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Heinz Tiessen
(1887-1971)

Transzendentaler Zusammenhang

Musikgeschichte wird, vor allem in unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen, meist in Trends, Strömungen und Kategorien geschrieben, die stets mit wenigen überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch viele jener Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz Großen" gezählt werden, Persönlichkeiten sind, deren Werdegang und Werk in keine Schublade paßt, sondern eine eigene Kategorie begründet. Er ging seinen Weg vom Strauss der 'Salome' in die Moderne und fand Anfang der zwanziger Jahre zu einem expressionistischen Personalstil, der vieles vorwegnahm, was im folgenden Jahrzehnt richtungsweisend werden sollte:
Heinz Tiessen (1887-1971)
Transzendentaler Zusammenhang
(Anspieltip: Hamlet-Suite)
 
Aus der Qualität des Geschaffenen lässt sich oft nicht nachvollziehen, wie Musikgeschichte geschrieben wird. In den zwanziger Jahren war Heinz Tiessen allgemein angesehen als einer der führenden fortschrittlichen Komponisten, und die in jener Periode entstandenen Werke gehören auch heute noch zum Fesselndsten und eigentümlich Kühnsten, was zu einer Zeit geschaffen wurde, die immerhin als eine der fruchtbarsten in der deutschen Musik gelten muss. Heute ist Tiessen nur noch wenigen bekannt als der entscheidende Lehrer und Mentor so großer Musikerpersönlichkeiten wie Eduard Erdmann und Sergiu Celibidache. Das könnte sich indes bald ändern, indem man, via CD, jetzt erstmals Gelegenheit erhält, Aufnahmen seiner Musik zu erwerben (es hat bisher tatsächlich keine einzige Schallplatte gegeben, auf der mehr als ein Stück von Tiessen zu finden gewesen wäre, und seine Orchestermusik existierte nur in Rundfunkmitschnitten). So revolutionär Tiessens Kompositionen klingen, hatte er doch als hochgebildeter, geschichtsbewusster Künstler kein Interesse an einer Zerstörung der Tradition, sondern deren Erneuerung und 'Verlebendigung' im Sinn und war überzeugt, dass unsere Anschauungen den Ausschlägen eines "geistigen Pendelgesetzes" unterliegen. Er brach nicht mit der Tonalität, sondern erweiterte sie bis an die äußersten Grenzen ihrer Tragfähigkeit und erkundete Regionen des Zusammenhangs, die Zwölftönern und Neuromantikern verschlossen blieben. Das Komponieren war für ihn ein unwillkürlicher Prozess, der seine eigene, unabsehbare Dynamik in sich birgt: "Das Schaffen erst schafft die Form, jedesmal aufs Neue… Vorher ist Ahnung des seelischen Gehalts (des Charakters der strömenden Kraftquellen), Ahnung eines bildnerischen Vorganges, der aus pulsierenden Kräften mit traumwandlerischer Selbstverständlichkeit sich zu einer organischen Form emporentwickelt… Seist du Komponist, Interpret oder Hörer: nicht nur der Gehalt, auch die Gestalt, der organische Bau eines Kunstwerks muss dir zu einem unmittelbar erfühlten Erlebnis werden; genau wie die Betrachtung eines Naturorganismus, etwa eines Baumes, den du mit — nahezu physischer — schöpferischer Einfühlung förmlich aus seiner Wurzel in den Stamm aufsteigen und in Zweige und Blüten treiben spürst." In Tiessens besten Werken vereinen sich elementare Kraft und freisinniger Geist mit äußerster Konzentration zu einem untrennbaren, alle Begrenzungen hinter sich lassenden Ganzen.
Heinz Tiessen wurde am 10. April 1887 in Königsberg geboren und studierte in Berlin Komposition (bei Philipp Rüfer), Dirigieren, Literatur, Musikgeschichte und Philosophie (bei Georg Simmel).

Seine 1910-11 komponierte 1. Sinfonie wurde 1913 unter Paul Scheinpflug uraufgeführt. In der einsätzigen 2. Sinfonie op. 17 mit dem Goetheschen Motto 'Stirb und Werde!' zeigte sich Tiessen 1912 als vollendeter Meister sinnlich ausdrucksgeladener, dabei thematisch immer wesentlicher Orchestermusik, die von den Errungenschaften Richard Strauss’ ausgehend Neuland erschloss. Dann führte Tiessens Weg über die impressionistischere 'Natur-Trilogie' für Klavier (ein Lieblingswerk Eduard Erdmanns) zur expressionistisch verdichteten Aussage seiner Theatermusiken, die ab 1918 entstanden und ihn als einen der originellsten und wichtigsten Tonschöpfer auf diesem Gebiet im 20. Jahrhundert ausweisen. Vieles seiner Schauspielmusik fand Eingang in selbständige Werke wie die Totentanz-Suite für Violine und Orchester, die Hamlet-Suite und das 'Vorspiel zu einem Revolutionsdrama' oder das Streichquintett op. 32, neben der Duo-Sonate für Violine und Klavier und dem ekstatisch aufwühlenden Tanzdrama 'Salambo' das wohl Aufrührerischste aus Tiessens Feder. Zugleich trieb er im Geist der 'Neuen Sachlichkeit' die Ablösung von der Romantik voran und leitete einen sozialistischen Arbeiterchor. Das dritte Reich verurteilte Tiessen zum Schweigen und ließ ihn als Lehrer im Stillen wirken. Nach dem Krieg war er vergessen und fand nur noch selten zu unumschränkter schöpferischer Vitalität, so in den Konzertanten Variationen für Klavier und Orchester, komponiert 1961 für seine Frau, die feine Pianistin Anneliese Schier-Tiessen. Er starb am 20. November 1971 in seiner lebenslangen Wahlheimat Berlin. Tiessen war nicht nur als Komponist, Dirigent, Pianist, Theoretiker und Lehrer ("Wie er moduliert, so ist der Mensch; er unterlasse es, will er nicht durchschaut werden.") eine bedeutende Persönlichkeit, sondern auch als Ornithologe (in seinem Buch 'Musik der Natur' vertritt er die These, die Amsel komponiere) oder Astrologe. Über Letzteres berichtete Hans Heinz Stuckenschmidt: "Mit seinen Horoskopen hat Tiessen oft Ratschläge gegeben, die sich als überraschend richtig erwiesen. So riet er 1928 dem Bratschisten und Dirigenten Emil Bohnke von einer geplanten Autoreise dringend ab. Dieser fuhr trotzdem und verunglückte tödlich." Solch transzendentale Begabung spricht auch aus Tiessens Kompositionen und führt den Hörer in Regionen, von deren Existenz er bisher nichts ahnte. Es wäre übrigens zu hoffen, dass irgendwann Sergiu Celibidaches phänomenale Berliner Tiessen-Aufnahmen von 1957 veröffentlicht werden.

Christoph Schlüren
('Kleiner Lauschangriff' für Klassik Heute, 2000)
 
 
Diskographie:
2. Symphonie op. 17 "Stirb und Werde!", Hamlet-Suite op. 30, Vorspiel zu einem Revolutionsdrama op. 33, Zwei Orchesterstücke nach dem Tanzdrama "Salambo" op. 34a;
Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester, Israel Yinon;
Koch-Schwann 3-1490-2
Amselseptett op. 20 für Flöte, Klarinette, Horn und Streichquartett (+ E. Erdmann, O. Besch);
Rheinisches Bach-Collegium
MDG 5250645-2
Zwei ernste Weisen für Viola und Klavier (+ Schreker, Hindemith, Höffer, Juon, Chemin-Petit);
3. Folge der Edition "Musik zwischen den Kriegen"
Thorofon 4 LPs ETHK 341/4
(Stand: Oktober 2000)