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Portrait
Heinz Tiessen

Einheit von Gehalt
und Gestalt

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Zwei Orchesterstücke nach dem Tanzdrama 'Salambo' op. 34a, 1. Satz
Radio-Sinfonieorchester Berlin, Sergiu Celibidache (live, Berlin, 7.10.1957)
SFB-Band AU 91942
Dauer: ca. 5'17
 
"Seist du Komponist, Interpret oder Hörer: nicht nur der Gehalt, auch die Gestalt, der organische Bau eines Kunstwerks muß dir zu einem unmittelbar erfühlten Erlebnis werden; genau wie die Betrachtung eines Naturorganismus, etwa eines Baumes, den du mit – nahezu physischer! – schöpferischer Einfühlung förmlich aus seiner Wurzel in den Stamm aufsteigen und in Zweige und Blüten treiben spürst!"
Von Heinz Tiessen hörten Sie zu Beginn den ersten Satz der Suite aus dem 1922-23 entstandenen Tanzdrama 'Salambo' in einer 1957er Aufnahme des Radio-Sinfonieorchesters Berlin unter Sergiu Celibidache. Tiessen war in den zwanziger Jahren weithin anerkannt als einer der führenden und eigentümlichsten jungen deutschen Komponisten. Längst ist er – und, gleich ihm, sein Kompositionsschüler Eduard Erdmann – von der Bildfläche verschwunden. Diese großen Komponisten wurden nicht nur vom Nationalsozialismus schöpferisch ausgeschaltet. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt ihr vom Expressionismus und der sozialen Idee der Neuen Sachlichkeit getragenes Ethos plötzlich als altmodisch, sie wurden von den führenden Meinungsbildnern ignoriert. Tiessens weitschauende Haltung war nicht gefragt:
"Daß die Herrschaft der Harmonik… als konstruktives Prinzip allmählich ausgeschaltet wurde, um der primären Aktivität und vorurteilslosen Eigenbewegung der Stimmen Platz zu machen, ist nicht willkürliches, bewußtes Zurückgreifen auf vorklassische Stile. Als ein natürlicher, notwendiger hat sich dieser Weg dadurch erwiesen, daß er von einer Anzahl heute lebender Komponisten, instinktiv und seiner Konsequenzen noch unbewußt, betreten und unbeirrt weitergeschritten wurde… Schönbergs vielleicht einzigartige konzentrierte Entwicklungsenergie, durch Ausschaltung der Musizierfreude erkauft, hat extraktmäßig knapp den konsequenten Weg zur Krisis geführt… Hier könnte ein Mißverständnis aufkommen: als ob Ausschaltung des Harmonie-Bauprinzips gleichbedeutend wäre mit Ausschaltung des Harmoniegefühls; das wäre unlebendige Abstraktion. Bereits das erste Intervall, mit dem die zweite Stimme der ersten gegenübertritt, ist nicht Zufall, Willkür oder beliebig zu verschieben; es ist unwillkürliche Ausstrahlung eines latenten Harmoniegefühls im weitesten Sinne, eines Intervall-Spannungsgefühls, wie auch bereits der melodische Schritt der Einzelstimme… Es wird mit der Zufallstheorie in der Kunst wohl ebenso bestellt sein wie im Leben: Zufall nennen wir dasjenige, dessen Gesetzmäßigkeit uns noch unbekannt ist. Auch der Umstand, daß selbst in grundsätzlich atonalen Werken hier und dort eine Art Tonzentrum, eine Art Repercussa, ein Gefühl des Auflösens in eine letzte Einheit unverkennbar ist…, erlaubt die Folgerung, daß ein neuer Theoretiker der Zukunft die neue wissenschaftliche Grundlegung des Tonreichs schreiben müsse, die sich jedes anmaßenden Knebelungsversuches enthält, und vor deren umfassender Blickweite die Schlagworte unserer Zeit ´tonalª und ´atonalª als eingleisiger Eigensinn erscheinen werden."
Zu Heinz Tiessens wichtigen Werken seiner zentralen Schaffensphase Anfang der zwanziger Jahre zählt die dreisätzige Totentanz-Suite für Violine und kleines Orchester. Sie hören daraus jetzt den zweiten Satz, mit dem vom Solisten allein vorgetragenen Thema beginnend, welches die Vorschrift 'Ziemlich bewegt, wie aus dem Wehen des Windes tönend" trägt. Die weitere Musik ist sehr einfach, aber voll subtilster Nuancen um dieses Thema herum aufgebaut. Im langsamer zu nehmenden Schlußabschnitt ermattet die melodische Energie allmählich, gleichsam als Vorbereitung zum spukhaft bewegten Walzer-Finale.
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Totentanz-Suite für Violine und kl. Orch. op. 29, 2. Satz
János Negesyi, Radio-Sinfonieorchester Berlin, Rudolf Alberth
SFB-Band AU 91954
Dauer: ca. 3'24
 
Richard Gustav Heinrich Tiessen wurde am 10. April 1887 als Sohn des Assessors und späteren Königlichen Landgerichtsdirektors Dr. Philipp Tiessen in Königsberg geboren. 1905 legte er seine Reifeprüfung ab, um sogleich nach Berlin zu gehen:
"Aus der juristischen Fakultät ließ ich mich nach dem ersten Semester in die philosophische überschreiben… Musik studierte ich von Anfang an und mit Vorrang… Das Gehörserlebnis meiner Symphonie 'Stirb und Werde!' [1911/12] wurde mir zum zwingenden kompositorischen Impuls."
1912 heiratete Tiessen die zwei Jahre ältere Elisabeth Crawack. 1913 wurde in Königsberg unter Paul Scheinpflug seine erste Symphonie in C-Dur op. 15 (1910/11) uraufgeführt. Sie ist Richard Strauss gewidmet, dem Tiessen höchste Begeisterung entgegenbrachte. Von seinem ersten Besuch bei Strauss im März 1914 berichtete Tiessen:
"Am stärksten wirkte auf mich die stolze Bescheidenheit, mit der er über sich selbst sprach… [Sein] Bekenntnis zum Ideal der großen Linie, die nicht erarbeitet, sondern aus sich selbst gewachsen ist…, ist dem Jüngling, der ich war, so tief ins Unterbewußtsein gedrungen, daß es mich durch alle 'Ismen' hindurch geleitet und geschützt hat."
Tiessen überblickte später sein Werk in verschiedenen Schaffensperioden, als deren erste er die Jahre 1911-17 ansah:
"Trotz mancher linearen Freizügigkeiten und Schritten ins Atonale zeigen sie unverkennbar die Tonsprache von Richard Strauss als stilistische Ausgangsstellung."
1917 holte Strauss Tiessen als Korrepetitor an die Königliche Oper Berlin und nahm ihn als Assistenten mit auf seine Mozart-Tournee in die Schweiz.
Die Symphonie in F 'Stirb und Werde!' entstand 1911-12 und wurde 1914 unter Hermann Abendroth auf dem Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musik-Vereins uraufgeführt. Die Gestaltung der Gesamtform ist überaus originell und meisterhaft, harmonisch kühn und stringent, mit bezwingender Dramaturgie der prägnanten Motivik, die bei aller Freiheit nirgends ins Willkürliche ausschweift. Im folgenden kurzen Ausschnitt dirigiert Sergiu Celibidache das Radio-Sinfonieorchester Berlin.
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Ausschnitt aus: 2. Symphonie in F op. 17 'Stirb und Werde!' (Anfang!)
Radio-Sinfonieorchester Berlin, Sergiu Celibidache (live, Berlin, 7.10.1957)
SFB-Band AU 91943/I
 
Tiessens zweite Schaffensperiode darf als seine "expressionistische" gelten:
Ab 1. August 1918 wirkte er als Kapellmeister und Komponist an der Berliner 'Volksbühne', wo er für Inszenierungen der großen Regisseure der Zeit wie Ludwig Berger, Jürgen Fehling oder Max Reinhardt eine große Zahl hochkarätigster Schauspielmusiken schrieb.
"Die Aufgabe, in der Schauspielmusik mit einem Minimum an Mitteln und Zeit ein Maximum an Ausdruck zu erreichen, ließ mich über die gewohnten Klangvorstellungen hinaus eine expressive polyphone Schreibweise gewinnen. Zur 'Atonalität' (grundsätzlichen harmonischen Beziehungslosigkeit) blieb ich trotz klanglicher Annäherungen im Gegensatz; auch die entlegensten Zusammenklänge und ihre Verkettungen schienen mir aus der kadenzierenden Logik als graduelle Erweiterung entwickelbar zu bleiben und gruppierbar um eine Tonika: Ausbalancierung von Spannung und Entspannung ist mir Urgesetz und zeitlos gültig im Wandel der Erscheinungsformen, wie eng oder weit die Spannungsskala eines Stiles oder eines Komponisten auch beschaffen sei.
Im Juni 1921 verließ Tiessen die 'Volksbühne'. Er war zudem 1920-22 Dirigent der 'Akademischen Orchester-Vereinigung an der Universität Berlin', betätigte sich als Mitbegründer der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik und wurde ab Oktober 1925 Kompositionslehrer an der Berliner Musikhochschule.
Die Uraufführung der Musik zu Shakespeares 'Hamlet' fand am 17. Januar 1920 im Großen Schauspielhaus Berlin anläßlich der Inszenierung Max Reinhardts statt. 1922 erweiterte Tiessen die ursprüngliche Musik und richtete sie als Konzert-Suite ein, die ihn ganz nebenbei als einen der großen Theaterkomponisten seiner Zeit ausweist.
"Im Vorspiel tobt der nächtliche Meersturm, in dem man aufheulende Stimmen zu hören glaubt. Es schält sich das Hamlet-Thema heraus, dem verzerrte Klänge von des Königs Zechgelage folgen; darauf jäh emporfahrend das Hamlet-Thema, als spräche es Worte des ersten Monologs: 'O God, O God! How weary, stale, flat, and unprofitable / Seam to me all the uses of this world! / Fye on’t ! an fye ! ’tis an unweeded garden / That grows to seed; things rank and gross in nature / Possess it merely.' Stille. Zart entfaltet sich in der Oboe die Weise des letzten Ophelia-Liedes 'And will he not come again?', leise begleitet vom Hamlet-Thema der Violen, geht unter in neuem Anschwellen des Sturmes, die Klänge des Zechgelages steigern sich zum Gipfel: Mitternacht dröhnt in 12 Tamtamschlägen, grundiert vom Hamlet-Thema. Dann völliges Abklingen."
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Hamlet-Suite op. 30, 1. Satz 'Vorspiel'
Radio-Sinfonieorchester Berlin, Sergiu Celibidache (live, Berlin, 7.10.1957)
SFB-Band AU 91942
Dauer: ca. 6'06
 
Tiessens dritte Schaffensperiode stand vor allem im Dienste der Ideale der Neuen Sachlichkeit, im Zeichen der Arbeiterchorbewegung, wobei, so Tiessen, Arbeiten der expressionistischen Periode unbeirrt weiterliefen.
Während des Dritten Reiches verstummte der Komponist Heinz Tiessen fast völlig. Daß seine zentrale Lebenskrise nicht nur aufgrund der äußeren Umstände eintrat, darüber gibt seine zweite Ehefrau Anneliese Schier-Tiessen später Auskunft:
"Es gehört zu den Phänomenen der menschlichen Seele, daß auch eine so glückliche Verbindung wie die von Heinz und Elisabeth nach 22 Ehejahren in Entfremdung enden konnte.

Ein weiteres, nicht eben seltenes kam dazu: daß ein Mann in der Mitte seines Lebens von einer überwältigenden Leidenschaft heimgesucht wird. So Heinz Tiessen in seiner Neigung zu einem sanften scheuen Mädchen, das jedoch seinen Wunsch nach dauernder Verbindung nicht erfüllen wollte. Wie auf einen Schlag verlor Heinz Tiessen fast alles: 1932/33 Elisabeth durch Scheidung, das sanfte Mädchen durch Trennung, seine künstlerische Existenz durch Hitler. Als 70jähriger gesteht er der Kusine Cläre: 'In 12 einsamen Jahren habe ich unter dem, was ich privat verlor, so zu leiden gehabt, daß ich den Verlust meiner Geltung in der Öffentlichkeit, meiner Werke, Aufführungen, Ehrenämter, Einnahmen, meiner Schaffensfreude und Schaffenskraft innerlich nicht spürte.'"
In den letzten Kriegstagen wurden die Aufführungsmateriale seiner Werke Opfer der alliierten Bomben:
"Die Welt von gestern war zerstoben… Der Zwang, fast alles neu herzustellen, aktivierte… meinen permanenten Verbesserungsfimmel… Das alles zog sich lange hin. Daneben blieb wenig Ruhe und Spannkraft zu neuem Schaffen."
Um den künstlerischen Rang seines Kriegsschülers Sergiu Celibidache wußte Tiessen schon längst, bevor dessen Karriere überhaupt begonnen hatte. Zeugnis davon gibt eine Notiz aus dem Jahr 1944, wo Tiessen als "meine Lieblings-Dirigenten" aufführt: "Celibidache, Furtwängler, früher Strauss und Nikisch", und das ein Jahr vor der ersten öffentlichen Bestätigung… Celibidache dirigierte die Berliner Philharmoniker dann mehrfach in Werken seines Lehrers. Zeit seines Lebens sollte er sich zu der grundsätzlichen Prägung durch Heinz Tiessen bekennen, dem er die entscheidende musikalische Ausrichtung verdankte. 1957 kehrte Celibidache nach Berlin zurück und leitete das Radio-Sinfonieorchester am 7. Oktober in einem Festkonzert zum 70. Geburtstag seines Lehrers mit der Symphonie 'Stirb und Werde!', der 'Hamlet-Suite', der Uraufführung der ihm gewidmeten 'Zwei Orchesterstücke op. 34a nach dem Tanzdrama Salambo' sowie jener Beethoven-Symphonie, die Tiessen am meisten liebte: der Siebenten. Glücklicherweise haben sich die Mitschnitte dieses Konzerts erhalten und gewähren trotz der schlechten Klangqualität Einblick in fesselnde, idiomatische Aufführungen, die wohl auch im besten Sinne als authentisch gelten dürfen. Ob das außergewöhnlich breite Tempo, das Celibidache schon damals im Kopfsatz der Siebenten Beethoven forderte und welches in der Tat einzig die exakten rhythmischen und artikulatorischen Verhältnisse wiederzugeben ermöglicht, auf den Einfluß Tiessens zurückgeht, wird sich heute wohl kaum mehr herausfinden lassen. Es folgt als besonders anschaulicher Ausschnitt die Durchführung dieses Satzes.
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Ausschnitt aus: Ludwig van Beethoven: 7. Symphonie, 1. Satz (Durchführung)
Radio-Sinfonieorchester Berlin, Sergiu Celibidache (live, Berlin, 7.10.1957)
SFB-Band AU 91943/II (6:49-9:49)
 
"Tiessen hatte Zimmer 43, ein Kämmerchen mit einem verachtenswerten Klavier. An dem saß er, versunken, intensiv, fein und still, und demonstrierte die Modulations-Wunder in den großen Werken der Musik, vorzugsweise bei Schubert. Wie erstaunt war ich später zu erfahren, welch revolutionäre, dissonante, ja manchmal brutale Musik dieser feine stille Mensch geschrieben hatte. Ebenso erstaunt allerdings auch, wenn ich ihn als einen Schelm von differenziertem Humor erlebte, der hübsch verpackte Zuckerstücke aus aller Herren Länder sammelte und mustergültige Schlagermusik, überdies Sprachwissenschaftler war, Ornithologe, Botaniker, Astrologe.
Wir Studierenden der Hochschule ahnten damals nichts von dem Schöpfertum Tiessens, der als Komponist ab 1933 totgeschwiegen war, einst zur verbotenen 'Novembergruppe' zählte, registriert als 'Kulturbolschewist'. Der Musikunterricht an der Hochschule endete bei Brahms, allenfalls bei Reger. Inmitten von Bomben und militärischem Gehabe lebten wir ohnehin mit unserer Musik auf einer Insel. Tiessen war uns Mentor, voll von universellem Wissen. Er wirkte in einem Maße 'zivilistisch', das in damaliger Zeit nur verblüffen konnte…
Den Komponisten Tiessen lernte ich eigentlich erst nach unserer Heirat kennen. 1945 wollte man ihn wieder aufführen. Ich studierte seine Klavierwerke, die mein ungeübtes Ohr zunächst ziemlich scheußlich fand… Aber ich war überzeugt, ein so aufrichtiger Mensch wie Tiessen müsse auch beim Komponieren aufrichtig sein, so übte ich eben…
In seinem Modulations-Unterricht konnte man ein Gefühl für die musikalischen Entfernungen und ihre natürlichen Gesetzmäßigkeiten erwerben. Später begriff ich, daß Heinz Tiessen sich in jede 'Form, die lebend sich entwickelt', hineinversetzte und sie nach ihrem eigenen Gesetz behandelte. Deshalb wurden auch seine Kompositionsschüler keine Tiessen-Abklatsche, er half ihnen, die eigene Persönlichkeit zu finden…
Für meine Arbeiten nutzte ich die Tagstunden, er dagegen wurde in späteren Jahren immer mehr zum Nachtvogel, so daß er ein Zitat aus seiner Studentenzeit wieder zutreffend fand: man steht auf, frühstückt und hat gerade noch Zeit, ins Theater zu gehen."
1961 schuf Heinz Tiessen für seine Frau, die vortreffliche Pianistin Anneliese Schier-Tiessen, eines seiner grazilsten und jugendlichsten Werke: die 'Konzertanten Variationen über eine eigene Tanzmelodie' für Klavier und Orchester:
"Ja ist es denn überhaupt statthaft, daß ein Vierundsiebzigjähriger sich so lebensfreudig in bunter Vielfalt gibt, wie es in der Musik außerhalb des Theaters nur eine Variationenreihe ermöglicht? Wäre nicht längst ein 'Altersstil' fällig, ein Requiem oder eine Art Parsifal?"
Tiessens letzte Lebensjahre wurden dann doch noch von schmerzvoller Krankheit belastet. Er starb, als Komponist vergessen, am 20. November 1971 in seiner Berliner Wahlheimat. Aus dem bunten Reigen seiner 'Konzertanten Variationen' op. 60 folgen nun: Introduzione (Andante; Allegro) und Alla tirolese. Anneliese Schier-Tiessen wird begleitet vom Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter Manfred Reiter. Tiessens lebenslange Passion für den Amselgesang geht hier eine höchst launige Verbindung mit Zwölftonmelos und stilisierten Genre-Exkursen ein.
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Ausschnitt aus 'Konzertante Variationen' op. 60 (Anfang)
Anneliese Schier-Tiessen, Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, Manfred Reiter
SWR-Band AU 93364
 
Heinz Tiessen trieb die von Strauss und Reger angestoßenen, von Schönberg expressionistisch im seelisch-Gestischen übersteigerten freitonalen Errungenschaften weiter. Er spürte den darin verborgenen, "ewigen Gesetzen" nach und ermöglichte so – im Gegensatz zur zwölftönigen Patentmethode – den unwillkürlichen, aus sich selbst funktionierenden Bau großer Formen auf der Grundlage einer Befreiung von den dur-moll-tonalen Konventionen – die von ihm angestrebte "Einheit von Gehalt und Gestalt". Sein Schüler Eduard Erdmann folgte ihm darin nach und übertrug diese Schaffensprinzipien in seinem eigenen Stil auf die Gattung der Symphonie.
Im Tanzdrama 'Salambo' und dem kurz zuvor, im September 1920, komponierten Streichquintett op. 32 kann man die Höhepunkte von Heinz Tiessens Schaffen erblicken. Die expressive Polyphonie, die Vorherrschaft des linearen Triebs, schafft ein Maximum an melischer Spannung und grell dissonanter, dabei immer profund ausgehörter harmonischer Explosivität, getaucht ins vielfältige Licht dramaturgisch klar geführter Orchesterfarben. Die Dominanz des polyphonen Prinzips führt jedoch nie dazu, daß – wie bei vielen seiner fortschrittstrunkenen Zeitgenossen und Nachfolger – die harmonische Fortschreitung ins Zufällige, Willkürliche oder schlicht Unwesentliche abtriebe. Zufall nennen wir eben, so Tiessen, "dasjenige, dessen Gesetzmäßigkeit uns noch unbekannt ist". Dazu paßt seine Neigung zur Astrologie, worüber Stuckenschmidt zu berichten wußte: "Mit seinen Horoskopen hat Tiessen oft Ratschläge gegeben, die sich als überraschend richtig erwiesen. So riet er 1928 dem Bratschisten und Dirigenten Emil Bohnke von einer geplanten Autoreise dringend ab. Dieser fuhr trotzdem und verunglückte tödlich." Auch die extremsten harmonischen Entfernungen, die dem ungeübten Ohr quasi atonal, also bezugslos, erscheinen mögen, sind in freitonaler, an keine Lehrkonvention gebundener Weise mit dem Ausgangs- und Zielpunkt unauflöslich verkettet und lassen so die Gesamtform als vom Komponisten erlebten und demzufolge für den Hörer erlebbaren, eindeutigen prozeßualen Zusammenhang fast körperhaft mächtige Gestalt annehmen, so im zweiten Teil der Suite nach dem Tanzdrama 'Salambo', den wir abschließend aus jenem Berliner Konzert von 1957 unter Celibidache hören, worüber Stuckenschmidt meinte: "Tanz und Todestanz Salambos, Triumphtanz Mathos, die lyrischen Klagen des Adagios, der Trauermarsch – das ist Musik aus starker, unbeirrter Eingebung, von vegetativen Kräften der Polyphonie genährt, unverbraucht im Klang und in der dissonanten Harmonik, immer wesentlich und oft von heftigem Temperament getragen."
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Zwei Orchesterstücke nach dem Tanzdrama 'Salambo' op. 34a, 2. Satz
Radio-Sinfonieorchester Berlin, Sergiu Celibidache (live, Berlin, 7.10.1957
SFB-Band AU 91942
Dauer: ca. 9'57
 
 
Sendemanuskript für BR 2 (Redaktion: Wilfried Hiller)
Produktion: 13.9.2000
Erstsendung: 19.9.2000, "Musik unserer Zeit"
Sprecher: Friedrich Schloffer, Silvia De Crescenzo, Autor– Christoph Schlüren im September 2000 –