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Nikos Skalkottas (1904-49)

Folklorist und Zwölftöner

Musikgeschichte wird, vor allem in unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen, meist in Trends, Strömungen und Kategorien geschrieben, die stets mit wenigen überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch viele jener Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz Großen" gezählt werden, Persönlichkeiten sind, deren Werdegang und Werk in keine Schublade paßt, sondern eine eigene Kategorie begründet. Als Schüler Schönbergs entwickelte er seine eigene Zwölftontechnik und veredelte zeitgleich die nationale Folklore in 36 zündenden griechischen Tänzen: Griechenlands bedeutendster Komponist
Nikos Skalkottas (1904-49).Folklorist und Zwölftöner(Anspieltip: Ten Sketches for strings)
Unter den Schülern Arnold Schönbergs, die eigenständige Größe erlangten, ist Nikos Skalkottas der vielleicht Exotischste und – zusammen mit Egon Wellesz – der am meisten Vernachlässigte. Die meisten seiner wichtigsten Werke waren bis zuletzt nur einem kleinen Kreis von Spezialisten zugänglich, werden nun aber nach und nach via CD dem breiten Publikum zugänglich, bezeichnenderweise in Aufnahmen fern der griechischen Heimat, wo man ihn zu Lebzeiten als Kakophoniker ignorierte und nur die zwischen 1931 und 1936 entstandenen Griechischen Tänze für Orchester begeistert aufnahm. In Zentraleuropa dagegen haben gerade diese populären, hinreißenden Werke seinem Ruf als seriöser Komponist im Klima allgemeinen Fortschrittsdenkens geschadet.
Nikolaos Skalkottas wurde am 21. März 1904 auf Euböa geboren und wuchs in musikbegeistertem Milieu heran. Die Familie zog nach Athen, und der Fünfjährige begann mit dem Geigenspiel. Bereits mit zehn Jahren studierte er am Athener Konservatorium, wo er 1920 mit Beethovens Violinkonzert bravourös abschloß. Ein Stipendium brachte ihn nach Berlin in die Meisterklasse von Willy Hess. Er erwarb sich einen Ruf als hervorragender Virtuose und hochsensibler Kammermusiker. 1923 entdeckte er recht plötzlich seine Leidenschaft fürs Komponieren und nahm Stunden bei Paul Juon und Robert Kahn. Bald wurde die vielversprechende geigerische Laufbahn in den Hintergrund gedrängt. Skalkottas’ frühe Werke, darunter eine ambitionierte Sonate für Solovioline, entstanden im Umfeld von Ferruccio Busonis "Neuer Klassizität", und Busonis Schüler Philipp Jarnach wurde sein erster prägender Lehrer. Als Jarnach 1927 Berlin verließ, trat Skalkottas in die Klasse Arnold Schönbergs ein, der ihn hoch schätzte, und erhielt daneben zeitweise Unterricht von Kurt Weill. Er entwickelte schnell seine eigene Art der Reihentechnik, indem er seine Werke mit unterschiedlichen, einander kontrapunktierenden Zwölftonreihen aufbaute, die in harmonisch reizvolle Wechselwirkung traten und quasi-tonale Felder entstehen ließen. Hierin setzte er sich selbstbewußt von den bei Schönberg erlernten asketischen Prinzipien ab. 1931 endete die Unterweisung bei Schönberg, und im Mai 1933 reiste Skalkottas überstürzt nach Griechenland zurück – mit leeren Händen: seine Lebensgefährtin, mit der er zwei Kinder hatte, und seine sämtlichen Manuskripte blieben in Berlin. Ungefähr 60 seiner ca. 170 Werke sind deshalb heute verschollen. In Griechenland begegnete man ihm mit Ressentiments und Verständnislosigkeit. Er verdiente sein Geld als Orchestergeiger, lebte zurückgezogen und sprach mit fast niemandem über sein Schaffen, das in der Isolation immer kühner und charakteristischer wurde. Zwischen 1935 und 1945 schuf er ein immenses Œuvre von zunehmender struktureller Komplexität und architektonischer Meisterschaft, das in Werken wie der ursprünglich als Opernvorspiel geplanten, vielgestaltig packenden Sinfonie "Die Heimkehr des Odysseus" (1942) und der unvollendeten Zweiten Orchestersuite gipfelt. Zu letzterer gehören das weitgespannte Largo sinfonico und die zackig herausfahrende Ouverture concertante (1944-45).

Skalkottas erweist sich als fantasievoller, vertikale Balance und weitflächige Steigerungen überlegen disponierender Orchestrator, dessen Orchestrationslehre leider bis heute Manuskript geblieben ist. Souverän auch Skalkottas’ dramaturgische Disposition, die Art, wie er beispielsweise im Largo sinfonico die massivste kontrapunktische Übereinanderschichtung für den Höhepunkt aufspart. In diesem Werk ist auch besonders auffällig, wie er seine Formen blockartig zusammenfügt, was er durch die Orchestration unterstreicht. Vielleicht noch überzeugender sind seine Zyklen kürzerer, sehr virtuoser Stücke wie die Zehn Skizzen für Streicher, die so unterschiedliche, traditionelle Satztypen wie Passacaglia, Ragtime oder Rondo aufs Originellste neu beleuchten. Da durchdringen sich feuriges Musikantentum und elaborierte freitonale Techniken, wie auch in dem Zyklischen Konzert für vier Bläser und Klavier, welches Elemente von Strawinsky, Hindemith und Schönberg mit halsbrecherischer Spielfreude verbindet. Sind hier Groteske, Humor und Poesie vorherrschend, so durchweht viele seiner langsamen Sätze ein tragischer Ton (dies schon im 1. Klavierkonzert von 1931). Solokonzerte bilden den Schwerpunkt seines Orchesterschaffens, und das Violinkonzert kann sich – neben denjenigen von Wellesz und Fartein Valen – als Nebengestirn von Berg und Schönberg behaupten. Fesselnd sind die drei sehr unterschiedlichen Klavierkonzerte. Beim Kontrabaßkonzert hingegen, mit einem wundervoll wachgeträumten Andantino im Zentrum, stehen Balanceprobleme weiterer Verbreitung entgegen.
Eine womöglich angestrebte Fusion des zündenden volkstümlichen Idioms seiner griechischen Tänze (das er ähnlich suggestiv entfaltete wie Kodály in seinen Tänzen) mit den freitonalen und zwölftönigen Ausdrucksmitteln sollte Skalkottas nicht mehr erreichen. Er starb viel zu früh am 20. September 1949 in Athen an den Folgen eines unbehandelten Bruchs. In dem Märchendrama "Maienzauber" nutzte er die stilistischen Gegensätze unverbunden zu psychologischer Charakterisierung. Eigentlich muß man bei Skalkottas von mehreren, entfernt miteinander verwandten Stilebenen sprechen, die in Meisterwerken wie den Zehn Skizzen für Streicher frisch und präzise ineinanderspielen und unwiderstehlichen Zauber ausüben.
Christoph Schlüren

(Längere Fassung eines 'Kleinen Lauschangriffs' für Klassik Heute, 1999)
Diskographie:
Violinkonzert (1938), Largo sinfonico (1944), 7 Griechische Tänze für Streicher; G. Demertzis (Violine), Malmö SO, N. Christodoulou; BIS 904
Klavierkonzert Nr. 1 (1931), Ballettsuite "Das Mädchen und der Tod" (1938), Ouverture concertante (1944-45); G. D. Madge (Klavier), Iceland SO, N. Christodoulou; BIS 1014
Maienzauber-Suite (1944/49), Kontrabaßkonzert (1942), 3 Griechische Tänze für Streicher (1936); V. Papavassiliou (Kontrabaß), Iceland SO, N. Christodoulou; BIS 954
10 Skizzen für Streicher (+ Werke von Sicilianos); La Camerata, A. Myrat; Agora AG 127
Sinfonie "Die Heimkehr des Odysseus" (1942, + 1. Sinfonie von Kalomiris); Dänisches RSO, M. Caridis; Koch-Schwann 311 110
"Die Heimkehr des Odysseus" für 2 Klaviere, Werke für Cello und Klavier; P. Segerstam (Cello), N. Samaltanos, C. Sirodeau, M. Belooussova (Klavier); Agora 009
"Zyklisches Konzert": 2 Quartette für Klavier, Oboe, Trompete und Fagott, Sonata concertante für Fagott und Klavier, 2 Concertini für Oboe bzw. Trompete und Klavier; H. Holliger (Oboe), K. Thunemann (Fagott), H. Hardenberger (Trompete), B. Canino (Klavier); Philips 442 795-2
Vertrieb von BIS und Agora: Klassik-Center
(Stand: Juli 1999)

Anspieltip:
Ten Sketches for strings