Am 9. Februar schaute die musikalische
Welt, vor allem diejenige Finnlands, für eine gute halbe Stunde
auf das südfinnische Lahti. Wurde dort doch tatsächlich
zum ersten Mal in diesem Jahrhundert eine der gewichtigsten Tondichtungen
von Jean Sibelius öffentlich aufgeführt: Skogsrået,
die Waldnymphe op. 15, komponiert 1895 nach Kullervo, der Karelia-Suite
und den ersten zwei Fassungen von En Saga. Sibelius hatte die zwei
ersten Aufführungen der Waldnymphe im Entstehungsjahr ebenso
dirigiert wie zwei weitere Aufführungen 1899 zusammen mit der
Uraufführung seiner ersten Symphonie. Danach beabsichtigte
er offensichtlich, das Werk nochmals zu überarbeiten, wozu
es jedoch nicht mehr kam. Die Waldnymphe ruhte forthin in der Schublade.
Als Sibelius jedoch 1936 um einen symphonischen Beitrag Finnlands
anläßlich der Tagung der Gesellschaft für Nordische
Zusammenarbeit gebeten wurde, hatte er keine Einwände gegen
den Vorschlag des Dirigenten Georg Schneevoigt , das vernachlässigte
Werk zu präsentieren.
Diese Darbietung für privilegiertes Publikum war bis heute
die letzte. Viele Forscher und Biographen haben seither das Werk
erwähnt, die Partitur, die sich in der finnischen Nationalbibliothek
befindet, in Händen gehabt. Aber niemand kam auf die Idee,
es aufzuführen. Die Länge wurde offiziell auf etwa zehn
Minuten geschätzt, und so kam es nun doch einer Sensation gleich,
daß die Ausmaße nicht geringer als jene der siebenten
Symphonie sind und üblicherweise zwanzig Minuten überschreiten
dürften. Die Partitur weist zahlreiche Streichungen auf, mittendrin
entfernte Sibelius vier Seiten, außerdem sind - leider nicht
eindeutige - Kürzungsvorschläge eingetragen, mithin: es
handelt sich um ein letztlich nicht detailliert ausgearbeitetes
Werk, das Sibelius dennoch für wert befand, im Katalog seiner
Werke zu bestehen und gespielt zu werden. Im gleichen Jahr 1895 schrieb er auch
eine zehnminütige Kuriosität gleichen Titels, ein Melodram
mit Begleitung von Streichern, drei Hörnern und Klavier auf
ein Gedicht von Viktor Rydberg. Was zuerst entstand, die Symphonische
Dichtung oder das recht unerhebliche Genrestückchen, ist nun
Gegenstand wissenschaftlicher Deutungen.
Das Konzert der Sinfonia Lahti in der akustisch problematischen
Ristinkirkko (Kreuzkirche) unter der Leitung des engagierten Chefdirigenten
Osmo Vänskä wurde - infolge der unerwarteten Dimension
des im Januar für eine BIS-CD ersteingespielten Werks - außerplanmäßig
angesetzt, wodurch nur ein Minimum an Proben zur Verfügung
stand. So konnte man die tatsächliche Größe der
Waldnymphe nur erahnen, und der Eindruck einiger spannungsarmer
Längen war unvermeidbar. Das Melodram, gesprochen von Lasse
Pöysti, einem der populärsten finnischen Schauspieler,
verblasste neben der grandiosen Tondichtung fast zum petit rien.
Nirgends sonst hat Sibelius einer solchen Invokation der Haupttöne
A und C Raum gegönnt, und die zeitliche Nähe zu En Saga
ist deutlich in jenen Mollabschnitten, die vielleicht am treffendsten
als "music from the inner pines" bezeichnet werden. Zwischendurch
kommen unverstellt Grüße aus Karelia, und der machtvolle
Schluß legt die Plazierung zum Programmende nahe. Ob die stark
kontrastierenden, in sich sehr flächig gebauten Teile formal
zwingend aufeinander bezogen sind, müssen künftige Aufführungen
beweisen. Die aber, so hat es die Sibelius-Familie bestimmt, sind
untersagt, bis das gedruckte Notenmaterial vorliegt. Noch jedoch
ist nicht bekannt, wer der Verleger sein wird. So wandert also diese
mächtige Nymphe nach stürmisch gefeiertem Comeback vorerst
wieder in die Schublade.
Christoph Schlüren
(Rezension für Frankfurter Rundschau, Februar 1996) |