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Orchesterwerke von
Heinz Tiessen

Einheit von Gehalt und Gestalt

"Das Schaffen erst schafft die Form, jedesmal aufs neue. Form steht nicht am Anfang, sondern immer wieder erst am Ende der Arbeit. (In einer süddeutschen Fachzeitschrift schrieb ich im Winter 1913/14: "Form ist nicht eine leere Hülle, die vor dem Inhalt bestände. Form ist Gestaltungs-Ergebnis.") Vorher ist Ahnung des seelischen Gehalts (des Charakters der strömenden Kraftquellen), Ahnung eines bildnerischen Vorganges, der aus pulsierenden Kräften mit traumwandlerischer Selbstverständlichkeit sich zu einer organischen Form emporentwickelt. Auch mit dem Verstande pflegt und fördert der Künstler sein wachsendes Werk, so wie der Gärtner dem Pfirsichbäumchen dazu verhilft, das zu werden, was es – von sich aus werden muß. Wachsen kann es nur von selbst, aus Keimen und Kraftquellen, denen wir weder mit unserem Willen noch mit unserem lehrbaren Wissen nahekommen, einzig mit jener unmittelbaren, gleichsam religiösen Empfindung, dem schöpferischen Instinkt: der 'Phantasie'. Die bewußte Geistesarbeit soll weder über- noch unterschätzt werden; naivste, unwillkürlichste Regungen gehen im Künstler oft mit der bewußtesten, ja raffiniertesten Arbeitsweise und Denktätigkeit ein Bündnis ein, das – bei einem und demselben Individuum – den Laien wundernehmen darf.
…das Kunstwerk hat von sich aus seine eigene Seele: sein innerer Gehalt ist nur der, der von der Kunst erzeugt und selbstverdient ist. (Man weiß, daß ein guter Tanz besser und gehaltvoller ist als ein schlechter Psalm.) Nur durch die spezifische Qualität des Einfalls und der Gestaltung wird der Wert erzeugt: die Bedeutsamkeit des Vorwurfs ist für die Leistung des Schaffenden kein Guthaben, sondern erhöhte Anforderung. (Auch dieses weiß man, läßt sich aber oft vom Sujet täuschen.)
…Wer in seinen Denkvorgängen (vielleicht aus Mode) einer rein artistischen Gesinnung huldigt und sich von Erlebnissen und Ausdrucksabsichten unbeeinflußt wähnt, kann gleichwohl seine Vorgeschichte und Entwicklung nicht verleugnen und vielleicht auch aus einer Menschlichkeit schöpfen, die unbewußt, unwillkürlich aus ihm wirkt und den ebenso engen wie hochmütigen 'Atelierstandpunkt' seines Verstandes überragt. (Der umgekehrte Fall, daß jemand Tiefstes zu geben glaubt, der nur Triviales gibt, ist natürlich der häufigere, da Nichtkönnen häufiger vorkommt als Können; praktisch liegt hierin die Hauptrechtfertigung rein artistischer Kunst.)
…Seist du Komponist, Interpret oder Hörer: nicht nur der Gehalt, auch die Gestalt, der organische Bau eines Kunstwerks muß dir zu einem unmittelbar erfühlten Erlebnis werden; genau wie die Betrachtung eines Naturorganismus, etwa eines Baumes, den du mit – nahezu physischer! – schöpferischer Einfühlung förmlich aus seiner Wurzel in den Stamm aufsteigen und in Zweige und Blüten treiben spürst!
Wenn man sich den Vorgang des Schaffens in all seinen Komponenten und Gegensätzen überlegt, scheint er tausendfältig kompliziert und unentwirrbar; wenn man schafft, ist alles einfach, selbstverständlich, einheitlich."
Heinz Tiessen, 1928 (in 'Zur Geschichte der jüngsten Musik')
 
Freigeist im Abseits
Warum kennt heute fast niemand die Musik Heinz Tiessens? Die Geschichtsschreibung und ihre praktischen Folgen sind oft genug kaum rational nachvollziehbar. In den zwanziger Jahren war Tiessen weithin anerkannt als einer der führenden und eigentümlichsten jungen deutschen Komponisten. Das will etwas bedeuten, denn die Zeit des reifen Expressionismus und der aufblühenden Neuen Sachlichkeit vor der Konstituierung des alles auslöschenden Dritten Reichs war gerade im deutschen Sprachraum eine Periode von einer solchen Fülle, Breite und Aktualität des Schöpferischen, wie dies seither nicht mehr in Reichweite kam. Man hatte sich scheinbar endgültig von den Fesseln des dogmatisch Reaktionären befreit, erschloß Neuland und glaubte unverbrüchlich, dies allen dafür offenen Menschen zugänglich machen zu können. Heinz Tiessen war eine der stärksten und geachtetsten Persönlichkeiten, die diesen neuen Geist verkörperten. Während heute Schönberg, Bartók, Strawinskij, Hindemith, Berg und Webern (um nur einige zu nennen) als "Klassiker der Moderne" durchgesetzt sind, auch dem zu jener Zeit vielerorten neben Schönberg als wichtigstem Bannerträger "neuer Musik" angesehenen Ernst Krenek immer wieder angemessene Wertschätzung zuteil wird, ist Tiessen – ähnlich wie der unlängst wiederentdeckte Philipp Jarnach und sein Freund Paul Höffer – schon lange von der Bildfläche verschwunden. Und, gleich ihm, sein Kompositionsschüler Eduard Erdmann, der vier Symphonien schuf, die zu den essentiellsten Gattungsbeiträgen des 20. Jahrhunderts zählen, der aber nur noch als einer der großartigsten Pianisten seiner Zeit in Erinnerung ist. Diese großen Komponisten wurden nicht nur vom Nationalsozialismus schöpferisch ausgeschaltet. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt ihr vom Expressionismus und der sozialen Idee der Neuen Sachlichkeit getragenes Ethos plötzlich als altmodisch, ihre freitonale und eben nicht atonale – dem Diktat von Dodekaphonie und daraus hervorgehendem Serialismus, dem reglementierenden, dogmatischen Systemwahn abholde –, mithin freigeistige Haltung wurde ins Abseits gestellt, von den führenden Meinungsbildnern als unzeitgemäß ignoriert; freilich nicht von allen, und Hans Heinz Stuckenschmidt hielt Tiessen die Treue.
In dem 1979 in der Schriftenreihe der Berliner Akademie der Künste erschienenen Band 'Für Heinz Tiessen' schrieb Stuckenschmidt: "Tiessens Werk spiegelte die Entwicklung der deutschen Musik von der Jahrhundertwende bis zum Expressionismus der Zeit zwischen den Weltkriegen. Er hat seit der 'Naturtrilogie (die Eduard Erdmann unvergeßlich spielte), dem Amsel-Septett von 1915 (dessen für Orchester gesetztes Finale Wilhelm Furtwängler 1918 uraufführte) und der Duo-Sonate für Violine und Klavier 1925 die Krise der Tonalität ebenso individuell verkörpert wie eine harmonisch freie lineare Polyphonie. Unermüdlicher Beobachter und Sammler von Vogelrufen, eine Generation vor Olivier Messiaen, ließ er sich durch Amselmelodien zu Liedern anregen, die wiederum auf seine Kammer- und Orchestermusik zurückwirkten. Exotische moderne Tänze aus dem Jazz- und Tangobereich haben ihn vielfach beeinflußt und zu eigener Erfindung in ihrem Genre inspiriert. Als Autor von Büchern wie als Lehrer wirkte er lebenslang im Dienste einer technisch und geistig fundierten Erneuerung der Überlieferungen.
1925 wohnte er in einem modernen Friedenauer Hausblock der Wiesbadener Straße dicht beim Südwestkorso, den Künstler und Intellektuelle bevorzugten. Sein Arbeitszimmer war eine Fundgrube für seltene Bücher, Zeitschriften, Musikalien und Schallplatten. Tiessen hob, darin Schönberg ähnlich, alles auf, was ihm interessant schien, von Konzert- und Opernprogrammen bis zu Zeitungsausschnitten. Der größte Teil dieser seiner Sammlungen hat sich über zwei Weltkriege erhalten… In demselben Haus hatte Stefan Wolpe eine kleine Wohnung… Tiessen schätzte und förderte ihn sehr…
In seiner Wohnung lernte ich den jungen Jascha Horenstein kennen, der den Schubertchor und andere Arbeiterchöre leitete. Er stand kurz vor einer Aufführung der Neunten Symphonie von Beethoven und holte sich bei dem älteren und erfahreneren Tiessen Rat für die schwere Aufgabe. Einen selbstloseren Kollegen als diesen konnte man sich nicht denken…
Hitlers Nationalsozialismus stand Tiessen so ablehnend gegenüber wie ich. Wir trafen uns 1933 und 1934 oft zusammen mit Karl Jakob Hirsch und berieten die Lage, die Tiessen pessimistisch beurteilte. Er zeigte allen Versuchen, ihn als ostpreußischen Heimatkünstler zu propagieren, die kalte Schulter. Aus der Sicht der Nazis scheint es mir bezeichnend für die völlige Absurdität der sogenannten nationalsozialistischen Kulturpolitik, daß sie – wie bei Paul Hindemith und Anton von Webern – ihr Mütchen an einem Manne kühlten, der die markantesten und besten Eigenschaften des Deutschen verkörpert. Gerade Tiessens radikale Werke, aber auch seine volksliednahen Arbeiterchöre, sind Musik im Geiste der deutschen Mehrstimmigkeit, der großen Tradition verpflichtet, die von den Niederländischen Polyphonisten über Johann Sebastian Bach, die Wiener Klassiker und die deutschen Romantiker zu Strauss, Reger und Schönberg führt.
Als ich, seit 1934 mit Schreibverbot belegt, Deutschland 1937 verließ und nach Prag ging, verloren wir allmählich den Kontakt. Erst 1946, als ich nach Berlin zurückkam, lebte die alte Freundschaft mit Tiessen wieder auf. 1944 hatte er die junge Pianistin Anneliese Schier geheiratet. Er wurde Mitarbeiter der von Josef Rufer und mir herausgegebenen Monatsschrift 'Stimmen', wo eine Arbeit Zwei Streitfragen der Musiktheorie von ihm erschien. 1946 hatte man ihn zum Direktor des Konservatoriums der Stadt Berlin gemacht. Am 8. April 1947 erschien in der 'Neuen Zeitung' mein Aufsatz zu seinem sechzigsten Geburtstag, zwei Tage zu früh. Ich wies da auf viele Seiten seines erstaunlich vielseitigen Wissens hin, nicht aber auf eine, die ihn seit langem beherrschte: die Neigung zur Astrologie. Mit seinen Horoskopen hat Tiessen oft Ratschläge gegeben, die sich als überraschend richtig erwiesen. So riet er 1928 dem Bratschisten und Dirigenten Emil Bohnke von einer geplanten Autoreise dringend ab. Dieser fuhr trotzdem und verunglückte tödlich."
 
Von Strauss ausgehender Neutöner
Richard Gustav Heinrich Tiessen wurde am 10. April 1887 als Sohn des Assessors und späteren Königlichen Landgerichtsdirektors Dr. Philipp Tiessen in Königsberg geboren. Fünfjährig kam er nach Bartenstein, und 1905 legte er seine Reifeprüfung am Humanistischen Gymnasium in Allenstein ab, um sogleich, auf Wunsch des Vaters zum Jura-Studium, nach Berlin zu gehen: "Aus der juristischen Fakultät ließ ich mich nach dem ersten Semester in die philosophische überschreiben. Mein Vater war verständnisvoll und großzügig, und obgleich meine Mutter der phantasievolle Elternteil war – schon vor meiner Schulzeit war ich ihr Liedbegleiter –, hat mein Vater mir nie etwas in den Weg gelegt, hat alles für mich getan und mir mehr vertraut als den Königsberger Musikpäpsten, die – mit uns im Familienverkehr – das Künstlertum jedes Jünglings von vornherein in Abrede stellten, der sich nicht auf die Tonsprache des allgemeingültigen Brahms festzulegen verpflichtete. Schon Wagner war für sie Missetat und Weg in den Abgrund; die Ampel für das 'Jahrhundert des Kindes' stand dort noch hartnäckig auf Rot. Übrigens bin ich nicht, wie man vielfach lesen kann, von der Jurisprudenz zur Musik übergewechselt, sondern zur Philosophie. (Musik studierte ich von Anfang an und mit Vorrang!) Gelegentlich hörte ich auch musikalische und literarische Vorlesungen, regelmäßig und fasziniert aber nur den Philosophen Georg Simmel, ob er nun über Grundprobleme, über Logik oder – für mich am reizvollsten – über Kunstphilosophie sprach… Das Gehörserlebnis meiner Symphonie 'Stirb und Werde!' [1911/12] wurde mir zum zwingenden kompositorischen Impuls."
1912 heiratete Tiessen die zwei Jahre ältere Elisabeth Crawack. 1913 wurde in Königsberg unter Paul Scheinpflug seine erste Symphonie in C-Dur op. 15 (1910/11) uraufgeführt. Sie ist Richard Strauss gewidmet, dem Tiessen nicht nur als revolutionärem Komponisten, sondern auch als hinreißendem Dirigenten der Klassiker höchste Begeisterung entgegenbrachte. Von seinem ersten Besuch bei Strauss im März 1914 berichtete Tiessen: "Am stärksten wirkte auf mich die stolze Bescheidenheit, mit der er über sich selbst sprach: 'Das Ideal, die große, aus sich strömende Melodie – Mozart hatte sie, auch Wagner. Ich habe sie nicht. Meist fallen einem vier Takte ein, bestenfalls sechs bis acht – dann fängt das ›Komponieren‹ an!' Dieses Bekenntnis zum Ideal der großen Linie, die nicht erarbeitet, sondern aus sich selbst gewachsen ist, in dieser Weise formuliert, ist dem Jüngling, der ich war, so tief ins Unterbewußtsein gedrungen, daß es mich durch alle 'Ismen' hindurch geleitet und geschützt hat."
Tiessen überblickte später sein Werk in verschiedenen Schaffensperioden, als deren erste erste er die Jahre 1911-17 ansah, "in denen außer Liedern drei größere Werke entstanden: die Symphonie 'Stirb und Werde!' op. 17, die Natur-Trilogie für Klavier op. 18 (1913) und das Amsel-Septett op. 20 (1914/15) – Werke, die heute unproblematisch, melodisch, harmonisch und keineswegs kakophonisch wirken, während sie vor vierzig Jahren der konservativen Fachwelt, die der Musik von Reger und Strauss meist nur mit Mühe folgte, als 'Neutönermusik' erschienen. Trotz mancher linearen Freizügigkeiten und Schritten ins Atonale zeigen sie unverkennbar die Tonsprache von Richard Strauss als stilistische Ausgangsstellung; kein Wunder, habe ich doch aus seinen Werken vom Don Juan bis zur Ariadne und aus seinen weisen und bescheidenen Worten am meisten gelernt." Während dieser Jahre war Tiessen auch Mitarbeiter der von Paul Schwers geleiteten 'Allgemeinen Musik-Zeitung', wo er beispielsweise 1913 eine Lanze für Rudi Stephans 'Musik für Orchester' brach: "Es ergab sich ein längerer Briefwechsel zwischen Stephan und mir; er widmete mir ein Lied, das ich für sein schönstes halte." 1917 holte Strauss Tiessen als Korrepetitor an die Königliche Oper Berlin und nahm ihn als Assistenten mit auf seine Mozart-Tournee in die Schweiz.
 
Expressionistischer Personalstil
Tiessens zweite Schaffensperiode darf als seine "expressionistische" gelten. Tiessen dazu 1948 in seinem 'Selbstzeugnis des Künstlers' in der Zeitschrift 'Musica': "Zum 1. August 1918 ging ich als Kapellmeister und Komponist von Schauspielmusik an die 'Volksbühne', die für die neue Direktion Friedrich Kayßler neue Kräfte suchte. In den Jahren 1918 bis 1921 schrieb ich für die Volksbühne u. a. Musik zu 'Merlin' von Karl Immermann (Regie Ludwig Berger), 'Die armseligen Besenbinder' von Carl Hauptmann (Regie Paul Legband), 'Das Postamt' von Rabindranath Tagore, 'Antigone' von Sophokles, 'Masse Mensch' von Ernst Toller (die drei letzten mit Jürgen Fehling als Regisseur). Auch andere Bühnen wandten sich an mich; es entstand die Musik zu Shakespeares 'Hamlet' (für Max Reinhardt im Großen Schauspielhause), zu Shakespeares 'Cymbelin' (Berger im Deutschen Theater), zu Strindbergs 'Advent' (Berger in den Kammerspielen), zu Shakespeares 'Sturm' (Berger im Staatstheater), und später 1924 zu Hanns Brauns 'Abenteuer in Moll' (Darmstadt), 1925 zu Grabbes 'Don Juan und Faust' (für Viktor Barnowsky im Theater in der Stresemannstraße), 1928 zu Shakespeare(?)-Kamnitzers 'Der Londoner verlorene Sohn' (Staatl. Schillertheater) und zuletzt 1934 zu Carl Hauptmanns 'Musik' im Staatstheater (Regie Fehling).
Meine stilistische Wandlung in den Jahren 1918 bis 1921 wurde Grundlage für die Arbeiten meiner zweiten Schaffensperiode (op. 29 bis 37). Die Aufgabe, in der Schauspielmusik mit einem Minimum an Mitteln und Zeit ein Maximum an Ausdruck zu erreichen, ließ mich über die gewohnten Klangvorstellungen hinaus eine expressive polyphone Schreibweise gewinnen. Zur 'Atonalität' (grundsätzlichen harmonischen Beziehungslosigkeit) blieb ich trotz klanglicher Annäherungen im Gegensatz; auch die entlegensten Zusammenklänge und ihre Verkettungen schienen mir aus der kadenzierenden Logik als graduelle Erweiterung entwickelbar zu bleiben und gruppierbar um eine Tonika: Ausbalancierung von Spannung und Entspannung ist mir Urgesetz und zeitlos gültig im Wandel der Erscheinungsformen, wie eng oder weit die Spannungsskala eines Stiles oder eines Komponisten auch beschaffen sei.
Juni 1921 verließ ich die 'Volksbühne', da die fortdauernde Kleinarbeit einem Schaffen größeren Maßstabes im Wege stand. Die wichtigeren Einfälle meiner Schauspielmusik verwertete ich für musikalische Formen im Rahmen von vier neuen Werken: Op. 29 'Totentanz-Suite' für Violine und Orchester (Uraufführung durch Therese Petzko-Schubert) mit Themen aus 'Cymbelin' und 'Sturm' (Satz I), 'Armselige Besenbinder' (Satz II), 'Don Juan und Faust' (Satz III); Op. 30 'Hamlet-Suite' für Orchester; Op. 32 Streichquintett mit Entwürfen aus 'Postamt' (Satz II) und 'Cymbelin' (Partien der Ecksätze), Uraufführung 1924 Havemann-Quartett; Op. 33 'Vorspiel zu einem Revolutionsdrama' für Orchester nach der Musik zu 'Masse Mensch'… Des weiteren entstanden 'Drei Klavierstücke' op. 31 (sensationelle Uraufführung in Madrid 1923 durch Eduard Erdmann), sodann das Tanzdrama 'Salambo' op. 34… Es folgte als Op. 35 die 'Duo-Sonate' für Violine und Pianoforte. Sie kam zur Uraufführung durch Georg Kulenkampff und Johannes Strauss 1925 auf dem Tonkünstlerfest in Kiel… Dieses Duo stellt in Einfall und Form, Stil und Temperament die Abrundung meiner zweiten Schaffensperiode dar und zog meine Berufung als Kompositionslehrer an die 'Staatliche Akademische Hochschule für Musik' zum 1. Oktober 1925 nach sich." Tiessens bedeutendste Kompositionsschüler waren (vor seiner Berufung) Eduard Erdmann und ab 1938 bis zum Kriegsende Sergiu Celibidache.
Tiessen wirkte außerdem 1920-22 als Dirigent der 'Akademischen Orchester-Vereinigung an der Universität Berlin, wo er durchaus Werke wie Brahms’ Vierte Symphonie oder Strauss’ 'Bürger als Edelmann'-Suite leitete und auf einer Schweden-Tournee der Konzertmeister, der später berühmte Dirigent Hans Schmidt-Isserstedt, Tiessens 'Totentanz-Melodie' spielte. Auch betätigte er sich als Mitbegründer der IGNM (Internationale Gesellschaft für Neue Musik), wo er mit Edgard Varèse zusammentraf.
 
Balancierung der Lebenstendenzen
Tiessens dritte Schaffensperiode stand vor allem im Dienste der Ideale der Neuen Sachlichkeit, im Zeichen der Arbeiterchorbewegung. Wie kam es dazu? "Meine Theaterjahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hatten mir, wie für anderes, auch den Anstoß gegeben, Musik für Laien zu schreiben. Für Fehlings Inszenierung von Tollers 'Masse Mensch' in der Volksbühne sollte die 'Internationale' als Chor erklingen. Wegen ihrer musikalischen Spießbürgerlichkeit ersetzte ich sie durch die strahlend kühne 'Marseillaise'. Später unterlegte ich meinem Chorsatz den Text von Freiligrath und trat in Verbindung mit dem Deutschen Arbeiter-Sängerbund… Das wurde der natürliche Ansatz für die Chorkomposition, meine 'dritte Schaffensperiode', die freilich nur zur Hälfte diesen Namen verdient, weil Arbeiten der 'zweiten' unbeirrt weiterliefen. Die neue Aufgabe sah ich darin, von meiner Linie aus eine Brücke zum Gemeinschaftsgedanken zu bauen, satztechnisch wie geistig in einer auch dem Laien zugänglichen Haltung, wobei mir die Arbeit mit meinem Chor [junger sozialistischer Arbeiter und Angestellter] den gemischten a-cappella-Satz als nächstliegendes Ausdrucksmittel bot. Ein umfangreiches Ergebnis dieser Phase war der halbabendfüllende 'Aufmarsch' (Max Barthel) für Chor, Blasorchester und Sprecher; seine Uraufführung fand am 4. 10. 1931 in der Berliner Volksbühne statt (Dirigent: Georg Oskar Schumann) und wurde von sechs Rundfunksendern übertragen. In den beiden Wintern bis zu Hitlers Machtübernahme erlebte das Werk insgesamt zehn Aufführungen… Ich empfand eine Art sozialer Verpflichtung gegenüber der Musikkultur, deren Januskopf mir klar wurde: Kein Einzelprinzip vermag auf die Dauer allein aus eigener Kraft das Leben auf seinen Schultern zu tragen gleich dem 'unglückseligen Atlas' und das Gegenprinzip entbehrlich zu machen. 'Sage nicht: entweder – oder, sondern: sowohl – als auch!' Dieses Strindberg-Wort aus 'Nach Damaskus' weist auch den Ausweg aus der Sackgasse der Einseitigkeiten, die heute bereits Bestandteile der Politik geworden sind: ob Musik Form oder Inhalt, Bau oder Ausdruck sei; ebenso stehen einander gegenüber Verbundenheit mit dem Volke und freies persönliches Vorstoßes des Geistes in neue Regionen – und keines vermag das andere zu eliminieren. Leben beruht auf Ausbalancierung. Im Pendelgesetz besitzen wir auch auf der geistigen Ebene die in jede Entwicklung eingebaute Sicherung zur Erhaltung des Lebens, des tragfähigen Gleichgewichts im Geisteshaushalt. Avantgardistische und retrograde Strömungen lösen einander ab – sogar im Schaffen des gleichen Künstlers. Georg Simmels 'Balancierung der Lebenstendenzen' gilt in jedem Bezuge." (Heinz Tiessen in 'Wege eines Komponisten', 1962)
 
Alles verloren
Während des Dritten Reiches verstummte der Komponist Heinz Tiessen fast völlig. Zweifellos war seine Musik unerwünscht, der Leiter eines sozialistischen Arbeiterchores ähnlich dem konservativeren Dresdner Paul Büttner verachtet und verhaßt. Daß seine zentrale Lebenskrise nicht nur aufgrund der äußeren Umstände eintrat, darüber gibt seine zweite Ehefrau Anneliese Schier-Tiessen später Auskunft: "Es gehört zu den Phänomenen der menschlichen Seele, daß auch eine so glückliche Verbindung wie die von Heinz und Elisabeth nach 22 Ehejahren in Entfremdung enden konnte. Ein weiteres, nicht eben seltenes kam dazu: daß ein Mann in der Mitte seines Lebens von einer überwältigenden Leidenschaft heimgesucht wird. So Heinz Tiessen in seiner Neigung zu einem sanften scheuen Mädchen, das jedoch seinen Wunsch nach dauernder Verbindung nicht erfüllen wollte. Wie auf einen Schlag verlor Heinz Tiessen fast alles: 1932/33 Elisabeth durch Scheidung, das sanfte Mädchen durch Trennung, seine künstlerische Existenz durch Hitler. Als 70jähriger gesteht er der Kusine Cläre: 'In 12 einsamen Jahren habe ich unter dem, was ich privat verlor, so zu leiden gehabt, daß ich den Verlust meiner Geltung in der Öffentlichkeit, meiner Werke, Aufführungen, Ehrenämter, Einnahmen, meiner Schaffensfreude und Schaffenskraft innerlich nicht spürte.'"
In den letzten Kriegstagen wurden die Aufführungsmateriale seiner Orchesterwerke, Klaviermusik und Chöre Opfer der alliierten Bomben: "Die Welt von gestern war zerstoben, für die neue Menschheit außerhalb Berlins konnte ich kein Begriff sein, eine ganze Generation der Musikwissenschaft hatte keine Gelegenheit, mich wesentlich zur Kenntnis zu nehmen. …nachträglich aber erkenne ich im Brandopfer meines Aufführungsmaterials einen Segen für das Werk: Der Zwang, fast alles neu herzustellen, aktivierte, besonders bei den älteren op. 17, 18, 20, meinen permanenten Verbesserungsfimmel – ein Berufsgebrest! –; und wenn auch meist nur Kleinigkeiten auszufeilen waren, das Gesamtbild zeigt sich heute geschliffener als zuvor. Zudem mußte mein komplexestes, expansivstes Werk, die revidierte Neufassung der 'Salambo', in Partitur und Klavierauszug vorliegen, desgleichen die 'Musik für Streichorchester' op. 32a, die Orchesterfassung des Streichquintetts. Das alles zog sich lange hin. Daneben blieb wenig Ruhe und Spannkraft zu neuem Schaffen, es entstanden nur ein paar Chöre sowie weitere Sololieder nach Heine, Julius Bab und dem Sänger frühlingsbegeisterter Amselpoesie: Max Dauthendey."
 
Ist es denn überhaupt statthaft?
Als am 31. August 1949 sein Freund Paul Höffer unerwartet starb, lehnte es Tiessen ab, seine Nachfolge als Direktor der Berliner Musikhochschule anzutreten. Jedoch als im Herbst 1955 Kultursenator Joachim Tiburtius die 'Akademie der Künste' restituierte, wurde Tiessen zum Direktor der Musikabteilung ernannt. Um die überragende Bedeutung seines Schülers Sergiu Celibidache wußte Tiessen schon längst, bevor dessen Karriere überhaupt begonnen hatte. Zeugnis davon gibt eine Notiz aus dem Jahr 1944, wo Tiessen als "meine Lieblings-Dirigenten" aufführt:
 

"Celibidache, Furtwängler, früher Strauss und Nikisch". Fürwahr prophetische Einsicht, ein Jahr vor der öffentlichen Bestätigung… Celibidache dirigierte die Berliner Philharmoniker dann im 'Vorspiel zu einem Revolutionsdrama' sowie 1954 in seinem letzten Auftritt mit diesem Orchester, mit Konzertmeister Siegfried Borries als Solisten, die Uraufführung der 'Visionen' betitelten Neufassung der 'Totentanz-Suite' für Geige und kleines Orchester. Zeit seines Lebens sollte sich Celibidache zu der grundsätzlichen Prägung durch Heinz Tiessen bekennen, dem er die entscheidende Ausrichtung verdankte, was seine Lehre von der "Phänomenologie der Musik" und überhaupt seinen musikalischen Zugang betraf. 1957 kehrte Celibidache nach Berlin zurück und leitete das Radio-Sinfonieorchester am 7. Oktober in einem Festkonzert zum 70. Geburtstag seines Lehrers mit der Symphonie 'Stirb und Werde!', der 'Hamlet-Suite', der Uraufführung der ihm gewidmeten 'Zwei Orchesterstücke op. 34a nach dem Tanzdrama Salambo' sowie jener Beethoven-Symphonie, die Tiessen am meisten liebte: der Siebenten. Glücklicherweise haben sich die Mitschnitte dieses Konzerts erhalten und gewähren trotz der schlechten Klangqualität Einblick in fesselnde, idiomatische Aufführungen, die wohl auch im besten Sinne als authentisch gelten dürfen. Celibidache hat die Salambo-Suite dann auch noch in Italien dirigiert, doch in der Folgezeit wurde es still um diese Werke. 1961 schuf Tiessen noch eines seiner inspiriertesten, ambitioniertesten und zugleich humorvollsten, grazilsten und jugendlichsten Werke: die 'Konzertanten Variationen über eine eigene Tanzmelodie' op. 60 für Klavier und Orchester, natürlich für seine Frau, die vortreffliche Pianistin Anneliese Schier-Tiessen: "Endlich wieder ein größeres Werk; es meldete sich überraschend und wuchs heran ohne vorherige Planung, während der Arbeit waren die Einfälle und verschiedenen Teile einfach da. Ja ist es denn überhaupt statthaft, daß ein Vierundsiebzigjähriger sich so lebensfreudig in bunter Vielfalt gibt, wie es in der Musik außerhalb des Theaters nur eine Variationenreihe ermöglicht? Wäre nicht längst ein 'Altersstil' fällig, ein Requiem oder eine Art Parsifal?" Soweit Heinz Tiessen, dessen letzte Lebensjahre dann doch noch von schmerzvoller Krankheit belastet wurden. Er starb, als Komponist vergessen, am 20. November 1971 in seiner Berliner Wahlheimat.
2. Symphonie op. 17 'Stirb und Werde!' (1911/12)
Die Symphonie in F 'Stirb und Werde!' entstand zwischen dem 14. Juni 1911 und dem 17. Oktober 1912 und wurde am 22. Mai 1914 unter Hermann Abendroth in Essen auf dem Tonkünstlerfest des ADMV (Allgemeiner Deutscher Musik-Verein) uraufgeführt. Die etwas gestraffte zweite Fassung gelangte am 18. Januar 1922 unter Hermann Scherchen in Berlin zur Uraufführung, der "sie mit seiner hinreißenden Wiedergabe zu großen Erfolgen führte, sie auch für sein Engagementsdebut bei der Frankfurter Museumsgesellschaft (9. April 1922) neben Beethovens Pastorale aufs Programm setzte". Im Vorwort zur bei Ries & Erler erschienenen Partitur vermerkte Tiessen: "Das Motto 'Stirb und Werde!' (aus Goethes 'Selige Sehnsucht') deutet keine formale Zweiteilung und Gegenüberstellung an, sondern – als Einheit – die unablässige Selbsterneuerung im Menschenleben. Die Symphonie will rein als Empfindungsstrom durchlebt werden, der durch Leidenschaften und Kämpfe zur Höhe des Lebens – zu Schmerz, Überwindung und Tod – und darüber hinaus wieder zum ewig weiterschreitenden Leben führt." Aus diesem "Programm" ist auch die Verankerung des jungen Tiessen in den romantischen Idealen zu ersehen, die sich zudem in Vortragsanweisungen wie "Mit größter Wucht und Leuchtkraft" (Augmentation des Hauptthemas in den Blechbläsern am Höhepunkt), "Sehr getragen und wuchtig, in härtestem Schmerz" (Wiederkehr des "dritten Themas") oder "Langsam und groß, gleichsam ins Überirdische wachsend" (f-c-Ostinato von Pauken und tiefen Pizzicati) ausweist. Die Gestaltung der Gesamtform ist überaus originell und meisterhaft, harmonisch kühn und stringent, mit bezwingender Dramaturgie der prägnanten Motivik, die nirgends ins Willkürliche ausschweift. Die drängende, markante erstthematische Welt ist bereits von ganz persönlicher Statur. Die lyrische Gegenwelt mit ihren mannigfaltigen motivischen Bildungen und Verflechtungen läßt zwischendurch die Vorbilder Strauss und auch Wagner aufscheinen, ein klagendes "drittes Thema" gesellt sich hinzu. Eine reguläre Durchführung der sonatenartig exponierten Gegensätze findet nicht statt, der durchführende Charakter durchdringt sich nach dem Höhepunkt nach und nach mit dem repriseartigen und mündet in die Rückkehr des Anfangscharakters. Tiessen hat sein kompositorisches Ethos 1911 (bevor Busoni diesen Begriff einführte) folgendermaßen formuliert: "Das Ziel der Kunst ist Klassizität… Aufgabe der Zukunft ist es, die sich noch als Selbstzweck aufdrängenden Errungenschaften der Neuromantik für die Gestaltung einer neuen, modernen Klassizität zu gewinnen."
 
Hamlet-Suite op. 30
(Drei Orchesterstücke aus der Musik zu 'Hamlet', 1919/22)
Heinz Tiessen komponierte die Musik zu Shakespeares 'Hamlet' zwischen dem 2. August und dem 19. Dezember 1919. Die Uraufführung fand am 17. Januar 1920 im Großen Schauspielhaus Berlin unter Klaus Pringsheim anläßlich der Inszenierung Max Reinhardts statt. Der 2. Satz, 'Ophelias Tod', war erstmals am 28. 2. 1920 in der Berliner Singakademie unter Hermann Scherchen als Konzertstück zu hören. Im Dezember 1922 erweiterte Tiessen die ursprüngliche Musik und richtete sie als Konzert-Suite ein. In dieser endgültigen Gestalt wurde die 'Hamlet-Suite' am 8. Juni 1923 auf dem Tonkünstlerfest des ADMV in Kassel unter Robert Laugs uraufgeführt und, so Tiessen in seiner Werkeinführung, "wurde weitgehend als stärkster Eindruck des Abends bezeichnet… Raabe hat es noch 1923 in Aachen aufgeführt; es folgten in Berlin zwei Aufführungen unter Jascha Horenstein, in Dortmund eine unter Wilhelm Sieben. Den größten Rahmen gewährte am 19. 3. 1928 die Leipziger Alberthalle im Märzkonzert der Lichtschen Chöre, als Horenstein drei Werke von mir dirigierte: außer der 'Hamlet-Suite' das 'Vorspiel zu einem Revolutionsdrama' op. 33 und als Uraufführung die (nach 1945 in 'Visionen' umbenannte) 'Totentanz-Suite' op. 29. Erst drei Jahrzehnte später, am 7. 10. 1957, erlebte ich zum ersten Mal (unter Sergiu Celibidache) die 'Hamlet-Suite' mit den heulenden Menschenstimmen, die man im Meeressturm zu hören glaubt. (Das Werk ›kam an‹.) Die mit ungleich bescheideneren Mitteln auskommende Elegie 'Ophelias Tod' war weit leichter zu realisieren. Stefan Frenkel hatte sie frühzeitig für Violine und Klavier bearbeitet, unlängst habe ich sie, angeregt von Emil Seiler, als 'Musik für Viola mit Orgel' op. 59 eingerichtet, und in der Gruppe 'Fünf Lieder nach verschiedenen Dichtern' meiner 'Zwanzig ausgewählten Lieder' ist der den Gesang umgebende instrumentale Teil freier ausgestaltet.
Über Satz I und III der 'Hamlet-Suite' ist noch zu sagen: Im Vorspiel tobt der nächtliche Meersturm, in dem man aufheulende Stimmen zu hören glaubt. Es schält sich das Hamlet-Thema heraus, dem verzerrte Klänge von des Königs Zechgelage folgen; darauf jäh emporfahrend das Hamlet-Thema, als spräche es Worte des ersten Monologs: 'O God, O God! How weary, stale, flat, and unprofitable / Seam to me all the uses of this world! / Fye on’t ! an fye ! ’tis an unweeded garden / That grows to seed; things rank and gross in nature / Possess it merely.' Stille. Zart entfaltet sich in der Oboe die Weise des letzten Ophelia-Liedes 'And will he not come again?', leise begleitet vom Hamlet-Thema der Violen, geht unter in neuem Anschwellen des Sturmes, die Klänge des Zechgelages steigern sich zum Gipfel: Mitternacht dröhnt in 12 Tamtamschlägen, grundiert vom Hamlet-Thema. Dann völliges Abklingen. – Der Totenmarsch [Tiessen schreibt vor: "Streng rhythmisch in sehr langsamem Marschtempo; ohne jede Modification"] erscheint als Huldigung des Fortinbras für Hamlet: 'For he was likely, had he been put on, / to have prov’d most royally : and for his passage, / the soldiers’ music and the rite of war / speak loudly for him.' Die szenisch gebotene Kürze des Totenmarsches machte erforderlich, ihm für die Konzertfassung einen Vorbereitungsteil voranzustellen." In der 'Hamlet-Suite' hat Tiessen zu einem ganz persönlichen, hochexpressiv verdichteten und zugleich suggestiv tonmalerischen Stil gefunden, der ihn ganz nebenbei als einen der wirklich großen Theaterkomponisten seiner Zeit ausweist.
 
Vorspiel zu einem Revolutionsdrama op. 33 (1921/26)
Dieses Stück wurde 1921 im Zuge der Musik zu Ernst Tollers 'Masse Mensch' (Regie Jürgen Fehling an der Volksbühne) skizziert und 1926 als 'Vorspiel zu einem Revolutionsdrama' op. 33 ausgearbeitet. Das Hermann Scherchen gewidmete Werk kam am 9. März 1927 durch das Blüthner-Orchester Berlin unter Emil Bohnke zur Uraufführung. Tiessen schreibt darüber: "Nicht Vorspiel eines bestimmten Dramas. Die Entwürfe, das marschmäßige erste Thema (3/2-Takt) und das dumpfe, gequälte zweite (4/4-Takt) entstammen zwar meiner Musik zu Ernst Tollers 'Masse Mensch', die Komposition des op. 33 hat sich aber völlig davon entfernt und hat eine selbständige musikalische Gesamtgestaltung erfahren, die weder als Vorspiel zu 'Masse Mensch' möglich wäre noch auch etwa als ›Tondichtung‹ mit dem Verlauf des Dramas irgendwie parellel ginge. Skizze des Aufbaues:
A ›Sehr langsam, marschmäßig, mit größter rhythmischer Energie‹ (3/2-Takt).
B ›Dumpf und gequält‹ (Zweites Thema, 4/4-Takt, fugato).
A Reprise des ersten Teils, größer entfaltet und gesteigert zur Engführung des Fugatothemas B, mit kurzer Stretta. Generalpause.
C Zunächst intonieren geteilte Violen, die Schluß-Fuge einleitend, zart und sehnsüchtig die Weise 'Brüder, zur Sonne, zur Freiheit' in H-Dur. Modulation nach F-Dur erteilt der Trompete das Wort: sie führt das ganze Lied als dominierender Cantus firmus durch während der Fuge, deren Thematik aus Thema A entwickelt ist (Allegro, 2/2-Takt) und zuletzt in einer heftigen Krise gipfelt (Posaunen-Einsatz unisono mit Thema A), bis ein strahlender Ges-Dur-Quartsextakkord den Durchbruch zum hellen F-Dur gewährleistet. Als Coda hört man, zu melodischen Nachklängen des Cantus firmus, nur den Ton f in allen Lagen im Rhythmus des Themas A nochmals vom Pianissimo zum Fortissimo unerschütterlich emporsteigend.
Im Jahre der Uraufführung habe ich das Werk selbst zweimal auf Einladung dirigiert, in Crefeld auf dem Fest des ADMV (13. 6. 1927) und in Wiesbaden (im Schuricht-Konzert, 11. 11.)…, später noch in Königsberg… und in Berlin… Das Werk wurde oft aufgeführt, stets mit großem Erfolg, von Jascha Horenstein, Hermann Scherchen, Karl Rankl, Wilhelm Knöchel, Paul Scheinpflug, Paul A. Pisk, Anton von Webern [Wiener Erstaufführung 1929]… Es folgten bald Stuttgart, Kassel, Leningrad 1931. – Aus Furcht vor der Gestapo beschloß der Verlag, das Werk zu vernichten – bis auf einen kleinen Rest für sein Archiv und für mich. Nach Kriegsende hat in Berlin (Dezember 1946) Sergiu Celibidache mit dem Philharmonischen Orchester das Werk viermal aufgeführt, wobei auf Anordnung der sowjetischen Besatzungsmacht der Namensteil ›Revolutions-‹ fortfallen mußte, den übrigens Scheinpflug in Duisburg 1928 von sich aus gestrichen hatte."
1928 berichtete Kurt Westphal in der Februarnummer der Zeitschrift 'Die Musik': "Zweifellos gehört Tiessen zu den Begabtesten. Der Instinkt für szenisch empfundene, an szenische Darstellung gebundene Musik, der sich in mehreren seiner Bühnenmusiken offenbart hat, bewährt sich auch in diesem Vorspiel. Auch dieses Stück ist kaum getrennt von einem szenischen Vorgang denkbar. So sieht Revolution auf einem modernen Theater aus. Wirkliche Revolutionsmusik würde fesselloser sein. Hier aber ist alles geformt, Revolution in ein künstlerisches Prinzip übertragen, Revolution als Choreographie gesehen. Ausgezeichnet das Hauptthema, das sich träge in zunächst kleinen Intervallschritten vom Grunde des c erhebt, sich dann in größeren aufbäumt, um sich schließlich in der großen Septime steil aufzurichten. Organisch keimt aus dieser Exposition ein Fugato, welches das Thema von unten nach oben schichtet und sich gleichfalls vom pp zum FFF aufreckt. Nach einer fast unveränderten Reprise des Anfangs setzt bald darauf ein dritter Aufstieg ein, nun aber mit dem Thema in der Umkehrung und in doppelt so raschem Tempo. Er gipfelt in einer von sämtlichen Instrumenten markierten rhythmischen Formel, die das Hauptthema nur mehr in seiner rhythmischen Gestalt zeigt, und endet in strahlendem F-Dur. – Der programmatische Charakter des Stückes ist unverkennbar, gedanklich und thematisch berührt es sich mit Kreneks 'Zwingburg'. Im Konzertsaal, in dem die Aufmerksamkeit des Hörers ausschließlich der Musik gilt, dürfte dieses Orchesterstück mit seiner geradezu körperlichen Wucht überstark wirken. Es ist durchaus aus dem Geist des Theaters, genauer: dem Geist tänzerischer Bewegungsdramatik geboren. Ich wünschte es mir in der Darstellung etwa durch die Wigman-Tanztruppe; die Verschmelzung von Klang und Geste müßte restlos sein."
 
Salambo-Suite op. 34a
(Zwei Orchesterstücke nach dem Tanzdrama op. 34,
komp. 1922/23/56)
Das dreiviertelstündige Tanzdrama 'Salambo' in drei Bildern von Lucy Kieselhausen frei nach Flaubert darf als Heinz Tiessens ambitioniertestes Werk gelten. Tiessen 1924 in 'Das Prisma' (Bochum-Duisburg): "Die Musik der 'Salambo' wurde – ursprünglich nach einem Szenarium von Lucy Kieselhausen, das später nach dem Tode der Tänzerin vom Komponisten wesentlich verändert wurde – komponiert von Mitte Dezember 1922 bis April 1923. An Stelle einer naturalistisch-impressionistischen, illustrierenden oder doch literarisch gefügigen Haltung, wie sie damals noch vorherrschend war, suchte sie den Aufbau mit klaren eigenen Umrissen zu gestalten und die Kongruenz mit der Handlung (die als Tanz, nicht als Pantomime gedacht ist) nicht im Detail, sondern nur in der großen Kurve zu geben." Lucy Kieselhausen, Schülerin Grete Wiesenthals, starb 1926. "Nach ihrem schrecklichen Unfalltode (durch Benzinexplosion im Badezimmer bei brennender Stichflamme) hatte ich keine weiteren Schritte für das Werk unternommen; ich war mir überhaupt nicht bewußt, in meiner Partitur ein wirtschaftlich ausnutzbares Wertobjekt zu besitzen, und es ist sehr fraglich, ob ich andernfalls aus einem solchen Bewußtsein praktische Folgerungen gezogen hätte. Ich bin auch nie auf den Gedanken gekommen, Erfolge auszunutzen, sondern habe mich im Gegenteil stets ganz anderen Dingen zugewandt.
'Herr Tiessen, haben Sie nicht ein Ballett geschrieben?' Diese Frage, die Hermann Bischoff im Namen des ADMV im Jahre 1928 an mich stellte, war der Auftakt für die Uraufführung der 'Salambo'. Sie fand statt im Duisburger Stadttheater (Intendant: Saladin Schmitt) am 21. Februar 1929 und wurde zum Musikfest des ADMV (3. Juli) wieder aufgenommen. (Choreographie: Julian Algo, Dirigent: Gotthold Ephraim Lessing, Salambo: Edith Judis, Matho: Werner Stammer.)
Daß Salambo, die durch ihre Pflichthandlung als karthagische Oberpriesterin die grausame Vernichtung Mathos [des Anführers der meuternden Söldner] ermöglicht hat, in meinem Tanzdrama nicht eines so passiven Todes stirbt wie bei Flaubert, sondern in der Fassung von Lucy Kieselhausen sich an Mathos Leiche selbst den Tod gibt – was auch darstellerisch ganz anders ›über die Rampe kommt‹ –, erinnerte mich an den Schluß eines der genialsten modernen Romane: 'Die kleine Stadt' von Heinrich Mann. Die schöne junge Alba Nardini, die soeben in jäher Enttäuschung ihrer Liebe den Geliebten – Tenor und Frauenliebling – Nello Gennari erstochen hat, drückt sich, Leib an Leib mit ihm, das gleiche Todesmesser ins eigene Herz. Dieser fast wie Alltagstragik anmutende Vorgang erhält in beiden Fällen durch die Situationen und Charaktere dichterische Spannkraft, und die bei aller Unvergleichbarkeit der Gestalten und Umstände doch verwandte Reaktion im letzten tragischen Ja zur Liebe hatte mir den Stoff so nahe gebracht, daß ich ihn miterleben konnte, wie es not tat, um mich voll mit ihm zu identifizieren. Der Publikumserfolg war eindeutig und wurde von der Presse bestätigt. Als das, was man 'Personalstil' nennt, und als ein in imposanter Linie aufsteigendes Bühnenwerk wurde 'Salambo' vollauf gewürdigt. Besonders berührten mich die verständnisvollen Worte, mit denen Alfred Einstein im Berliner Tageblatt meine Art und Auffassung bestätigte: 'Streng gefügt und dabei lebendig; Geste von stärkstem Ausdruck und dabei Musik'. Einige nannten 'Salambo' mein stärkstes Werk. Gewisse Kritiker machten aus ihrem Mißvergnügen kein Hehl, doch auch solche waren überzeugt, daß 'Salambo' über viele Tanzbühnen gehen würde. Es kam aber anders. Immer bedrohlicher kündigte sich das herannahende politische Erdbeben an, und trotz aller erfolgversprechenden Werbechancen hatte es mit der Duisburger Aufführungsreihe [bis heute!] sein Bewenden. Die tieferen Ursachen dürfte George Antheil, der mit dem Frankfurter Erfolge seiner Oper 'Transatlantic' in ähnlicher Lage war, in seinem 'Enfant terrible'-Buche richtig aufgezeigt haben: Die 'Inhaber politischer Ämter spürten die unausweichlich wachsende Macht der Hitlergruppe'; das Hitlerwort: 'Wenn wir zur Regierung kommen, werden Köpfe rollen!' war 'für alle wankelmütigen Stadt- und Länderregierungen das Zeichen, ihre beherzten liberalen Direktoren hinauszuwerfen'. Wie in kommunizierenden Röhren nach den hydrostatischen Gesetzen die Flüssigkeitsspiegel die gleiche Höhe zeigen, so schwand, in vorgeleisteter Gleichschaltung, die mutige Initiative der Programmgestalter überall im deutschen Konzert- und Opernwesen: es trat ein alarmierender Rückgang moderner Werke ein." (soweit Tiessen 1962 in 'Wege eines Komponisten'; weitere Informationen zum Tanzdrama stellt ein Aufsatz von Lucian Schiwietz in dem von Klaus Ley herausgegebenen Sammelband 'Flauberts Salammbô in Musik, Malerei, Literatur und Film, Tübingen 1998, bereit.)
1956 komprimierte Tiessen große Teile der Salambo auf Anregung seines Schülers Sergiu Celibidache zu einer für den Konzertsaal bestimmten 'Salambo-Suite' op. 34a (Zwei Orchesterstücke nach dem Tanzdrama op. 34), die Celibidache am 7. 10. 1957 im Tiessen-Geburtstagskonzert im Titaniapalast mit dem Radio-Symphonieorchester Berlin uraufführte. Stuckenschmidt schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22. 10.) über das Konzert: "In der Hamlet-Musik, die Tiessen 1919 für Reinhardt schrieb, stehen Dinge von einer beklemmenden Dichte der Stimmung, Akkordfolgen jenseits der Tonalität, in denen eine zangenhaft zwingende Logik am Werk ist. Hauptstück jedoch war die Konzertmusik aus dem Salambo-Ballett von 1927. Tanz und Todestanz Salambos, Triumphtanz Mathos, die lyrischen Klagen des Adagios, der Trauermarsch – das ist Musik aus starker, unbeirrter Eingebung, von vegetativen Kräften der Polyphonie genährt, unverbraucht im Klang und in der dissonanten Harmonik, immer wesentlich und oft von heftigem Temperament getragen. Celibidache und das Radio-Symphonieorchester spielten mit einer Hingabe, die in vielen Proben ihren adäquaten Ausdruck fand. Ein großer, gerechter Erfolg für Tiessen."
 
Errungenschaft und Erbe
Man kann getrost in der 'Salambo' und dem davor, im September 1920, komponierten Streichquintett op. 32 die eigentlichen Höhepunkte von Heinz Tiessens hauptsächlicher Schaffenszeit erblicken. Die expressive Polyphonie, die Vorherrschaft des linearen Triebs, schafft ein Maximum an melischer Spannung und grell dissonanter, dabei immer profund ausgehörter harmonischer Explosivität, getaucht ins vielfältige Licht dramaturgisch klar geführter Orchesterfarben. Die Dominanz des polyphonen Prinzips führt jedoch nie dazu, daß – wie bei vielen seiner fortschrittstrunkenen Zeitgenossen und Nachfolger – die harmonische Fortschreitung ins Zufällige, Willkürliche oder schlicht Unwesentliche abtriebe. Auch die extremsten Entfernungen, die dem ungeübten Ohr quasi atonal, also bezugslos, erscheinen mögen, sind in freitonaler, an keine Lehrkonvention gebundener Weise mit dem Ausgangs- und Zielpunkt unauflöslich verkettet und lassen so die Gesamtform als vom Komponisten erlebten und demzufolge für den Hörer erlebbaren, eindeutigen prozeßualen Zusammenhang fast körperhaft mächtige Gestalt annehmen. Tiessen trieb die von Strauss und Reger angestoßenen, von Schönberg expressionistisch im seelisch-Gestischen übersteigerten freitonalen Errungenschaften weiter, indem er den darin verborgenen, "ewigen Gesetzen" nachspürte und so – im Gegensatz zur zwölftönigen Patentmethode – den unwillkürlichen, aus sich selbst funktionierenden Bau großer Formen auf der Grundlage einer Befreiung von den dur-moll-tonalen Konventionen – die von ihm angestrebte "Einheit von Gehalt und Gestalt" – ermöglichte. Sein Schüler Eduard Erdmann folgte ihm darin nach und übertrug diese Schaffensprinzipien in seinem eigenen, völlig andersartigen und im Gestalthaften hörbar mehr am freitonalen Schönberg orientierten Stil auf die Gattung der Symphonie. Auch Sergiu Celibidache trug das kreative Ethos seines Lehrers Tiessen weiter, und die künstlerisch herausragende und gesellschaftsrelevante Stellung Celibidaches in der Musik der zweiten Jahrhunderthälfte ist in dieser Form ohne Tiessen Einfluß und auch noch im fortgeschrittenen Stadium korrektive Präsenz nicht denkbar. Für Celibidache hat Tiessen eine in manchem ähnliche, wenn auch noch intensiver prägende Rolle gespielt, wie zuvor Heinrich Schenker für Celibidaches anderes musikalisches Idol, Wilhelm Furtwängler. Weitere namhafte Kompositionsschüler Tiessens, der wie vielleicht kein anderer Zeitgenosse in den korrelativen Geheimnissen der in keine Schemata sich fügenden Modulationsprozesse zuhause war, sind Josef Tal, Rolf Kuhnert, Wolfgang Steffen und der Finne Erik Bergman.

Christoph Schlüren

(Originalfassung eines Booklettextes für Koch-Schwann)