Leidenskosmos - EntpersönlichungAllan Pettersson |
Wenn ein Mensch schreit vor Schmerz über das Schwarz dieser Welt, und
seine Schreie, da er ein symphonisch berufener Komponist ist, sich
in riesenhaft verzerrten Klangdomen artikulieren, die er zu Papier
brachte und sich dabei, verkrüppelt an Leib und Seele, immer
mehr entfernte vom Kalkül mit den realen Klangverhältnissen
seines Instruments - des Orchesters; wenn dieser kreativ getriebene
Mensch sich also in überquellendem Erleben immer mehr von der
in ihren Möglichkeiten beschränkten praktischen Aufführungssituation
entfernte, dann muß die (Gewissens-)Fragestellung sich selbst
hinterfragen: Inwieweit ist eine authentische Ausführung möglich?
Sprich: Ist es authentischer, wenn ich mich strikt nach dem im Notentext
Fixierten richte, auch wenn die entscheidenden, das Geschehen eigentlich
bestimmenden Vektoren dann verdeckt werden, im instrumentalen Dickicht
verschwinden? Oder ist es besser, zugunsten der Klarheit der Entwicklung
in jedem Moment behutsam einige "Korrekturen" einzuführen,
die das Hervortreten der wichtigsten Stimme ermöglichen, die
es ermöglichen, das zu hören, was der Komponist mutmaßlich
vor seinem inneren Ohr wahrnahm? Der amerikanische Saxophonist John-Edward
Kelly, der überragende Künstler in notierter Musik auf
diesem Instrument in unserer Zeit und der Einzige, der dieses nach
den originalen Maßgaben von Adolphe Sax spielt, hat sich bei
Allan Petterssons 16. und letzter Symphonie (faktisch einer Sinfonia
Concertante mit Saxophon Solo) für letzteren Weg entschieden.
Wo notwendig, um nicht in den hochwogenden Orchestermassen zu ertrinken,
oktaviert er seine Stimme (ein paarmal im Piano fragt man sich,
ob's wirklich nötig ist oder einfach nur so wundervoll klingt).
Damit verleiht er diesem vehement weltabgeschotteten Werk eine durchtragende
Kontinuität, die alle zerhackenden Attacken, alle hochfahrenden
Zerrissenheiten überbrückt, ohne irgendetwas zu glätten.
Im Gegenteil - was bisher außer Ida Haendel wohl keiner so
erreicht hat: Den konventionsabgewandt zerklüfteten Verzweiflungsgesang
des späten Pettersson unzweideutig zusammenhängende Gestalt
werden zu lassen. In der dritten Symphonie, die Pettersson unmittelbar nach dem endgültigen Abschied von tradierter symphonischer Dramaturgie ausweist, und in der in ihrer unmittelbar ergreifenden Eindringlichkeit wohl auch weiterhin dem unvorbelasteten Hörer das Tor zu Petterssons Leidenskosmos aufstoßenden siebenten Symphonie hat der finnische Dirigent Leif Segerstam zu einer unvergleichlich lebendigen Durchformung dieser todessehnsüchtig-lebenszornigen Martyrien gefunden, die dem Endlosen entgegentreiben, ohne je ins Redselige zu verfallen. Ethisch war Pettersson jedenfalls keinesfalls gefährdet. Von lähmender Impulsivität ist die höllisch glühende, unablässig in sich selbst rotierende, hypnotische Passivität der elften Symphonie. Holy dust aus dem "Tunnel des Todes". Jenseits eines 'kommunikativen Geistes' - und auch den Musikern offenbar zu sperrig entlegen - sind die Regionen der 15. Symphonie: Sicher ein Endpfeiler der Gattung, wenn auch nicht der erste. Wie die Endzeitmär vom "letzten großen Symphoniker" ein wissensfernes Geheimnis des Glaubens ist, sind doch gerade im Norden heute - nach Pettersson! - mit dem Finnen Pehr-Henrik Nordgren, dem Schweden Anders Eliasson und dem Norweger Halvor Haug drei ganz große Symphoniker auf der Höhe ihrer Aktivität. In unseren Breiten freilich ist keiner zu sehen. Lange übt sich, wer ein Ende herbeireden möchte. Petterssons monumentales zweites Violinkonzert übrigens liegt in der grandiosen Einspielung mit Widmungsträgerin Ida Haendel vor; das dem dissonanten Bartók noch einigen Dank schuldende erste - für Geige und Streichquartett -, gekoppelt mit interessanten frühen Kammermusiken, ist unlängst mit Ulf Hoelscher erschienen. Wie früh die wesentlich entropischen Merkmale in Petterssons Stil schon Ausprägung fanden! Hochvirtuose Kollisionskurse für zwei Geiger als Vorstadien zum symphonischen Exzeß sind die sieben Duosonaten von 1951 - Zwangsnahrung für unerschrockene Entdecker! Christoph Schlüren (Beitrag für Frankfurter Rundschau, Mai 1996) |