< RARE MUSIC STARTSEITE

Fleisch auf den Knochen

Altes und Neues von Henze

Nach der allgemeinen Ernüchterung über Hans-Jürgen von Boses Strandgut-Spektakel Schlachthof 5 in der Bayerischen Staatsoper durften sich die interessierten Münchner an den folgenden Tagen umsomehr weiden an handwerklich einwandfrei, ja grandios gearbeiteter zeitgenössischer Musik. Ohne das erforderliche Können gerät eben noch so bunter ideeller Schwall noch lange nicht zur beflügelten, beflügelnden Komposition. Nun aber galt es, Henze zu feiern, der mit dieser in ihren geistigen Grundfesten so konservativen Stadt fruchtbar genug verbunden ist, um als vermeintlicher Held die Schilde seiner eigentlichen Widersacher zu zieren. Da wimmeln die Bauchpinsel-Orden zuhauf auch für die Gesinnungsrichter von einst, und vielleicht richtet man ja demnächst am Königsplatz eine Ehrenkaserne für Fidel Castro ein...
Das 1965-66 komponierte Musikdrama Die Bassariden gaben die Münchner Philharmoniker unter Gerd Albrecht in der Neufassung von 1992 gleich viermal konzertant in ihren Abo-Reihen. Nach dem Wegfall des Intermezzos ist dieses Gipfelwerk Henzescher Opulenz als zweistündige Symphonie drammatique überraschend gerechtfertigt in seiner tiefenpsychologischen Motivation. Die Konzentration auf Musik und Text hebt die Aufführungsqualität klar über szenische Möglichkeiten hinaus und läßt die Dichte der musikalischen Konzeption erst richtig zutage treten. Albrecht agierte rundum kompetent und engagiert, Orchester und Chor erbrachten eine immense Leistung als klangsinnliche und strukturbewußte Sachwalter. Auch die Solopartien waren durchweg gut besetzt, wenngleich die Zusammenstellung nicht von restlos glücklicher Hand zeugte - wenn ausgerechnet der alte Kadmos der frischen Stimme Michael Burts anvertraut ist und Alan Titus als sein Enkel Pentheus sängerische Ernte einfährt. Schauer am rechten Fleck vermittelte Tiresias Horst Hiestermann, fast ein Gespenst von Canterville.

Die Partitur hat nichts von ihren mächtigen Wirkungen eingebüßt, hat wo hilfreich Strawinskij, Hindemith, französischen Impressionismus und Britten aufgesaugt und ist einige Male, Bach sei Dank, ungeheuer ergreifend - so, wenn nach Pentheus' Ermordung Agaves "brighter, clearer" durch das BACH-Motiv ausgedrückt wird und nach ihrer Klage die Bassariden das Götterlob zu Klängen der Matthäus-Passion anstimmen. Karl Amadeus Hartmanns Sprache war ungleich strenger, herber. Drei Sätze aus seiner Klaviersonate 1945 orchestrierte Henze (das Scherzo entfiel, das Finale kam in der eigentümlicheren Erstfassung zum Zuge), und die kamen nun in einem Musica-Viva-Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks unter Lorin Maazel zur Uraufführung. Die Adaption ist Henze vortrefflich gelungen, auch wenn hier eher knochige Gebilde meist mehr Fleisch erhielten als Hartmann ihnen gegönnt hätte. Die Instrumentation ist sehr originell, so in der Mischung von Saxophon mit Flöten oder in den Heckelphon-Aulodien. Wie Henze aus der fast fragmentnahen Faktur des Finales ein konzises symphonisches Charakterstück geschaffen hat, das zeugt von höchster Kunst und gibt dieser Bearbeitung eine Zukunft. Maazel hatte wie stets "alles im Griff", blieb jedoch dem Trauermarsch Getragenheit und emotionelle Substanz schuldig und dem Gebrodel der tiefen Register im Schlußsatz die Trennschärfe. Nach der Pause leitete er die europäische Erstaufführung seines Cellokonzerts mit dem famosen Solisten Wen-Sinn Yang: Don Quixote auf amerikanisch, Strauss als psychologischer und musikantischer Vater. Es fängt herrlich kapriziös und subtil an, doch bald siegen Theatralik und effektives Kalkül. Fantastisch organisierter, wild bewegter Lärm und windstille Lichtlandschaften sind von imposanter Gegenständlichkeit, Nahtstellen und Durststrecken sind kunstfertig überbrückt. Lediglich die bildhafte Orchestration ist von zeitloser Qualität.
Christoph Schlüren
(Rezension für Frankfurter Rundschau, 1996)