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PETERIS VASKS

Stimme eines gequälten Volkes

"Sie mögen mich einen Don Quixote nennen, aber ich glaube, daß diese Welt im Gleichgewicht gehalten wird, weil es Musik gab, gibt und geben wird. Und die Musik ist aus Schmerz gewonnen, mit Schmerz geboren - ehrlich und heiß, das Loblied auf Glaube und Liebe singend." Peteris Vasks, 1992
 
Cantabile per archi (1979)(Dauer: 8'54")
(Ostrobothnian Chamber Orchestra, Juha Kangas; Finlandia/Warner CD 4509-97893-2)
 
Der große finnische Dirigent Juha Kangas, Gründer und Leiter des legendären Ostrobothnian Chamber Orchestra, mit dem Sie soeben das 1979 entstandene Cantabile per archi von Peteris Vasks hörten, erzählt mit nordisch zurückgehaltener Ergriffenheit davon, wie die Werke von Peteris Vasks gerade auf eine "einfache" Zuhörerschaft wirken:
"Die Kompositionen von Vasks treffen gerade auf dem Land, in den Dörfern, bei den sogenannten einfachen, nicht so gebildeten Leuten auf ein seelisches Verstehen, eine emotionale Identifikation wie wenig andere zeitgenössische Musik. Ich denke, daß es seine Ehrlichkeit ist, nicht mehr zu sagen, als was wesentlich und sinnvoll ist, und nichts sagen zu wollen, was er nicht sagen kann."
Diese Zuhörer leiden mit einer Musik, die nur dann ihren Weg finden kann, wenn man sich ihr hingibt ohne innere Distanz. Vasks ist in dieser sehr persönlichen Weise, fern populistischer oder kommerzieller Störfaktoren, ein Komponist des Volkes. Seine Musik ist im edelsten Sinne Volksmusik unserer Tage.
Peteris Vasks wurde am 16. April 1946 in Aizpute in Lettland als Sohn eines baptistischen Pfarrers geboren. Ganz natürlich war er immer schon von Musik umgeben: der Vater war ein guter Tenor und spielte einige Instrumente; die Mutter hatte eine sehr schöne Sopranstimme; die Schwestern spielten Klavier, der kleine Peteris die Geige.
"Und ich lebe noch in dieser Zeit. In meiner Kindheit gab es kein Fernsehen, keine Plattenspieler. Wir haben eine Hausmusiktradition, und auch in der Kirche war natürlich Musik. Das war so organisch und einfach. Ich verstand: Musik ist das Wichtigste für mich. Das war schon, als ich ganz jung war."
Früh begriff Peteris aber auch die Kehrseite der Einfachheit:
"Der Kantor ließ nicht nur gute Musik singen. Es war auch sehr viel von so einer bestimmten amerikanischen, sogenannt geistlichen Sorte dabei. Einiges davon war so leer und primitiv, daß ich schon damals dachte: 'Mein Gott, wie schrecklich...!' Als mein Vater ihn um mehr gute Musik bat, sagte der Kantor ihm, daß die Chorsänger diese Musik aber lieber mögen. Und daß diese Musik einfacher ist, und so... Ich merkte: die Leute gehen auf die Banalitäten, fast immer. Es gab ja zu dieser Zeit, in den fünfziger Jahren in der lettischen Provinz, überhaupt keine Möglichkeit, irgendetwas zu hören, das nicht im Moment musiziert wurde. Und natürlich gab es keine Konzerte in der Provinz. Als ich dann mit zehn Jahren im Tannhäuser war, das war so unglaublich, so groß, Sie können sich das sicher nicht vorstellen."
Seinen alten Geigenlehrer jener Tage, voll Enthusiasmus und immer "voll mit Musik", verehrt er heute noch als seinen besten Musiklehrer. Als Achtjähriger schrieb Peteris seine ersten Kompositionen.
"Das kam ganz plötzlich. Einige Lieder auf Kindertexte, für Solostimme ohne Begleitung. Dann einige Stücke für Violine, für zwei Violinen. Aber dieser schöpferische Prozeß war so intim, daß ich einige Jahre lang niemandem etwas davon zeigte, mit niemandem darüber sprach. Es ging so: Keiner war zuhause - also gut, jetzt komponiere ich etwas. Das war mein größtes Geheimnis, daß ich komponiere. So wichtig, und so intim... Über Jahre ging das so, auch als ich ab 1959 Kontrabaß studierte. Ich dachte einfach: das Komponieren ist sehr wichtig für mich, es ist mein musikalisches Tagebuch."
Wenn Peteris Vasks über das Inhaltliche seiner Werke nachdenkt, so ist das Essentielle für ihn die Expressivität, die emotionale Kraft, und er fragt sich, was wohl das "Philosophische in der Musik" sein soll:
"Sicher kann man, wenn etwas langweilig ist, sagen: 'Das ist philosophisch.' Aber wo ist das Persönliche, das Echte, der Ausdruck? Das kommt bei mir alles von meinem Vater. Wie expressiv seine Sprache, seine Bewegung war, wenn er predigte! Bei vielen aber, bemerkte ich, war das alles schon geschrieben, und die lasen es eben ab. Mein Vater arbeitete hart und sehr viel daran, machte sich sodann ein paar Notizen, und wenn er die Predigt dann hielt, so war das für die Leute, für das Volk, so mit dem ganzen Ausdruck. Und das mache ich in der Musik. Ich muß das Wichtigste sagen. Es geht um Ideale, um Glaube, um Liebe, und das ist in meiner Musik, und ich muß das für die Leute erzählen. Und wie ich das tue, so bin ich - das ist mein Charakter."
Die folgende Ballade für zwölfstimmigen gemischten Chor "Litene" entstand 1992-93. Der Ort Litene ging mit einem Massaker an lettischen Offizieren in die Geschichte ein als "lettisches Katyn". Es singt der Chor des Lettischen Rundfunks unter Leitung von Sigvards Klava.
 
Litene (1992-93) (Dauer: 10'18"); Chor des Lettischen Rundfunks, Sigvards Klava; Latvijas Radio CD 1995
 
Als Sohn eines baptistischen Pfarrers und Nicht-Parteimitglied war Peteris Vasks natürlich ein "Staatsfeind", und als er nach vierjährigem Kontrabaßstudium an der Musikschule in Riga am dortigen Konservatorium weiterstudieren wollte, verwehrte man ihm die Zulassung. "Du bist kein richtiger Sowjetmensch." Seit er 16 war, spielte er in der Rigaer Oper. Er erhielt die Möglichkeit, ein Fernstudium an der Musikhochschule im litauischen Vilnius zu beginnen. Da bat man ihn nach einem Jahr in Riga, das Studium dort fortzusetzen. Er war kaum zurück, da sagte man ihm nach ein paar Tagen: "Wir nehmen Sie nicht. Sie sind kein sowjetischer Mensch." Nur mit viel Glück und einem persönlichen Fürsprecher gelang es ihm daraufhin, das Studium in Vilnius fortzusetzen, das er 1970 mit seiner eigenen Einrichtung des a-moll-Cellokonzerts von Saint-Saens für Kontrabaß abschloß. Dem folgte der einjährige Militärdienst im sowjetischen Heer, eine Zeit völliger Depression und die einzige Phase, in der er nicht komponierte. Inzwischen aber hatte er sich als Komponist tief in die ihm zugängliche zeitgenössische Materie eingearbeitet, und die polnische Avantgarde beschäftigte ihn über Jahre zentral: der frühe Penderecki von Anaklásis und Threnodie, Lutoslawski, Serocki, Górecki, Kilar, Bacewicz, Baird und andere.
"Diese neue Musik war für mich wie ein Schock. Und jetzt fing ich an zu denken: 'Warum mache ich das so? Und so?' Ich muß leider sagen, daß es für Komposition keine guten Lehrer gab. Ich bin ein klassischer Autodidakt. Ich studierte nun alle diese polnischen Partituren und analysierte sie. Und das war für mich die beste Schule. Später bekam ich über eine Tante aus Amerika Aufnahmen mit Musik von George Crumb, Morton Feldman und auch John Adams. Auch Adams hat eine spezifische Attraktivität: er ist wie eine amerikanische Jeans - einfach und unverwüstlich. Und vor allem voller Vitalität. Ich finde das wichtig: bei ihm ist Musik ein positives Ideal."
Allen voran Lutoslawski wurde für ihn mehr und mehr zu einem allgemeinen Vorbild künstlerischer Integrität und Intensität. Vasks heute über Lutoslawski:
"Er ist mein Lieblingskomponist. So professionell und so ausdrucksstark, so existentiell. Und was für eine vierte Symphonie von einem achtzigjährigen Komponisten! Kein Zeichen von Schwäche."
Vom Militärdienst entlassen, entschloß sich Vasks endlich, offiziell Komposition zu studieren, bevor er Großvater würde. Sein Lehrer an der Musikakademie von Lettland war 1973-78 Valentin Utkins, der sich als gewiefter Diplomat und großherziger Förderer erwies, der oft genug von seinen guten Beziehungen Gebrauch machen mußte, um dem unerwünschten Vasks die Fortsetzung und Beendigung des Studiums zu ermöglichen.

"In all den Studienjahren verteidigte er meine Begabung, meinen Charakter, meine "Harmlosigkeit". Ich durfte frei komponieren. In meiner Musik habe ich mich immer frei ausgedrückt. Darum komponiere ich auch meistens instrumentale Musik. Denn da gibt es keine Möglichkeit, die Gesinnung zu kontrollieren. Was wäre denn antistalinistischer, antikommunistischer gewesen als Schostakowitschs Symphonien in den dreißiger Jahren? Die KGB-Leute verstanden, daß da etwas Gefährliches war, aber sie konnten nicht wirklich einschreiten. Sie konnten nur einzelne Werke verbieten. Niemand wußte, was die offizielle Forderung, Kunst müsse im Inhalt international und in der Form national sein, bedeutete."
Vasks schuf viel Kammermusik, worunter das "Buch" für Cello Solo häufig gespielt wird. Auch Musik für Flöte, ein Klaviertrio, zwei Bläserquintette und bislang drei Streichquartette hat er geschrieben. Doch allmählich begriff er, daß er mit dem Orchester, und darunter besonders dem Streicherkörper, sich umfassender auszudrücken vermochte. Die ersten Werke für größeres Ensemble, mit denen Vasks hervortrat, waren Cantabile, das Sie zu Beginn hörten, und "Botschaft" für Streichorchester, zwei Klaviere und Schlaginstrumente. Sein düsterstes, hoffnungslosestes Werk ist die 1983 komponierte Musica dolorosa, eine Trauermusik für seine verstorbene, geliebte Schwester Marta. Hier hat die Aleatorik eine ihr natürlich zukommende Funktion, indem sie für die Richtungslosigkeit der reinen Verzweiflung einsteht. Das unerbittlich Richtung formende, sammelnde Pulsieren mag man als Symbol für den unerbittlichen Fortgang des Lebens wie auch für den Durchhaltewillen und die instinktive Suche nach Stabilität in einer haltlos erschütterten Situation erfahren. Das Ende bleibt ohne eine Lösung. Doch bedarf es eigentlich keiner erklärenden Worte angesichts einer Musik von so mächtiger, erschütternder Einfachheit. Es spielt das Ostrobothnian Chamber Orchestra unter Leitung von Juha Kangas in einer Studioaufnahme, die Vasks ohne Zögern als die bei weitem beste bezeichnet, die der Dirigent aber nicht zur Veröffentlichung auf CD freigegeben hat mit der lakonischen Begründung: "We were too tired." Kangas hat bei anderer Gelegenheit betont, daß Musica dolorosa eines jener Stücke ist, die man live aufnehmen muß, um ein wenig vom wahren Geist einzufangen.
 
Musica dolorosa (1983) (Dauer: 13'25"); Ostrobothnian Chamber Orchestra, Juha Kangas; Studio-Aufnahme, 1994
 
Musica dolorosa, Ausdruck von Peteris Vasks' bitterstem Unglück und eine sehr persönlich motivierte Musik, wurde von seinen lettischen Landsleuten zweifellos als tönende Trauer eines ganzen Volkes aufgenommen. Lettland, dem mittleren baltischen Staat zwischen Estland und Litauen, wurde von der russifizierenden Sowjetpolitik am übelsten mitgespielt. Nach 1945 wurden zunächst über 100.000 Letten nach Sibirien und Mittelasien deportiert, doch mußte schon bald der ursprüngliche Plan, das ganze Baltikum von der angestammten Bevölkerung zu säubern, aus Kostengründen aufgegeben werden. Aber vor allem in Lettland, in dem heute 2,6 Millionen Menschen leben, wurden fortwährend Russen angesiedelt. Die lettische Sprache wurde verboten, und heute stellen die Letten in den zehn größten Städten des unabhängigen Landes nicht mehr die Mehrheit. Die Gefahr, die daraus nach wie vor von Rußland droht, braucht nicht weiter dargelegt zu werden.
1987, mitten in der allerschlimmsten Zeit vor dem Zerfall der Sowjetunion, schrieb Vasks sein erstes Werk für großes Orchester, "Lauda", ein instrumentales Hohelied auf das lettische Volk.
"Das Baltikum ertrank in Alkoholismus. Es war fünf Minuten vor zwölf. Es war einfach nicht vorstellbar, wie das noch weitergehen sollte. Die sowjetische Ideologie war für uns nicht das Problem, die war einfach zu dumm. Aber das Unterlegenheitsbewußtsein gegenüber diesem großen Volk, das solche Sachen mit uns machte. Unser Pech war zudem, daß wir das Zentrum des Baltikums sind. Es war eine solche grenzenlose Depression, die sich über alles gelegt hatte. Und ich schrieb trotzdem diese Hymne für mein Volk, gerade jetzt: 'wir existieren noch, wir haben noch unsere Identität. 'Lauda' entstand für mein armes, geknechtetes, unglückliches Volk. Viele haben natürlich gefragt, was für ein trauriger Lobgesang das ist. Aber ich denke, daß da Idealismus ist in dieser Musik."
Was wir da als Trauer empfinden in der baltischen Musik, ist für die Balten noch lange nicht Trauer, sondern Lebensgefühl, wie es sich in den Werken von Komponisten wie Arvo Pärt, Lepo Sumera, Erkki-Sven Tüür, Balakauskas, Kutavicius, Peteris Plakidis oder eben Peteris Vasks überträgt. Der Georgier Giya Kancheli schrieb ein Werk, das "Lichte Trauer" heißt. Der Osten trifft den Westen, und es ist nicht einfach nur eine Mode. Mentalitäten kollidieren, und eine positive Infragestellung wird möglich.
Anfang 1991 eskalierte die Situation im Baltikum, Barrikaden und Demonstrationen prägten Riga den Stempel des Erwachens auf. Peteris Vasks hatte seine Symphonie "Balsis" (auf deutsch: 'Stimmen'), ein Auftragswerk seines Freundes Juha Kangas aus dem finnischen Kokkola, begonnen. Vieles entstand unter dem Eindruck der umwälzenden Ereignisse, ohne diese äußerlich widerzuspiegeln. Die Symphonie hat die drei Sätze "Stimmen der Stille", "Stimmen des Lebens" und "Stimme des Gewissens". Denken wir an ein Intervall, das den Vasksschen Affekt am besten symbolisiert, so sicher nicht die Quart, auch keine Sekunden und Septimen: das Verbindende, Terz und Sexte, ist dasjenige, was immer wieder wärmespendend und der harten Außenwelt auf einer anderen Ebene ein Gegengewicht bietend die Signale der Vasksschen Innenwelt prägt. Es geht um den ganzen Menschen, der nichts Wesentliches für sich behält und nichts Unwesentliches in die Welt schickt. Der Komponist ist auch "Stimme des Gewissens des Volkes, der Gesellschaft".
"Ich habe keine Wahl. Jede meiner Kompositionen ist eine Erste und Letzte. Mit Maximum - an Konzentration und Expressivität. Du magst meine Musik schlecht oder gut finden, das ist eine andere Sache. Aber ich muß sagen können: 'Besser habe ich es nicht gekonnt. Ich habe alles gegeben."
Hören Sie zum Abschluß aus der Symphonie "Stimmen" für Streichorchester das Ende des dritten Satzes "Stimme des Gewissens". Es spielen die Widmungsträger, das Ostrobothnian Chamber Orchestra unter Juha Kangas.
 
Symphonie für Streicher "Stimmen":
Ausschnitt aus 3.Satz "Stimme des Gewissens" (Dauer: 4'30")
Ostrobothnian Chamber Orchestra, Juha Kangas; Finlandia/Warner CD 4509-97892-2

Sendemanuskript für BR2;
Produktion: 14.2.1996;
Erstsendung: 27.2.1996, 23:o7-24:oo.

Christoph Schlüren, im Februar 1996