Heinz Tiessen
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Musikgeschichte wird, vor allem in
unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen, meist in Trends,
Strömungen und Kategorien geschrieben, die stets mit wenigen
überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht
werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch viele jener
Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz Großen"
gezählt werden, Persönlichkeiten sind, deren Werdegang
und Werk in keine Schublade paßt, sondern eine eigene Kategorie
begründet. Er ging seinen Weg vom Strauss der 'Salome' in die
Moderne und fand Anfang der zwanziger Jahre zu einem expressionistischen
Personalstil, der vieles vorwegnahm, was im folgenden Jahrzehnt
richtungsweisend werden sollte: Seine 1910-11 komponierte 1. Sinfonie
wurde 1913 unter Paul Scheinpflug uraufgeführt. In der einsätzigen
2. Sinfonie op. 17 mit dem Goetheschen Motto 'Stirb und Werde!'
zeigte sich Tiessen 1912 als vollendeter Meister sinnlich ausdrucksgeladener,
dabei thematisch immer wesentlicher Orchestermusik, die von den
Errungenschaften Richard Strauss ausgehend Neuland erschloss.
Dann führte Tiessens Weg über die impressionistischere
'Natur-Trilogie' für Klavier (ein Lieblingswerk Eduard Erdmanns)
zur expressionistisch verdichteten Aussage seiner Theatermusiken,
die ab 1918 entstanden und ihn als einen der originellsten und wichtigsten
Tonschöpfer auf diesem Gebiet im 20. Jahrhundert ausweisen.
Vieles seiner Schauspielmusik fand Eingang in selbständige
Werke wie die Totentanz-Suite für Violine und Orchester, die
Hamlet-Suite und das 'Vorspiel zu einem Revolutionsdrama' oder das
Streichquintett op. 32, neben der Duo-Sonate für Violine und
Klavier und dem ekstatisch aufwühlenden Tanzdrama 'Salambo'
das wohl Aufrührerischste aus Tiessens Feder. Zugleich trieb
er im Geist der 'Neuen Sachlichkeit' die Ablösung von der Romantik
voran und leitete einen sozialistischen Arbeiterchor. Das dritte
Reich verurteilte Tiessen zum Schweigen und ließ ihn als Lehrer
im Stillen wirken. Nach dem Krieg war er vergessen und fand nur
noch selten zu unumschränkter schöpferischer Vitalität,
so in den Konzertanten Variationen für Klavier und Orchester,
komponiert 1961 für seine Frau, die feine Pianistin Anneliese
Schier-Tiessen. Er starb am 20. November 1971 in seiner lebenslangen
Wahlheimat Berlin. Tiessen war nicht nur als Komponist, Dirigent,
Pianist, Theoretiker und Lehrer ("Wie er moduliert, so ist
der Mensch; er unterlasse es, will er nicht durchschaut werden.")
eine bedeutende Persönlichkeit, sondern auch als Ornithologe
(in seinem Buch 'Musik der Natur' vertritt er die These, die Amsel
komponiere) oder Astrologe. Über Letzteres berichtete Hans
Heinz Stuckenschmidt: "Mit seinen Horoskopen hat Tiessen oft
Ratschläge gegeben, die sich als überraschend richtig
erwiesen. So riet er 1928 dem Bratschisten und Dirigenten Emil Bohnke
von einer geplanten Autoreise dringend ab. Dieser fuhr trotzdem
und verunglückte tödlich." Solch transzendentale
Begabung spricht auch aus Tiessens Kompositionen und führt
den Hörer in Regionen, von deren Existenz er bisher nichts
ahnte. Es wäre übrigens zu hoffen, dass irgendwann Sergiu
Celibidaches phänomenale Berliner Tiessen-Aufnahmen von 1957
veröffentlicht werden. |