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Portrait Hans Werner Henze

"Doppelbödige Tripelwelt - Venus, Mars, Adonis" 

Wenn am 11. Januar 1997 im Nationaltheater Hans Werner Henzes neue, einaktige Oper 'Venus und Adonis' aus der Taufe gehoben wird, haben der Komponist und sein Librettist das Ziel jahrelanger Bemühungen um einen (hoffentlich) szenisch wirksamen, neuen alten Mythos öffentlich erreicht. Hans-Ulrich Treichel scheint als Librettist in vieler Hinsicht das zu verkörpern, was dem Komponisten vertraut ist und schmeckt, was er teilweise selbst gerne vollbrächte, käme er nur dazu.
'Venus und Adonis' präsentiere "drei total voneinander verschiedene Persönlichkeiten und Musiken. Künstlich und barock das Ganze.
A baroque entertainment." Ein rabiat aufbrausender (Mars) und ein ätherisch feinfühliger (Adonis) Liebhaber im ungleichen Wettbewerb um die Seelengunst der wie stets alles Weltvergessen verheißenden Venus - das ergibt das durch drei verschiedene Orchester klanglich manifestierte Nebeneinander, Umeinander, Ineinander, Auseinander dreier in sich selbst verwickelter Psychen.
Dreifach also die Musik und mit ihr, durch sie die innere Handlung, und damit nicht genug: Venus, Mars, Adonis sind (stimmlose) Tänzer der Mythenwelt im Zentrum des Bühnengeschehens, Stilisierung wogender und tosender Dynamik des Archetypischen im Unterbewußten. Im Vordergrund aber spielt sich parallel die Handlung aus dem prallen Sängeralltag ab:
Der junge Clemente erliegt den Bestrickungen der Prima Donna, wird als Entgelt für den küssenden Liebesvollzug vom rasenden Helden-Bariton abgestochen (zeitgleich erledigt der Himmelseber Adonis, der nun als Stern bei Venus bleibt, in einer zeitlos-unsentimentalen Beziehung). Das letzte Wort hat denn auch der dem Boden der Tätlichkeiten entwurzelte Clemente, um allgültig zu cherubimmeln:
"Einsam war ich, als ein Herz in mir schlug." Aus der Opernmusik hat Hans Werner Henze 'Sieben Boleros' für Orchester exzerpiert, ein rhythmisches Manifest, aus baskischen Quellen gespeist.
 
Orpheus hinter Stacheldraht
Musikalische wie psychologische Trägerideen von 'Venus und Adonis' sind sehr typisch für Hans Werner Henze. Seine Musik ist konfliktbeladen, gegensatzdräuend, komplex verkabelt mit immer heftigeren Schwelbränden. Zu Harmonie, Ruhe, wahrem Wohlgefühl gereicht es selten, alles ist umwittert von züngelnden, zischenden, brodelnden Gefahrenherden, von Krankheitspotential, giftdurchsetzt. Zu einem hohen Anteil besteht Henzes schöpferische Arbeit im Fokussieren von emotionalem wie intellektuellem Ballast ( es muß, mit Gustav Mahler, "die ganze Welt enthalten"), und dieses Ringen eines hellbewußten Sisyphos um Klarheit, um Befreiung gehört zu seinen Werken wie Anmut, Zärtlichkeit, das Ersehnte. War der 1926 in Gütersloh Geborene nach dem Krieg, der auch ihn reichlich mit Traumatischem versorgte, zunächst Hindemithscher Töne-Gesetzlichkeit gefolgt und den professionellen Pfaden seines Lehrers Wolfgang Fortner, so hört man doch schon aus so Frühem wie den ersten drei Symphonien (1947-50) jene neurotischen Züge hervor, die vielfältige Triebfedern eines schöpferischen Lebens sein sollten. Intellekt und Emotion werden bei Henze nicht vereinigt, sie bleiben in sich beharrende Parallelstränge, einander anziehend und abstoßend, den Hörer in Vielschichtigkeit, Mehrdeutigkeit, Zerrissenheit, Qual, schillernde Opulenz zwingend. Henze möchte ein Maximum an werkimmanentem Ausdruck erreichen. Doch läßt er die Energie nicht auf direktem Weg sich auswirken. Erst muß sie durch das Dickicht seiner verletzten, verletzlichen Seele strömen, muß die Widerstände überfluten, brechen, das Glatte, Geläufige ausräumen. So werden seine Partituren oft hochkompliziert, tendieren zum Überladenen, wo es dann an Sauerstoff mangeln kann - der die Geister rief, ist kaum mehr in der Lage, sie zu bändigen, und sie treiben es aufs Tollste mit ihm. Wenn man Henzes über weite Strecken packend, nüchtern und fraglos ehrlich, mit Herz geschriebene Autobiographie 'Reiselieder mit böhmischen Quinten' liest, erfährt man viel über die (Hinter- und Vorder-)Gründe seines Komponierens. Das Buch ist, bis auf die gegen Ende überhandnehmende aufzählende Komponente, ein literarischer Genuß für jedermann Anspruchsvollen, fast ein Roman (S. Fischer-Verlag).
 
 
 

Henze ist ein stark von der heißgeliebten italienischen (Sonnen-)Welt gebrannter aufgeklärter Geist und, wohl auch aufgrund seiner tiefsitzenden Unausgewogenheit, Unzufriedenheit, Unersättlichkeit, ein höchst flexibler Komponist - ob Opera seria oder Opera buffa, ob Symphonie oder Streichquartett, ob politische oder alltagsenthobene Motivation, ob (sa-)tierische Nummern-Kurzweil (wie in 'English Cat') oder gigantisch-fleischliche Architektur (wie in den grandiosen 'Bassariden'), ob in der Zertrümmerung des Menschlichen oder in der Vermenschlichung, Formwerdung des amorph Rituellen (wie in der ergreifenden 'Tristan'-Musik) - er findet seinen Ton, seine Tönung, besser: seine Vieltönigkeit. Es ist ihm geglückt, die zum Bersten gespannte gedanklich-gefühlige Synthese zuletzt zu immer sprengkräftigeren Formen immer fragileren Inhalts zu schmieden, und mehr denn je spricht daraus dann der gesamte Mensch, nimmt die Maske der verhüllten Verzweiflung ab, entläßt die subtile Panzerung durchs Sujet - ich denke an die siebente Symphonie, vor allem den erschütternden langsamen Satz daraus, an das instrumentale 'Requiem' - Klage fern von Aufweichung -, aber auch zuvor an das fünfte Streichquartett, die a-cappella-Gesänge 'Orpheus hinter Stacheldraht': Ein Mensch auf dem Weg zu Befreiung, noch verfangen in selbstgestrickten Netzen, aber immerzu alle Sinne ausfahrend, kein Nachlassen, nicht Flucht noch Verweilen, ein lebendes, bebendes Symbol nicht versiegenden Willens zu Freiheit, zum Aufrechtsein.
Christoph Schlüren

(Beitrag für das Münchner Kulturmagazin 'Applaus', Dezember 1996)

Diskographie: Zu Henzes 70. Geburtstag hat die Deutsche Grammophon all jene Aufnahmen seiner Werke, die man bis in die 70er Jahre machte, auf 14 CDs wiederveröffentlicht (DG 449860-2), die auch einzeln erhältlich sind (da es eh keine Weihnachtsmusik ist, kann man sich's auch hinterher noch schenken) - darunter befinden sich: Symphonien Nr. 1-6 (Berliner Philharmoniker unter dem Komponisten), Solokonzerte (darunter das 50minütige 2. Klavierkonzert mit Eschenbach und die dreiviertelstündige 'Tristan'-Musik - herrlich Symphonisches über Tonbandschleifen! -, weitere Solisten: Holliger, Schneiderhan etc.), Streichermusik, die Erfolgs-Opera buffa 'Der junge Lord' (aufs Libretto seiner Freundin Ingeborg Bachmann, dirigiert von Dohnányi), Szenen aus der 'Elegie für junge Liebende' nach Auden (mit Fischer-Dieskau), Werke sozialen Engagements wie 'Das Floß der Medusa', 'Versuch über Schweine', 'El Cimarrón' oder 'Natascha Ungeheuer', Juwelen ungebrochener Sinnlichkeit wie 'Musen Siziliens'.
Vieles ist bei Wergo erschienen, so die fünf Streichquartette, im letzten gipfelnd (Arditti Quartett, Wergo 2CDs 60114-50), die zwei Serien 'Royal Winter Music', moderne Klassiker der Gitarrenliteratur (Dietmar Kres, Wergo 60126-50), Klaviermusiken, gespielt von Homero Francesch (Wergo 286239-2), die Oper 'Die Englische Katze', katzenhaft geschmeidig und kratzlustig, melodiös und leichtgewichtig (Libretto: Edward Bond, Wergo 2CDs 286204-2) und die verruchte 'La Cubana' (Text: Enzensberger nach Miguel Barnet, Wergo 2CDs 60130-50).
Die orgiastische, oratorisch-symphonische Oper 'Die Bassariden' nach Euripides auf ein Libretto von Auden & Kallman, eines von Henzes großartigsten, reichsten Werken, ist in einer Berliner Aufnahme unter Gerd Albrecht, der es unlängst mit den Münchner Philharmonikern aufführte, erhältlich (Koch 2CDs 314006) - Albrecht hat auch die 'Telemanniana' (Koch 311054) eingespielt. 'Orpheus behind the Wire', eines der besten Beispiele zeitgenössischer a-cappella-Kunst, hat der vorzügliche Dänische Rundfunkchor aufgenommen (Chandos/Koch 8963). Das Ensemble Modern unter Ingo Metzmacher hat Henzes messerscharf trauerndes Bekenntniswerk 'Requiem', bestehend aus neun geistlichen Konzerten für Klavier Solo, konzertierende Trompete und Kammerorchester live eingespielt (Sony SK 58972). Brillant und kristallklar - wohl die beste unter all diesen Aufnahmen - ist Simon Rattles Birminghamer Live-Mitschnitt eines weiteren Schlüsselwerks, der siebenten Symphonie - Durch-Bruch und Ab-Riß im Visier, Inhibition und gnadenlose Durchsetzung, "menschliche" Bändigung und das Menschliche übersteigende Entladung - gekoppelt mit 'Barcarola' (EMI 754762-2).