsten stehenden Instrumente, wie beispielsweise Flöte und Cello, am meisten. Das natürlichste Ausdrucksmilieu für seine konfliktreichen Tonpoëme aber ist das Streichorchester, und da sind ihm mit "Cantabile", "Musica dolorosa", der 1. Sinfonie "Stimmen" und dem Violinkonzert "Fernes Licht" für Gidon Kremer auch seine bislang erfolgreichsten Werke geglückt. Die Spannung in Vasks’ Musik wird vor allem aus dem Widerstreit zweier unvereinbarer Welten bezogen: auf der einen Seite introvertiert-einfache, naiv-volksnahe Diatonik mit schlichten Melodien und moll-lastigen Harmonien – Natur und Menschlichkeit symbolisierend, oft auch mit der Unschuld implizierenden Imitation von Vogelstimmen assoziiert; und auf der anderen Seite wilde, hastig zerfahrende Ausbrüche, schroffe Clustereinwürfe, wuchernde Aleatorik, in welcher die Einzelstimmen haltlos durcheinanderirren – Stumpfheit, Aggression und Gewalt symbolisierend. Keine neue harmonische Sprache also, sondern die Kollision zwischen Dur-Moll-Tonalität und Atonalität, analog einer Konfrontation des Menschlichen mit dem Unmenschlichen. Am Ende trägt die diatonische Welt meist einen zerbrechlichen Sieg davon, oder sie bleibt zumindest übrig nach dem Kampf – verletzt, schwermütig und sehnend: für unsere westlichen Ohren, jedoch "nicht für uns Balten. So ist die Welt für uns. Das ist normal." Lamento als Lebensqualität – die baltische Dimension. Das muß man erlebt haben.

Christoph Schlüren

(Originalfassung eines Beitrags für Klassik Heute)

Auswahl-Diskographie
Sinfonie "Stimmen" (+ Streicherwerke von Balakauskas und Narbutaite);
Ostrobothnian Chamber Orchestra, Juha Kangas
Finlandia 4509-97892-2
Cantabile für Streicher (+ Streicherwerke von Kutavicius, Tüür u. a.);
Ostrobothnian CO, J. Kangas
Finlandia/Warner Classics 4509-97893-2
Musica adventus (+ Streicherwerke von Sumera, Narbutaite, Tüür);
Ostrobothnian CO, J. Kangas
Finlandia 3984-29718-2
Musica dolorosa, Cantabile, Lauda, Sinfonie "Stimmen";
I Fiamminghi, Rudolf Werthen
Telarc/in-akustik 80457
Violinkonzert "Fernes Licht", Sinfonie "Stimmen;
Gidon Kremer (Violine und Leitung), Kremerata Baltica
Teldec/Warner Classics 3984-22660-2
Streichquartette Nr. 2 und 3;
Riga Streichquartett
Caprice/Liebermann CAP 21635
Streichquartette Nr. 1-3;
Miami String Quartet
Conifer/BMG 75605 51334 2
Cantabile, Botschaft, Musica dolorosa, Sinfonie "Stimmen";
Lettisches Nat. SO, Lettisches Philh. Kammerorch., P. Mägi, T. Lifsics
Wergo/Schott 286 220-2
Cellokonzert, Sinfonie "Stimmen";
David Geringas (Cello), Riga Philh., Jonas Aleksa
Conifer 75605 51271 2
Englischhornkonzert, Botschaft, Cantabile, Musica dolorosa;
Normunds Schnee (Englischhorn), Riga Philh., Kriss Rusmanis
Conifer 75605 51236 2
"Landschaft mit Vögeln" für Flöte Solo, "Buch" für Cello Solo, "Landschaften der ausgebrannten Erde" für Klavier Solo, "Episodi e canto perpetuo" für Klaviertrio, "Musik für einen verstorbenen Freund" für Bläserquintett;
diverse Interpreten
Conifer 75605 51272 2
"Eine kleine Nachtmusik" und "Weiße Landschaft" für Klavier Solo, "Landschaft mit Vögeln", "Episodi e canto perpetuo", "Eine kleine Sommermusik" für Violine und Klavier, "Musik für einen verstorbenen Freund";
diverse Interpreten
Koch-Schwann 3-6496-2
TeDeum für Orgel (+ Werke von Ciurlionis,
Pärt u. a.);
Hans-Ola Ericsson; BIS/Klassik-Center 561
(Stand: Februar 2001)