"Das Schaffen erst schafft die
Form, jedesmal aufs neue. Form steht nicht am Anfang, sondern immer
wieder erst am Ende der Arbeit. (In einer süddeutschen Fachzeitschrift
schrieb ich im Winter 1913/14: "Form ist nicht eine leere Hülle,
die vor dem Inhalt bestände. Form ist Gestaltungs-Ergebnis.")
Vorher ist Ahnung des seelischen Gehalts (des Charakters der strömenden
Kraftquellen), Ahnung eines bildnerischen Vorganges, der aus pulsierenden
Kräften mit traumwandlerischer Selbstverständlichkeit
sich zu einer organischen Form emporentwickelt. Auch mit dem Verstande
pflegt und fördert der Künstler sein wachsendes Werk,
so wie der Gärtner dem Pfirsichbäumchen dazu verhilft,
das zu werden, was es von sich aus werden muß. Wachsen
kann es nur von selbst, aus Keimen und Kraftquellen, denen wir weder
mit unserem Willen noch mit unserem lehrbaren Wissen nahekommen,
einzig mit jener unmittelbaren, gleichsam religiösen Empfindung,
dem schöpferischen Instinkt: der 'Phantasie'. Die bewußte
Geistesarbeit soll weder über- noch unterschätzt werden;
naivste, unwillkürlichste Regungen gehen im Künstler oft
mit der bewußtesten, ja raffiniertesten Arbeitsweise und Denktätigkeit
ein Bündnis ein, das bei einem und demselben Individuum
den Laien wundernehmen darf.
das Kunstwerk hat von sich aus seine eigene Seele: sein innerer
Gehalt ist nur der, der von der Kunst erzeugt und selbstverdient
ist. (Man weiß, daß ein guter Tanz besser und gehaltvoller
ist als ein schlechter Psalm.) Nur durch die spezifische Qualität
des Einfalls und der Gestaltung wird der Wert erzeugt: die Bedeutsamkeit
des Vorwurfs ist für die Leistung des Schaffenden kein Guthaben,
sondern erhöhte Anforderung. (Auch dieses weiß man, läßt
sich aber oft vom Sujet täuschen.)
Wer in seinen Denkvorgängen (vielleicht aus Mode) einer
rein artistischen Gesinnung huldigt und sich von Erlebnissen und
Ausdrucksabsichten unbeeinflußt wähnt, kann gleichwohl
seine Vorgeschichte und Entwicklung nicht verleugnen und vielleicht
auch aus einer Menschlichkeit schöpfen, die unbewußt,
unwillkürlich aus ihm wirkt und den ebenso engen wie hochmütigen
'Atelierstandpunkt' seines Verstandes überragt. (Der umgekehrte
Fall, daß jemand Tiefstes zu geben glaubt, der nur Triviales
gibt, ist natürlich der häufigere, da Nichtkönnen
häufiger vorkommt als Können; praktisch liegt hierin die
Hauptrechtfertigung rein artistischer Kunst.)
Seist du Komponist, Interpret oder Hörer: nicht nur der
Gehalt, auch die Gestalt, der organische Bau eines Kunstwerks muß
dir zu einem unmittelbar erfühlten Erlebnis werden; genau wie
die Betrachtung eines Naturorganismus, etwa eines Baumes, den du
mit nahezu physischer! schöpferischer Einfühlung
förmlich aus seiner Wurzel in den Stamm aufsteigen und in Zweige
und Blüten treiben spürst!
Wenn man sich den Vorgang des Schaffens in all seinen Komponenten
und Gegensätzen überlegt, scheint er tausendfältig
kompliziert und unentwirrbar; wenn man schafft, ist alles einfach,
selbstverständlich, einheitlich."
Heinz Tiessen, 1928 (in 'Zur Geschichte der jüngsten Musik')
Freigeist im Abseits
Warum kennt heute fast niemand die Musik Heinz Tiessens? Die Geschichtsschreibung
und ihre praktischen Folgen sind oft genug kaum rational nachvollziehbar.
In den zwanziger Jahren war Tiessen weithin anerkannt als einer
der führenden und eigentümlichsten jungen deutschen Komponisten.
Das will etwas bedeuten, denn die Zeit des reifen Expressionismus
und der aufblühenden Neuen Sachlichkeit vor der Konstituierung
des alles auslöschenden Dritten Reichs war gerade im deutschen
Sprachraum eine Periode von einer solchen Fülle, Breite und
Aktualität des Schöpferischen, wie dies seither nicht
mehr in Reichweite kam. Man hatte sich scheinbar endgültig
von den Fesseln des dogmatisch Reaktionären befreit, erschloß
Neuland und glaubte unverbrüchlich, dies allen dafür offenen
Menschen zugänglich machen zu können. Heinz Tiessen war
eine der stärksten und geachtetsten Persönlichkeiten,
die diesen neuen Geist verkörperten. Während heute Schönberg,
Bartók, Strawinskij, Hindemith, Berg und Webern (um nur einige
zu nennen) als "Klassiker der Moderne" durchgesetzt sind,
auch dem zu jener Zeit vielerorten neben Schönberg als wichtigstem
Bannerträger "neuer Musik" angesehenen Ernst Krenek
immer wieder angemessene Wertschätzung zuteil wird, ist Tiessen
ähnlich wie der unlängst wiederentdeckte Philipp
Jarnach und sein Freund Paul Höffer schon lange von
der Bildfläche verschwunden. Und, gleich ihm, sein Kompositionsschüler
Eduard Erdmann, der vier Symphonien schuf, die zu den essentiellsten
Gattungsbeiträgen des 20. Jahrhunderts zählen, der aber
nur noch als einer der großartigsten Pianisten seiner Zeit
in Erinnerung ist. Diese großen Komponisten wurden nicht nur
vom Nationalsozialismus schöpferisch ausgeschaltet. Nach dem
Zweiten Weltkrieg galt ihr vom Expressionismus und der sozialen
Idee der Neuen Sachlichkeit getragenes Ethos plötzlich als
altmodisch, ihre freitonale und eben nicht atonale dem Diktat
von Dodekaphonie und daraus hervorgehendem Serialismus, dem reglementierenden,
dogmatischen Systemwahn abholde , mithin freigeistige Haltung
wurde ins Abseits gestellt, von den führenden Meinungsbildnern
als unzeitgemäß ignoriert; freilich nicht von allen,
und Hans Heinz Stuckenschmidt hielt Tiessen die Treue.
In dem 1979 in der Schriftenreihe der Berliner Akademie der Künste
erschienenen Band 'Für Heinz Tiessen' schrieb Stuckenschmidt:
"Tiessens Werk spiegelte die Entwicklung der deutschen Musik
von der Jahrhundertwende bis zum Expressionismus der Zeit zwischen
den Weltkriegen. Er hat seit der 'Naturtrilogie (die Eduard Erdmann
unvergeßlich spielte), dem Amsel-Septett von 1915 (dessen
für Orchester gesetztes Finale Wilhelm Furtwängler 1918
uraufführte) und der Duo-Sonate für Violine und Klavier
1925 die Krise der Tonalität ebenso individuell verkörpert
wie eine harmonisch freie lineare Polyphonie. Unermüdlicher
Beobachter und Sammler von Vogelrufen, eine Generation vor Olivier
Messiaen, ließ er sich durch Amselmelodien zu Liedern anregen,
die wiederum auf seine Kammer- und Orchestermusik zurückwirkten.
Exotische moderne Tänze aus dem Jazz- und Tangobereich haben
ihn vielfach beeinflußt und zu eigener Erfindung in ihrem
Genre inspiriert. Als Autor von Büchern wie als Lehrer wirkte
er lebenslang im Dienste einer technisch und geistig fundierten
Erneuerung der Überlieferungen.
1925 wohnte er in einem modernen Friedenauer Hausblock der Wiesbadener
Straße dicht beim Südwestkorso, den Künstler und
Intellektuelle bevorzugten. Sein Arbeitszimmer war eine Fundgrube
für seltene Bücher, Zeitschriften, Musikalien und Schallplatten.
Tiessen hob, darin Schönberg ähnlich, alles auf, was ihm
interessant schien, von Konzert- und Opernprogrammen bis zu Zeitungsausschnitten.
Der größte Teil dieser seiner Sammlungen hat sich über
zwei Weltkriege erhalten
In demselben Haus hatte Stefan Wolpe
eine kleine Wohnung
Tiessen schätzte und förderte
ihn sehr
In seiner Wohnung lernte ich den jungen Jascha Horenstein kennen,
der den Schubertchor und andere Arbeiterchöre leitete. Er stand
kurz vor einer Aufführung der Neunten Symphonie von Beethoven
und holte sich bei dem älteren und erfahreneren Tiessen Rat
für die schwere Aufgabe. Einen selbstloseren Kollegen als diesen
konnte man sich nicht denken
Hitlers Nationalsozialismus stand Tiessen so ablehnend gegenüber
wie ich. Wir trafen uns 1933 und 1934 oft zusammen mit Karl Jakob
Hirsch und berieten die Lage, die Tiessen pessimistisch beurteilte.
Er zeigte allen Versuchen, ihn als ostpreußischen Heimatkünstler
zu propagieren, die kalte Schulter. Aus der Sicht der Nazis scheint
es mir bezeichnend für die völlige Absurdität der
sogenannten nationalsozialistischen Kulturpolitik, daß sie
wie bei Paul Hindemith und Anton von Webern ihr Mütchen
an einem Manne kühlten, der die markantesten und besten Eigenschaften
des Deutschen verkörpert. Gerade Tiessens radikale Werke, aber
auch seine volksliednahen Arbeiterchöre, sind Musik im Geiste
der deutschen Mehrstimmigkeit, der großen Tradition verpflichtet,
die von den Niederländischen Polyphonisten über Johann
Sebastian Bach, die Wiener Klassiker und die deutschen Romantiker
zu Strauss, Reger und Schönberg führt.
Als ich, seit 1934 mit Schreibverbot belegt, Deutschland 1937 verließ
und nach Prag ging, verloren wir allmählich den Kontakt. Erst
1946, als ich nach Berlin zurückkam, lebte die alte Freundschaft
mit Tiessen wieder auf. 1944 hatte er die junge Pianistin Anneliese
Schier geheiratet. Er wurde Mitarbeiter der von Josef Rufer und
mir herausgegebenen Monatsschrift 'Stimmen', wo eine Arbeit Zwei
Streitfragen der Musiktheorie von ihm erschien. 1946 hatte man ihn
zum Direktor des Konservatoriums der Stadt Berlin gemacht. Am 8.
April 1947 erschien in der 'Neuen Zeitung' mein Aufsatz zu seinem
sechzigsten Geburtstag, zwei Tage zu früh. Ich wies da auf
viele Seiten seines erstaunlich vielseitigen Wissens hin, nicht
aber auf eine, die ihn seit langem beherrschte: die Neigung zur
Astrologie. Mit seinen Horoskopen hat Tiessen oft Ratschläge
gegeben, die sich als überraschend richtig erwiesen. So riet
er 1928 dem Bratschisten und Dirigenten Emil Bohnke von einer geplanten
Autoreise dringend ab. Dieser fuhr trotzdem und verunglückte
tödlich."
Von Strauss ausgehender Neutöner
Richard Gustav Heinrich Tiessen wurde am 10. April 1887 als Sohn
des Assessors und späteren Königlichen Landgerichtsdirektors
Dr. Philipp Tiessen in Königsberg geboren. Fünfjährig
kam er nach Bartenstein, und 1905 legte er seine Reifeprüfung
am Humanistischen Gymnasium in Allenstein ab, um sogleich, auf Wunsch
des Vaters zum Jura-Studium, nach Berlin zu gehen: "Aus der
juristischen Fakultät ließ ich mich nach dem ersten Semester
in die philosophische überschreiben. Mein Vater war verständnisvoll
und großzügig, und obgleich meine Mutter der phantasievolle
Elternteil war schon vor meiner Schulzeit war ich ihr Liedbegleiter
, hat mein Vater mir nie etwas in den Weg gelegt, hat alles
für mich getan und mir mehr vertraut als den Königsberger
Musikpäpsten, die mit uns im Familienverkehr
das Künstlertum jedes Jünglings von vornherein in Abrede
stellten, der sich nicht auf die Tonsprache des allgemeingültigen
Brahms festzulegen verpflichtete. Schon Wagner war für sie
Missetat und Weg in den Abgrund; die Ampel für das 'Jahrhundert
des Kindes' stand dort noch hartnäckig auf Rot. Übrigens
bin ich nicht, wie man vielfach lesen kann, von der Jurisprudenz
zur Musik übergewechselt, sondern zur Philosophie. (Musik studierte
ich von Anfang an und mit Vorrang!) Gelegentlich hörte ich
auch musikalische und literarische Vorlesungen, regelmäßig
und fasziniert aber nur den Philosophen Georg Simmel, ob er nun
über Grundprobleme, über Logik oder für mich
am reizvollsten über Kunstphilosophie sprach
Das
Gehörserlebnis meiner Symphonie 'Stirb und Werde!' [1911/12]
wurde mir zum zwingenden kompositorischen Impuls."
1912 heiratete Tiessen die zwei Jahre ältere Elisabeth Crawack.
1913 wurde in Königsberg unter Paul Scheinpflug seine erste
Symphonie in C-Dur op. 15 (1910/11) uraufgeführt. Sie ist Richard
Strauss gewidmet, dem Tiessen nicht nur als revolutionärem
Komponisten, sondern auch als hinreißendem Dirigenten der
Klassiker höchste Begeisterung entgegenbrachte. Von seinem
ersten Besuch bei Strauss im März 1914 berichtete Tiessen:
"Am stärksten wirkte auf mich die stolze Bescheidenheit,
mit der er über sich selbst sprach: 'Das Ideal, die große,
aus sich strömende Melodie Mozart hatte sie, auch Wagner.
Ich habe sie nicht. Meist fallen einem vier Takte ein, bestenfalls
sechs bis acht dann fängt das Komponieren
an!' Dieses Bekenntnis zum Ideal der großen Linie, die nicht
erarbeitet, sondern aus sich selbst gewachsen ist, in dieser Weise
formuliert, ist dem Jüngling, der ich war, so tief ins Unterbewußtsein
gedrungen, daß es mich durch alle 'Ismen' hindurch geleitet
und geschützt hat."
Tiessen überblickte später sein Werk in verschiedenen
Schaffensperioden, als deren erste erste er die Jahre 1911-17 ansah,
"in denen außer Liedern drei größere Werke
entstanden: die Symphonie 'Stirb und Werde!' op. 17, die Natur-Trilogie
für Klavier op. 18 (1913) und das Amsel-Septett op. 20 (1914/15)
Werke, die heute unproblematisch, melodisch, harmonisch und
keineswegs kakophonisch wirken, während sie vor vierzig Jahren
der konservativen Fachwelt, die der Musik von Reger und Strauss
meist nur mit Mühe folgte, als 'Neutönermusik' erschienen.
Trotz mancher linearen Freizügigkeiten und Schritten ins Atonale
zeigen sie unverkennbar die Tonsprache von Richard Strauss als stilistische
Ausgangsstellung; kein Wunder, habe ich doch aus seinen Werken vom
Don Juan bis zur Ariadne und aus seinen weisen und bescheidenen
Worten am meisten gelernt." Während dieser Jahre war Tiessen
auch Mitarbeiter der von Paul Schwers geleiteten 'Allgemeinen Musik-Zeitung',
wo er beispielsweise 1913 eine Lanze für Rudi Stephans 'Musik
für Orchester' brach: "Es ergab sich ein längerer
Briefwechsel zwischen Stephan und mir; er widmete mir ein Lied,
das ich für sein schönstes halte." 1917 holte Strauss
Tiessen als Korrepetitor an die Königliche Oper Berlin und
nahm ihn als Assistenten mit auf seine Mozart-Tournee in die Schweiz.
Expressionistischer Personalstil
Tiessens zweite Schaffensperiode darf als seine "expressionistische"
gelten. Tiessen dazu 1948 in seinem 'Selbstzeugnis des Künstlers'
in der Zeitschrift 'Musica': "Zum 1. August 1918 ging ich als
Kapellmeister und Komponist von Schauspielmusik an die 'Volksbühne',
die für die neue Direktion Friedrich Kayßler neue Kräfte
suchte. In den Jahren 1918 bis 1921 schrieb ich für die Volksbühne
u. a. Musik zu 'Merlin' von Karl Immermann (Regie Ludwig Berger),
'Die armseligen Besenbinder' von Carl Hauptmann (Regie Paul Legband),
'Das Postamt' von Rabindranath Tagore, 'Antigone' von Sophokles,
'Masse Mensch' von Ernst Toller (die drei letzten mit Jürgen
Fehling als Regisseur). Auch andere Bühnen wandten sich an
mich; es entstand die Musik zu Shakespeares 'Hamlet' (für Max
Reinhardt im Großen Schauspielhause), zu Shakespeares 'Cymbelin'
(Berger im Deutschen Theater), zu Strindbergs 'Advent' (Berger in
den Kammerspielen), zu Shakespeares 'Sturm' (Berger im Staatstheater),
und später 1924 zu Hanns Brauns 'Abenteuer in Moll' (Darmstadt),
1925 zu Grabbes 'Don Juan und Faust' (für Viktor Barnowsky
im Theater in der Stresemannstraße), 1928 zu Shakespeare(?)-Kamnitzers
'Der Londoner verlorene Sohn' (Staatl. Schillertheater) und zuletzt
1934 zu Carl Hauptmanns 'Musik' im Staatstheater (Regie Fehling).
Meine stilistische Wandlung in den Jahren 1918 bis 1921 wurde Grundlage
für die Arbeiten meiner zweiten Schaffensperiode (op. 29 bis
37). Die Aufgabe, in der Schauspielmusik mit einem Minimum an Mitteln
und Zeit ein Maximum an Ausdruck zu erreichen, ließ mich über
die gewohnten Klangvorstellungen hinaus eine expressive polyphone
Schreibweise gewinnen. Zur 'Atonalität' (grundsätzlichen
harmonischen Beziehungslosigkeit) blieb ich trotz klanglicher Annäherungen
im Gegensatz; auch die entlegensten Zusammenklänge und ihre
Verkettungen schienen mir aus der kadenzierenden Logik als graduelle
Erweiterung entwickelbar zu bleiben und gruppierbar um eine Tonika:
Ausbalancierung von Spannung und Entspannung ist mir Urgesetz und
zeitlos gültig im Wandel der Erscheinungsformen, wie eng oder
weit die Spannungsskala eines Stiles oder eines Komponisten auch
beschaffen sei.
Juni 1921 verließ ich die 'Volksbühne', da die fortdauernde
Kleinarbeit einem Schaffen größeren Maßstabes im
Wege stand. Die wichtigeren Einfälle meiner Schauspielmusik
verwertete ich für musikalische Formen im Rahmen von vier neuen
Werken: Op. 29 'Totentanz-Suite' für Violine und Orchester
(Uraufführung durch Therese Petzko-Schubert) mit Themen aus
'Cymbelin' und 'Sturm' (Satz I), 'Armselige Besenbinder' (Satz II),
'Don Juan und Faust' (Satz III); Op. 30 'Hamlet-Suite' für
Orchester; Op. 32 Streichquintett mit Entwürfen aus 'Postamt'
(Satz II) und 'Cymbelin' (Partien der Ecksätze), Uraufführung
1924 Havemann-Quartett; Op. 33 'Vorspiel zu einem Revolutionsdrama'
für Orchester nach der Musik zu 'Masse Mensch'
Des weiteren
entstanden 'Drei Klavierstücke' op. 31 (sensationelle Uraufführung
in Madrid 1923 durch Eduard Erdmann), sodann das Tanzdrama 'Salambo'
op. 34
Es folgte als Op. 35 die 'Duo-Sonate' für Violine
und Pianoforte. Sie kam zur Uraufführung durch Georg Kulenkampff
und Johannes Strauss 1925 auf dem Tonkünstlerfest in Kiel
Dieses Duo stellt in Einfall und Form, Stil und Temperament die
Abrundung meiner zweiten Schaffensperiode dar und zog meine Berufung
als Kompositionslehrer an die 'Staatliche Akademische Hochschule
für Musik' zum 1. Oktober 1925 nach sich." Tiessens bedeutendste
Kompositionsschüler waren (vor seiner Berufung) Eduard Erdmann
und ab 1938 bis zum Kriegsende Sergiu Celibidache.
Tiessen wirkte außerdem 1920-22 als Dirigent der 'Akademischen
Orchester-Vereinigung an der Universität Berlin, wo er durchaus
Werke wie Brahms Vierte Symphonie oder Strauss 'Bürger
als Edelmann'-Suite leitete und auf einer Schweden-Tournee der Konzertmeister,
der später berühmte Dirigent Hans Schmidt-Isserstedt,
Tiessens 'Totentanz-Melodie' spielte. Auch betätigte er sich
als Mitbegründer der IGNM (Internationale Gesellschaft für
Neue Musik), wo er mit Edgard Varèse zusammentraf.
Balancierung der Lebenstendenzen
Tiessens dritte Schaffensperiode stand vor allem im Dienste der
Ideale der Neuen Sachlichkeit, im Zeichen der Arbeiterchorbewegung.
Wie kam es dazu? "Meine Theaterjahre nach dem Ende des Ersten
Weltkrieges hatten mir, wie für anderes, auch den Anstoß
gegeben, Musik für Laien zu schreiben. Für Fehlings Inszenierung
von Tollers 'Masse Mensch' in der Volksbühne sollte die 'Internationale'
als Chor erklingen. Wegen ihrer musikalischen Spießbürgerlichkeit
ersetzte ich sie durch die strahlend kühne 'Marseillaise'.
Später unterlegte ich meinem Chorsatz den Text von Freiligrath
und trat in Verbindung mit dem Deutschen Arbeiter-Sängerbund
Das wurde der natürliche Ansatz für die Chorkomposition,
meine 'dritte Schaffensperiode', die freilich nur zur Hälfte
diesen Namen verdient, weil Arbeiten der 'zweiten' unbeirrt weiterliefen.
Die neue Aufgabe sah ich darin, von meiner Linie aus eine Brücke
zum Gemeinschaftsgedanken zu bauen, satztechnisch wie geistig in
einer auch dem Laien zugänglichen Haltung, wobei mir die Arbeit
mit meinem Chor [junger sozialistischer Arbeiter und Angestellter]
den gemischten a-cappella-Satz als nächstliegendes Ausdrucksmittel
bot. Ein umfangreiches Ergebnis dieser Phase war der halbabendfüllende
'Aufmarsch' (Max Barthel) für Chor, Blasorchester und Sprecher;
seine Uraufführung fand am 4. 10. 1931 in der Berliner Volksbühne
statt (Dirigent: Georg Oskar Schumann) und wurde von sechs Rundfunksendern
übertragen. In den beiden Wintern bis zu Hitlers Machtübernahme
erlebte das Werk insgesamt zehn Aufführungen
Ich empfand
eine Art sozialer Verpflichtung gegenüber der Musikkultur,
deren Januskopf mir klar wurde: Kein Einzelprinzip vermag auf die
Dauer allein aus eigener Kraft das Leben auf seinen Schultern zu
tragen gleich dem 'unglückseligen Atlas' und das Gegenprinzip
entbehrlich zu machen. 'Sage nicht: entweder oder, sondern:
sowohl als auch!' Dieses Strindberg-Wort aus 'Nach Damaskus'
weist auch den Ausweg aus der Sackgasse der Einseitigkeiten, die
heute bereits Bestandteile der Politik geworden sind: ob Musik Form
oder Inhalt, Bau oder Ausdruck sei; ebenso stehen einander gegenüber
Verbundenheit mit dem Volke und freies persönliches Vorstoßes
des Geistes in neue Regionen und keines vermag das andere
zu eliminieren. Leben beruht auf Ausbalancierung. Im Pendelgesetz
besitzen wir auch auf der geistigen Ebene die in jede Entwicklung
eingebaute Sicherung zur Erhaltung des Lebens, des tragfähigen
Gleichgewichts im Geisteshaushalt. Avantgardistische und retrograde
Strömungen lösen einander ab sogar im Schaffen
des gleichen Künstlers. Georg Simmels 'Balancierung der Lebenstendenzen'
gilt in jedem Bezuge." (Heinz Tiessen in 'Wege eines Komponisten',
1962)
Alles verloren
Während des Dritten Reiches verstummte der Komponist Heinz
Tiessen fast völlig. Zweifellos war seine Musik unerwünscht,
der Leiter eines sozialistischen Arbeiterchores ähnlich dem
konservativeren Dresdner Paul Büttner verachtet und verhaßt.
Daß seine zentrale Lebenskrise nicht nur aufgrund der äußeren
Umstände eintrat, darüber gibt seine zweite Ehefrau Anneliese
Schier-Tiessen später Auskunft: "Es gehört zu den
Phänomenen der menschlichen Seele, daß auch eine so glückliche
Verbindung wie die von Heinz und Elisabeth nach 22 Ehejahren in
Entfremdung enden konnte. Ein weiteres, nicht eben seltenes kam
dazu: daß ein Mann in der Mitte seines Lebens von einer überwältigenden
Leidenschaft heimgesucht wird. So Heinz Tiessen in seiner Neigung
zu einem sanften scheuen Mädchen, das jedoch seinen Wunsch
nach dauernder Verbindung nicht erfüllen wollte. Wie auf einen
Schlag verlor Heinz Tiessen fast alles: 1932/33 Elisabeth durch
Scheidung, das sanfte Mädchen durch Trennung, seine künstlerische
Existenz durch Hitler. Als 70jähriger gesteht er der Kusine
Cläre: 'In 12 einsamen Jahren habe ich unter dem, was ich privat
verlor, so zu leiden gehabt, daß ich den Verlust meiner Geltung
in der Öffentlichkeit, meiner Werke, Aufführungen, Ehrenämter,
Einnahmen, meiner Schaffensfreude und Schaffenskraft innerlich nicht
spürte.'"
In den letzten Kriegstagen wurden die Aufführungsmateriale
seiner Orchesterwerke, Klaviermusik und Chöre Opfer der alliierten
Bomben: "Die Welt von gestern war zerstoben, für die neue
Menschheit außerhalb Berlins konnte ich kein Begriff sein,
eine ganze Generation der Musikwissenschaft hatte keine Gelegenheit,
mich wesentlich zur Kenntnis zu nehmen.
nachträglich
aber erkenne ich im Brandopfer meines Aufführungsmaterials
einen Segen für das Werk: Der Zwang, fast alles neu herzustellen,
aktivierte, besonders bei den älteren op. 17, 18, 20, meinen
permanenten Verbesserungsfimmel ein Berufsgebrest! ;
und wenn auch meist nur Kleinigkeiten auszufeilen waren, das Gesamtbild
zeigt sich heute geschliffener als zuvor. Zudem mußte mein
komplexestes, expansivstes Werk, die revidierte Neufassung der 'Salambo',
in Partitur und Klavierauszug vorliegen, desgleichen die 'Musik
für Streichorchester' op. 32a, die Orchesterfassung des Streichquintetts.
Das alles zog sich lange hin. Daneben blieb wenig Ruhe und Spannkraft
zu neuem Schaffen, es entstanden nur ein paar Chöre sowie weitere
Sololieder nach Heine, Julius Bab und dem Sänger frühlingsbegeisterter
Amselpoesie: Max Dauthendey."
Ist es denn überhaupt statthaft?
Als am 31. August 1949 sein Freund Paul Höffer unerwartet starb,
lehnte es Tiessen ab, seine Nachfolge als Direktor der Berliner
Musikhochschule anzutreten. Jedoch als im Herbst 1955 Kultursenator
Joachim Tiburtius die 'Akademie der Künste' restituierte, wurde
Tiessen zum Direktor der Musikabteilung ernannt. Um die überragende
Bedeutung seines Schülers Sergiu Celibidache wußte Tiessen
schon längst, bevor dessen Karriere überhaupt begonnen
hatte. Zeugnis davon gibt eine Notiz aus dem Jahr 1944, wo Tiessen
als "meine Lieblings-Dirigenten" aufführt:
"Celibidache, Furtwängler,
früher Strauss und Nikisch". Fürwahr prophetische
Einsicht, ein Jahr vor der öffentlichen Bestätigung
Celibidache dirigierte die Berliner Philharmoniker dann im 'Vorspiel
zu einem Revolutionsdrama' sowie 1954 in seinem letzten Auftritt
mit diesem Orchester, mit Konzertmeister Siegfried Borries als Solisten,
die Uraufführung der 'Visionen' betitelten Neufassung der 'Totentanz-Suite'
für Geige und kleines Orchester. Zeit seines Lebens sollte
sich Celibidache zu der grundsätzlichen Prägung durch
Heinz Tiessen bekennen, dem er die entscheidende Ausrichtung verdankte,
was seine Lehre von der "Phänomenologie der Musik"
und überhaupt seinen musikalischen Zugang betraf. 1957 kehrte
Celibidache nach Berlin zurück und leitete das Radio-Sinfonieorchester
am 7. Oktober in einem Festkonzert zum 70. Geburtstag seines Lehrers
mit der Symphonie 'Stirb und Werde!', der 'Hamlet-Suite', der Uraufführung
der ihm gewidmeten 'Zwei Orchesterstücke op. 34a nach dem Tanzdrama
Salambo' sowie jener Beethoven-Symphonie, die Tiessen am meisten
liebte: der Siebenten. Glücklicherweise haben sich die Mitschnitte
dieses Konzerts erhalten und gewähren trotz der schlechten
Klangqualität Einblick in fesselnde, idiomatische Aufführungen,
die wohl auch im besten Sinne als authentisch gelten dürfen.
Celibidache hat die Salambo-Suite dann auch noch in Italien dirigiert,
doch in der Folgezeit wurde es still um diese Werke. 1961 schuf
Tiessen noch eines seiner inspiriertesten, ambitioniertesten und
zugleich humorvollsten, grazilsten und jugendlichsten Werke: die
'Konzertanten Variationen über eine eigene Tanzmelodie' op.
60 für Klavier und Orchester, natürlich für seine
Frau, die vortreffliche Pianistin Anneliese Schier-Tiessen: "Endlich
wieder ein größeres Werk; es meldete sich überraschend
und wuchs heran ohne vorherige Planung, während der Arbeit
waren die Einfälle und verschiedenen Teile einfach da. Ja ist
es denn überhaupt statthaft, daß ein Vierundsiebzigjähriger
sich so lebensfreudig in bunter Vielfalt gibt, wie es in der Musik
außerhalb des Theaters nur eine Variationenreihe ermöglicht?
Wäre nicht längst ein 'Altersstil' fällig, ein Requiem
oder eine Art Parsifal?" Soweit Heinz Tiessen, dessen letzte
Lebensjahre dann doch noch von schmerzvoller Krankheit belastet
wurden. Er starb, als Komponist vergessen, am 20. November 1971
in seiner Berliner Wahlheimat.
2. Symphonie op. 17 'Stirb und Werde!' (1911/12)
Die Symphonie in F 'Stirb und Werde!' entstand zwischen dem 14.
Juni 1911 und dem 17. Oktober 1912 und wurde am 22. Mai 1914 unter
Hermann Abendroth in Essen auf dem Tonkünstlerfest des ADMV
(Allgemeiner Deutscher Musik-Verein) uraufgeführt. Die etwas
gestraffte zweite Fassung gelangte am 18. Januar 1922 unter Hermann
Scherchen in Berlin zur Uraufführung, der "sie mit seiner
hinreißenden Wiedergabe zu großen Erfolgen führte,
sie auch für sein Engagementsdebut bei der Frankfurter Museumsgesellschaft
(9. April 1922) neben Beethovens Pastorale aufs Programm setzte".
Im Vorwort zur bei Ries & Erler erschienenen Partitur vermerkte
Tiessen: "Das Motto 'Stirb und Werde!' (aus Goethes 'Selige
Sehnsucht') deutet keine formale Zweiteilung und Gegenüberstellung
an, sondern als Einheit die unablässige Selbsterneuerung
im Menschenleben. Die Symphonie will rein als Empfindungsstrom durchlebt
werden, der durch Leidenschaften und Kämpfe zur Höhe des
Lebens zu Schmerz, Überwindung und Tod und darüber
hinaus wieder zum ewig weiterschreitenden Leben führt."
Aus diesem "Programm" ist auch die Verankerung des jungen
Tiessen in den romantischen Idealen zu ersehen, die sich zudem in
Vortragsanweisungen wie "Mit größter Wucht und Leuchtkraft"
(Augmentation des Hauptthemas in den Blechbläsern am Höhepunkt),
"Sehr getragen und wuchtig, in härtestem Schmerz"
(Wiederkehr des "dritten Themas") oder "Langsam und
groß, gleichsam ins Überirdische wachsend" (f-c-Ostinato
von Pauken und tiefen Pizzicati) ausweist. Die Gestaltung der Gesamtform
ist überaus originell und meisterhaft, harmonisch kühn
und stringent, mit bezwingender Dramaturgie der prägnanten
Motivik, die nirgends ins Willkürliche ausschweift. Die drängende,
markante erstthematische Welt ist bereits von ganz persönlicher
Statur. Die lyrische Gegenwelt mit ihren mannigfaltigen motivischen
Bildungen und Verflechtungen läßt zwischendurch die Vorbilder
Strauss und auch Wagner aufscheinen, ein klagendes "drittes
Thema" gesellt sich hinzu. Eine reguläre Durchführung
der sonatenartig exponierten Gegensätze findet nicht statt,
der durchführende Charakter durchdringt sich nach dem Höhepunkt
nach und nach mit dem repriseartigen und mündet in die Rückkehr
des Anfangscharakters. Tiessen hat sein kompositorisches Ethos 1911
(bevor Busoni diesen Begriff einführte) folgendermaßen
formuliert: "Das Ziel der Kunst ist Klassizität
Aufgabe der Zukunft ist es, die sich noch als Selbstzweck aufdrängenden
Errungenschaften der Neuromantik für die Gestaltung einer neuen,
modernen Klassizität zu gewinnen."
Hamlet-Suite op. 30
(Drei Orchesterstücke aus der Musik zu 'Hamlet', 1919/22)
Heinz Tiessen komponierte die Musik zu Shakespeares 'Hamlet' zwischen
dem 2. August und dem 19. Dezember 1919. Die Uraufführung fand
am 17. Januar 1920 im Großen Schauspielhaus Berlin unter Klaus
Pringsheim anläßlich der Inszenierung Max Reinhardts
statt. Der 2. Satz, 'Ophelias Tod', war erstmals am 28. 2. 1920
in der Berliner Singakademie unter Hermann Scherchen als Konzertstück
zu hören. Im Dezember 1922 erweiterte Tiessen die ursprüngliche
Musik und richtete sie als Konzert-Suite ein. In dieser endgültigen
Gestalt wurde die 'Hamlet-Suite' am 8. Juni 1923 auf dem Tonkünstlerfest
des ADMV in Kassel unter Robert Laugs uraufgeführt und, so
Tiessen in seiner Werkeinführung, "wurde weitgehend als
stärkster Eindruck des Abends bezeichnet
Raabe hat es
noch 1923 in Aachen aufgeführt; es folgten in Berlin zwei Aufführungen
unter Jascha Horenstein, in Dortmund eine unter Wilhelm Sieben.
Den größten Rahmen gewährte am 19. 3. 1928 die Leipziger
Alberthalle im Märzkonzert der Lichtschen Chöre, als Horenstein
drei Werke von mir dirigierte: außer der 'Hamlet-Suite' das
'Vorspiel zu einem Revolutionsdrama' op. 33 und als Uraufführung
die (nach 1945 in 'Visionen' umbenannte) 'Totentanz-Suite' op. 29.
Erst drei Jahrzehnte später, am 7. 10. 1957, erlebte ich zum
ersten Mal (unter Sergiu Celibidache) die 'Hamlet-Suite' mit den
heulenden Menschenstimmen, die man im Meeressturm zu hören
glaubt. (Das Werk kam an.) Die mit ungleich bescheideneren
Mitteln auskommende Elegie 'Ophelias Tod' war weit leichter zu realisieren.
Stefan Frenkel hatte sie frühzeitig für Violine und Klavier
bearbeitet, unlängst habe ich sie, angeregt von Emil Seiler,
als 'Musik für Viola mit Orgel' op. 59 eingerichtet, und in
der Gruppe 'Fünf Lieder nach verschiedenen Dichtern' meiner
'Zwanzig ausgewählten Lieder' ist der den Gesang umgebende
instrumentale Teil freier ausgestaltet.
Über Satz I und III der 'Hamlet-Suite' ist noch zu sagen: Im
Vorspiel tobt der nächtliche Meersturm, in dem man aufheulende
Stimmen zu hören glaubt. Es schält sich das Hamlet-Thema
heraus, dem verzerrte Klänge von des Königs Zechgelage
folgen; darauf jäh emporfahrend das Hamlet-Thema, als spräche
es Worte des ersten Monologs: 'O God, O God! How weary, stale, flat,
and unprofitable / Seam to me all the uses of this world! / Fye
ont ! an fye ! tis an unweeded garden / That grows to
seed; things rank and gross in nature / Possess it merely.' Stille.
Zart entfaltet sich in der Oboe die Weise des letzten Ophelia-Liedes
'And will he not come again?', leise begleitet vom Hamlet-Thema
der Violen, geht unter in neuem Anschwellen des Sturmes, die Klänge
des Zechgelages steigern sich zum Gipfel: Mitternacht dröhnt
in 12 Tamtamschlägen, grundiert vom Hamlet-Thema. Dann völliges
Abklingen. Der Totenmarsch [Tiessen schreibt vor: "Streng
rhythmisch in sehr langsamem Marschtempo; ohne jede Modification"]
erscheint als Huldigung des Fortinbras für Hamlet: 'For he
was likely, had he been put on, / to have provd most royally
: and for his passage, / the soldiers music and the rite of
war / speak loudly for him.' Die szenisch gebotene Kürze des
Totenmarsches machte erforderlich, ihm für die Konzertfassung
einen Vorbereitungsteil voranzustellen." In der 'Hamlet-Suite'
hat Tiessen zu einem ganz persönlichen, hochexpressiv verdichteten
und zugleich suggestiv tonmalerischen Stil gefunden, der ihn ganz
nebenbei als einen der wirklich großen Theaterkomponisten
seiner Zeit ausweist.
Vorspiel zu einem Revolutionsdrama op. 33 (1921/26)
Dieses Stück wurde 1921 im Zuge der Musik zu Ernst Tollers
'Masse Mensch' (Regie Jürgen Fehling an der Volksbühne)
skizziert und 1926 als 'Vorspiel zu einem Revolutionsdrama' op.
33 ausgearbeitet. Das Hermann Scherchen gewidmete Werk kam am 9.
März 1927 durch das Blüthner-Orchester Berlin unter Emil
Bohnke zur Uraufführung. Tiessen schreibt darüber: "Nicht
Vorspiel eines bestimmten Dramas. Die Entwürfe, das marschmäßige
erste Thema (3/2-Takt) und das dumpfe, gequälte zweite (4/4-Takt)
entstammen zwar meiner Musik zu Ernst Tollers 'Masse Mensch', die
Komposition des op. 33 hat sich aber völlig davon entfernt
und hat eine selbständige musikalische Gesamtgestaltung erfahren,
die weder als Vorspiel zu 'Masse Mensch' möglich wäre
noch auch etwa als Tondichtung mit dem Verlauf des Dramas
irgendwie parellel ginge. Skizze des Aufbaues:
A Sehr langsam, marschmäßig, mit größter
rhythmischer Energie (3/2-Takt).
B Dumpf und gequält (Zweites Thema, 4/4-Takt, fugato).
A Reprise des ersten Teils, größer entfaltet und gesteigert
zur Engführung des Fugatothemas B, mit kurzer Stretta. Generalpause.
C Zunächst intonieren geteilte Violen, die Schluß-Fuge
einleitend, zart und sehnsüchtig die Weise 'Brüder, zur
Sonne, zur Freiheit' in H-Dur. Modulation nach F-Dur erteilt der
Trompete das Wort: sie führt das ganze Lied als dominierender
Cantus firmus durch während der Fuge, deren Thematik aus Thema
A entwickelt ist (Allegro, 2/2-Takt) und zuletzt in einer heftigen
Krise gipfelt (Posaunen-Einsatz unisono mit Thema A), bis ein strahlender
Ges-Dur-Quartsextakkord den Durchbruch zum hellen F-Dur gewährleistet.
Als Coda hört man, zu melodischen Nachklängen des Cantus
firmus, nur den Ton f in allen Lagen im Rhythmus des Themas A nochmals
vom Pianissimo zum Fortissimo unerschütterlich emporsteigend.
Im Jahre der Uraufführung habe ich das Werk selbst zweimal
auf Einladung dirigiert, in Crefeld auf dem Fest des ADMV (13. 6.
1927) und in Wiesbaden (im Schuricht-Konzert, 11. 11.)
, später
noch in Königsberg
und in Berlin
Das Werk wurde
oft aufgeführt, stets mit großem Erfolg, von Jascha Horenstein,
Hermann Scherchen, Karl Rankl, Wilhelm Knöchel, Paul Scheinpflug,
Paul A. Pisk, Anton von Webern [Wiener Erstaufführung 1929]
Es folgten bald Stuttgart, Kassel, Leningrad 1931. Aus Furcht
vor der Gestapo beschloß der Verlag, das Werk zu vernichten
bis auf einen kleinen Rest für sein Archiv und für
mich. Nach Kriegsende hat in Berlin (Dezember 1946) Sergiu Celibidache
mit dem Philharmonischen Orchester das Werk viermal aufgeführt,
wobei auf Anordnung der sowjetischen Besatzungsmacht der Namensteil
Revolutions- fortfallen mußte, den übrigens
Scheinpflug in Duisburg 1928 von sich aus gestrichen hatte."
1928 berichtete Kurt Westphal in der Februarnummer der Zeitschrift
'Die Musik': "Zweifellos gehört Tiessen zu den Begabtesten.
Der Instinkt für szenisch empfundene, an szenische Darstellung
gebundene Musik, der sich in mehreren seiner Bühnenmusiken
offenbart hat, bewährt sich auch in diesem Vorspiel. Auch dieses
Stück ist kaum getrennt von einem szenischen Vorgang denkbar.
So sieht Revolution auf einem modernen Theater aus. Wirkliche Revolutionsmusik
würde fesselloser sein. Hier aber ist alles geformt, Revolution
in ein künstlerisches Prinzip übertragen, Revolution als
Choreographie gesehen. Ausgezeichnet das Hauptthema, das sich träge
in zunächst kleinen Intervallschritten vom Grunde des c erhebt,
sich dann in größeren aufbäumt, um sich schließlich
in der großen Septime steil aufzurichten. Organisch keimt
aus dieser Exposition ein Fugato, welches das Thema von unten nach
oben schichtet und sich gleichfalls vom pp zum FFF aufreckt. Nach
einer fast unveränderten Reprise des Anfangs setzt bald darauf
ein dritter Aufstieg ein, nun aber mit dem Thema in der Umkehrung
und in doppelt so raschem Tempo. Er gipfelt in einer von sämtlichen
Instrumenten markierten rhythmischen Formel, die das Hauptthema
nur mehr in seiner rhythmischen Gestalt zeigt, und endet in strahlendem
F-Dur. Der programmatische Charakter des Stückes ist
unverkennbar, gedanklich und thematisch berührt es sich mit
Kreneks 'Zwingburg'. Im Konzertsaal, in dem die Aufmerksamkeit des
Hörers ausschließlich der Musik gilt, dürfte dieses
Orchesterstück mit seiner geradezu körperlichen Wucht
überstark wirken. Es ist durchaus aus dem Geist des Theaters,
genauer: dem Geist tänzerischer Bewegungsdramatik geboren.
Ich wünschte es mir in der Darstellung etwa durch die Wigman-Tanztruppe;
die Verschmelzung von Klang und Geste müßte restlos sein."
Salambo-Suite op. 34a
(Zwei Orchesterstücke nach dem Tanzdrama op. 34,
komp. 1922/23/56)
Das dreiviertelstündige Tanzdrama 'Salambo' in drei Bildern
von Lucy Kieselhausen frei nach Flaubert darf als Heinz Tiessens
ambitioniertestes Werk gelten. Tiessen 1924 in 'Das Prisma' (Bochum-Duisburg):
"Die Musik der 'Salambo' wurde ursprünglich nach
einem Szenarium von Lucy Kieselhausen, das später nach dem
Tode der Tänzerin vom Komponisten wesentlich verändert
wurde komponiert von Mitte Dezember 1922 bis April 1923.
An Stelle einer naturalistisch-impressionistischen, illustrierenden
oder doch literarisch gefügigen Haltung, wie sie damals noch
vorherrschend war, suchte sie den Aufbau mit klaren eigenen Umrissen
zu gestalten und die Kongruenz mit der Handlung (die als Tanz, nicht
als Pantomime gedacht ist) nicht im Detail, sondern nur in der großen
Kurve zu geben." Lucy Kieselhausen, Schülerin Grete Wiesenthals,
starb 1926. "Nach ihrem schrecklichen Unfalltode (durch Benzinexplosion
im Badezimmer bei brennender Stichflamme) hatte ich keine weiteren
Schritte für das Werk unternommen; ich war mir überhaupt
nicht bewußt, in meiner Partitur ein wirtschaftlich ausnutzbares
Wertobjekt zu besitzen, und es ist sehr fraglich, ob ich andernfalls
aus einem solchen Bewußtsein praktische Folgerungen gezogen
hätte. Ich bin auch nie auf den Gedanken gekommen, Erfolge
auszunutzen, sondern habe mich im Gegenteil stets ganz anderen Dingen
zugewandt.
'Herr Tiessen, haben Sie nicht ein Ballett geschrieben?' Diese Frage,
die Hermann Bischoff im Namen des ADMV im Jahre 1928 an mich stellte,
war der Auftakt für die Uraufführung der 'Salambo'. Sie
fand statt im Duisburger Stadttheater (Intendant: Saladin Schmitt)
am 21. Februar 1929 und wurde zum Musikfest des ADMV (3. Juli) wieder
aufgenommen. (Choreographie: Julian Algo, Dirigent: Gotthold Ephraim
Lessing, Salambo: Edith Judis, Matho: Werner Stammer.)
Daß Salambo, die durch ihre Pflichthandlung als karthagische
Oberpriesterin die grausame Vernichtung Mathos [des Anführers
der meuternden Söldner] ermöglicht hat, in meinem Tanzdrama
nicht eines so passiven Todes stirbt wie bei Flaubert, sondern in
der Fassung von Lucy Kieselhausen sich an Mathos Leiche selbst den
Tod gibt was auch darstellerisch ganz anders über
die Rampe kommt , erinnerte mich an den Schluß
eines der genialsten modernen Romane: 'Die kleine Stadt' von Heinrich
Mann. Die schöne junge Alba Nardini, die soeben in jäher
Enttäuschung ihrer Liebe den Geliebten Tenor und Frauenliebling
Nello Gennari erstochen hat, drückt sich, Leib an Leib
mit ihm, das gleiche Todesmesser ins eigene Herz. Dieser fast wie
Alltagstragik anmutende Vorgang erhält in beiden Fällen
durch die Situationen und Charaktere dichterische Spannkraft, und
die bei aller Unvergleichbarkeit der Gestalten und Umstände
doch verwandte Reaktion im letzten tragischen Ja zur Liebe hatte
mir den Stoff so nahe gebracht, daß ich ihn miterleben konnte,
wie es not tat, um mich voll mit ihm zu identifizieren. Der Publikumserfolg
war eindeutig und wurde von der Presse bestätigt. Als das,
was man 'Personalstil' nennt, und als ein in imposanter Linie aufsteigendes
Bühnenwerk wurde 'Salambo' vollauf gewürdigt. Besonders
berührten mich die verständnisvollen Worte, mit denen
Alfred Einstein im Berliner Tageblatt meine Art und Auffassung bestätigte:
'Streng gefügt und dabei lebendig; Geste von stärkstem
Ausdruck und dabei Musik'. Einige nannten 'Salambo' mein stärkstes
Werk. Gewisse Kritiker machten aus ihrem Mißvergnügen
kein Hehl, doch auch solche waren überzeugt, daß 'Salambo'
über viele Tanzbühnen gehen würde. Es kam aber anders.
Immer bedrohlicher kündigte sich das herannahende politische
Erdbeben an, und trotz aller erfolgversprechenden Werbechancen hatte
es mit der Duisburger Aufführungsreihe [bis heute!] sein Bewenden.
Die tieferen Ursachen dürfte George Antheil, der mit dem Frankfurter
Erfolge seiner Oper 'Transatlantic' in ähnlicher Lage war,
in seinem 'Enfant terrible'-Buche richtig aufgezeigt haben: Die
'Inhaber politischer Ämter spürten die unausweichlich
wachsende Macht der Hitlergruppe'; das Hitlerwort: 'Wenn wir zur
Regierung kommen, werden Köpfe rollen!' war 'für alle
wankelmütigen Stadt- und Länderregierungen das Zeichen,
ihre beherzten liberalen Direktoren hinauszuwerfen'. Wie in kommunizierenden
Röhren nach den hydrostatischen Gesetzen die Flüssigkeitsspiegel
die gleiche Höhe zeigen, so schwand, in vorgeleisteter Gleichschaltung,
die mutige Initiative der Programmgestalter überall im deutschen
Konzert- und Opernwesen: es trat ein alarmierender Rückgang
moderner Werke ein." (soweit Tiessen 1962 in 'Wege eines Komponisten';
weitere Informationen zum Tanzdrama stellt ein Aufsatz von Lucian
Schiwietz in dem von Klaus Ley herausgegebenen Sammelband 'Flauberts
Salammbô in Musik, Malerei, Literatur und Film, Tübingen
1998, bereit.)
1956 komprimierte Tiessen große Teile der Salambo auf Anregung
seines Schülers Sergiu Celibidache zu einer für den Konzertsaal
bestimmten 'Salambo-Suite' op. 34a (Zwei Orchesterstücke nach
dem Tanzdrama op. 34), die Celibidache am 7. 10. 1957 im Tiessen-Geburtstagskonzert
im Titaniapalast mit dem Radio-Symphonieorchester Berlin uraufführte.
Stuckenschmidt schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.
10.) über das Konzert: "In der Hamlet-Musik, die Tiessen
1919 für Reinhardt schrieb, stehen Dinge von einer beklemmenden
Dichte der Stimmung, Akkordfolgen jenseits der Tonalität, in
denen eine zangenhaft zwingende Logik am Werk ist. Hauptstück
jedoch war die Konzertmusik aus dem Salambo-Ballett von 1927. Tanz
und Todestanz Salambos, Triumphtanz Mathos, die lyrischen Klagen
des Adagios, der Trauermarsch das ist Musik aus starker,
unbeirrter Eingebung, von vegetativen Kräften der Polyphonie
genährt, unverbraucht im Klang und in der dissonanten Harmonik,
immer wesentlich und oft von heftigem Temperament getragen. Celibidache
und das Radio-Symphonieorchester spielten mit einer Hingabe, die
in vielen Proben ihren adäquaten Ausdruck fand. Ein großer,
gerechter Erfolg für Tiessen."
Errungenschaft und Erbe
Man kann getrost in der 'Salambo' und dem davor, im September 1920,
komponierten Streichquintett op. 32 die eigentlichen Höhepunkte
von Heinz Tiessens hauptsächlicher Schaffenszeit erblicken.
Die expressive Polyphonie, die Vorherrschaft des linearen Triebs,
schafft ein Maximum an melischer Spannung und grell dissonanter,
dabei immer profund ausgehörter harmonischer Explosivität,
getaucht ins vielfältige Licht dramaturgisch klar geführter
Orchesterfarben. Die Dominanz des polyphonen Prinzips führt
jedoch nie dazu, daß wie bei vielen seiner fortschrittstrunkenen
Zeitgenossen und Nachfolger die harmonische Fortschreitung
ins Zufällige, Willkürliche oder schlicht Unwesentliche
abtriebe. Auch die extremsten Entfernungen, die dem ungeübten
Ohr quasi atonal, also bezugslos, erscheinen mögen, sind in
freitonaler, an keine Lehrkonvention gebundener Weise mit dem Ausgangs-
und Zielpunkt unauflöslich verkettet und lassen so die Gesamtform
als vom Komponisten erlebten und demzufolge für den Hörer
erlebbaren, eindeutigen prozeßualen Zusammenhang fast körperhaft
mächtige Gestalt annehmen. Tiessen trieb die von Strauss und
Reger angestoßenen, von Schönberg expressionistisch im
seelisch-Gestischen übersteigerten freitonalen Errungenschaften
weiter, indem er den darin verborgenen, "ewigen Gesetzen"
nachspürte und so im Gegensatz zur zwölftönigen
Patentmethode den unwillkürlichen, aus sich selbst funktionierenden
Bau großer Formen auf der Grundlage einer Befreiung von den
dur-moll-tonalen Konventionen die von ihm angestrebte "Einheit
von Gehalt und Gestalt" ermöglichte. Sein Schüler
Eduard Erdmann folgte ihm darin nach und übertrug diese Schaffensprinzipien
in seinem eigenen, völlig andersartigen und im Gestalthaften
hörbar mehr am freitonalen Schönberg orientierten Stil
auf die Gattung der Symphonie. Auch Sergiu Celibidache trug das
kreative Ethos seines Lehrers Tiessen weiter, und die künstlerisch
herausragende und gesellschaftsrelevante Stellung Celibidaches in
der Musik der zweiten Jahrhunderthälfte ist in dieser Form
ohne Tiessen Einfluß und auch noch im fortgeschrittenen Stadium
korrektive Präsenz nicht denkbar. Für Celibidache hat
Tiessen eine in manchem ähnliche, wenn auch noch intensiver
prägende Rolle gespielt, wie zuvor Heinrich Schenker für
Celibidaches anderes musikalisches Idol, Wilhelm Furtwängler.
Weitere namhafte Kompositionsschüler Tiessens, der wie vielleicht
kein anderer Zeitgenosse in den korrelativen Geheimnissen der in
keine Schemata sich fügenden Modulationsprozesse zuhause war,
sind Josef Tal, Rolf Kuhnert, Wolfgang Steffen und der Finne Erik
Bergman.
Christoph Schlüren
(Originalfassung eines Booklettextes für Koch-Schwann)
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