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Per Nørgård

Komponieren als Akt der Befreiung

Per Nørgård gilt heute als Dänemarks bedeutendster Komponist und einer der wichtigsten nordischen Tonsetzer dieses Jahrhunderts. Er hat sich seine eigene Tonwelt abseits von Traditionen und Modernismen geschaffen. Dabei ist er mehr ein Entdecker verborgener Welten als ein Erfinder hermetischer Systeme. Irgendwie ist Nørgårds Haltung als Mensch und Künstler immer die des Staunenden, jugendlich ins Freie Drängenden geblieben. Schon früh war Nørgård, der am 13. Juli 1932 in Gentofte geboren wurde, fasziniert von verschiedenen Wellenlängen, er war "okkupiert von den Interferenzen". Bald entwickelte er den Bedarf, die "fast chaotische Pluralität der verschiedenen Strömungen, Pulsationen, Geschwindigkeiten usw. in dieser Welt" in Musik auszudrücken. Heute bewundert er vor allem bei Schubert und Sibelius eine extreme Begabung, diese Schwingungen zu transportieren – wobei die stetige Gegenwart der Katastrophe-Erfahrung nicht imstande ist, die Himmel zu verdunkeln, denn "stets ist da ein Licht, das durchschimmert". Zehnjährig begann Per mit dem Komponieren. Er vertonte Texte seines älteren Bruders zu "Schlagern im Vierziger-Stil für die Familie", die er zusätzlich mit Zeichnungen illustrierte. Als sein Bruder zum Wehrdienst einberufen wurde, machte er sich mit fünfzehn Jahren ernsthaft ans Komponieren. Eine erste Klaviersonate verblüfft bereits mit ihrem Eigenton. Nørgård wurde zunächst Privatschüler des Symphonikers Vagn Holmboe, dessen Liebe für Bartók und Sibelius mit den Neigungen des Studenten gut zusammenpaßte. In dem 1950-51 komponierten Streicherwerk "Preludio" weisen die schnellen Ecksätze Spuren der Beschäftigung mit Bartók auf – weswegen Nørgård sie weiterhin nicht freigibt –, wogegen das Adagio daraus in schlackenloser Form schon ganz unverkennbar persönlich ist. Nørgård hegte bald größte Bewunderung für den naturhaften Gestalter Jean Sibelius, für dessen revolutionären Umgang mit musikalischer Form und Resonanzphänomenen. Die 1955 entstandene "Metamorfosi" für Streicher ist sicher eine Huldigung an Vagn Holmboe, den Vordenker organischer Konstruktion, bei dem Nørgård – ebenso wie bei Holmboes Lehrer Finn Høffding, einem Schüler Carl Nielsens – ab 1956 am Kopenhagener Konservatorium studierte. Man hat diesen, bis zum Ende der fünfziger Jahre reichenden Abschnitt als Nørgårds "nordische Phase" bezeichnet, wozu das 2. Streichquartett ("Quartetto brioso"), die Erste Symphonie ("Sinfonia austera"), die 2. Klaviersonate, die Partita concertante für Orgel und die "Konstellationen" für Streicher zählen. Die Strukturen wurden immer komplexer, das freie Spiel der Kräfte mündete in grandios ausgefalteter, rhythmisch überaus differenzierter Vielstimmigkeit. Mehr und mehr empfand Nørgård die Notwendigkeit ordnender Prinzipien in der Töneflut. Bei Nadia Boulanger in Paris war er Zeuge des historischen Avantgardismus geworden, wobei seine Eindrücke vom epochemachenden Spektakel der domaine musical-Konzerte überwiegend negativ waren: "Ich war immer empfindsam für menschliche Eindrücke – die Dame mit den Sonnengläsern, die Boulez umarmte; David Tudor mit tierischem Ernst unter dem Klavier… Ich war da der Emigrant aus dem hohen Norden, den ich für mich entdeckt hatte, sei es mit dem Kanu oder in Sibelius."
Der Serialismus stieß ihn als künstliche Methodik ab, und er suchte nach natürlichen Lösungen. Da entdeckte er 1959 jene Unendlichkeitsreihe für die Melodik, wo die Intervalle – nach numerisch gerade und ungerade plazierten Noten geschieden – in determinierter Folge auf periodisch immer weitere Distanzen hinausprojiziert werden – wobei sich auf den verschiedenen Ebenen immer wieder jene Selbstähnlichkeiten einstellen, die später die fraktale Forschung feststellen sollte. In seinen 6 Fragmenten für verschiedene Besetzung hantierte er erstmals mit diesen neuen Prinzipien. Der Beginn der sechziger Jahre förderte auch in Nørgård gesellschaftlichen Protest zutage, der sich in bewußt "unreiner" Schreibweise kundtat – so in der Collagetechnik der Oper "Labyrinth" und des Fernseh-Balletts "Le jeune homme à marier".
Einen Markstein auf seinem Weg zu stilistischer Klarheit bildete 1967 das schillernde Klangflimmern der Orchesterstudie "Iris", der die vierteilige "Luna" für Orchester folgte. In "Voyage into the Golden Screen" (1968-69) ist praktisch die ganze rhythmische und harmonische Fortschreitung aus den melodischen Hierarchien der Unendlichkeitsreihe gewonnen.

Die Zweite Symphonie (1970) und die mit dem Nordic Council Music Prize ausgezeichnete Ritual-Oper "Gilgamesh" maximierten diese einseitige Ausrichtung.
1971 wendete Nørgård in "Canon" für Orgel erstmals ein neues, spezifisches Strukturationsprinzip auf die rhythmischen Werte an: Die rhythmischen Proportionen gehorchen von nun an den Gesetzen des Goldenen Schnitts. Die Behandlung des Rhythmus wird also einer völlig anderen Maßgabe unterzogen als jene der Melodie. Und die Harmonie wird von den naturgegebenen Verhältnissen der Ober- und Untertonreihe aus verstanden. Mit der Kopplung dieser drei Ordnungssysteme schuf sich Nørgård einen gigantischen Klangkosmos, innerhalb dessen er operieren konnte, was zur "hermetischen Vollendung" der Dritten Symphonie und der Oper "Siddharta" führte. In dem Moment, als seine kompositorische Entwicklung stillzustehen drohte, begegnete er den bizarren Werken des schizophrenen Schweizer Künstlers Adolf Wölfli. Die Folge war ein Umkippen der Werte, die bis dahin angestrebte vollendete Hierarchie der involvierten Elemente wurde der Kollision mit der unberechenbaren Sprengkraft chaotischer Aktivitäten unterworfen: "Es war plötzlich unvorhersehbar, wie der Rhythmus sich entwickelte, und die nun auftauchenden neuen rhythmischen Formeln hätte ich in der Geborgenheit des strahlenden Universums, in dem ich mich zuvor orientierte, nicht entdeckt." Es entstanden als weitere Hauptwerke die Vierte Symphonie "Indischer Roosen-Gaarten und Chineesischer Hexen-See" (1980-81) und die Wölfli-Oper "The Divine Tivoli", sodann die drei Konzerte für Streichersolist mit Orchester, und 1986-90 die Fünfte Symphonie, ein wildes Ungetüm, "ein besonderes Wesen von 35 Minuten Dauer. Ich selbst weiß nicht, ob diese Symphonie ein- oder mehrsätzig ist. Verschiedene Schichten von Bewegungen gleiten und wirbeln herum, immer wellenhaft – ab und zu so große Wellen, daß die Wahrnehmungsgrenze über- bzw. unterschritten wird." Viele Werke der Folgezeit, darunter die Sinfonietta "Night-Symphonies, Day Breaks" oder "Fugitive Summer" für Streicher, sind von der wechselseitigen Dynamik ineinander wirkender Naturphänomene angeregt, tasten sich sozusagen von Stadium zu Stadium vor in spontan assoziativem, freiem Stil. Die rhythmischen Mittel werden immer weiter entwickelt, auch in einer Serie reiner Schlagzeugwerke. Neben elaboriertem Fortschritt findet sich bei Nørgård gelegentlich große Einfachheit mit vielschichtigen Hintergründen, erfüllt von heller Magie, so in seinen Musiken zu Gabriel Axels Filmen "Babette’s Feast" (daraus die Pastorale für Streicher) und "Hamlet, Prinz von Jütland".
Charakteristisch für Per Nørgårds Kompositionen ist die atmosphärische Kohärenz, die die jedem Stück eigentümliche Klangwelt sofort herstellt. Dabei greift er oft, in tiefgreifend veränderter Weise, auf Altes zurück, mit dem er noch nicht fertig ist. So knüpft die Fünfte Symphonie an eine offene Rechnung aus der Ersten an, das Ende der Lutoslawski-Hommage "Out of this World" reflektiert den Schluß des zweiten Satzes ("Kontraste") aus den 36 Jahre früher entstandenen "Konstellationen", und die einstige "Voyage into the Golden Screen" verkehrt sich 1995 in die Tonseen der "Voyage into the Broken Screen". Nørgårds Revolutionen sind unvorhersehbar, doch nicht gänzlich unumkehrbar, denn nichts fordert so sehr seinen Widerspruch heraus wie Dogmen und Zwänge. Er, der zur Verteidigung eines einzigen Schülers einst die Kopenhagener Musikhochschule verließ und mit seiner Kompositionsklasse nach Århus übersiedelte, der sich weigert, sich von den französischen Spektralisten als Vorläufer vereinnahmen zu lassen: Per Nørgård ließ sich nie etwas vorschreiben. Sein Komponieren ist stets ein Akt des Strebens nach Befreiung im Kreuzfeuer zwischen Ordnung und Chaos.

© 1998 Christoph Schlüren

(Booklettext für Finlandia CD,
hier erstveröffentlicht auf deutsch)