Wieviel schwingt in einer einfachen Melodie an physikalisch nicht Zuzuordnendem
mit? Der Reichtum an undefinierbaren zusätzlichen Elementen,
die Imaginationskraft, mit der eine Linie aufgeladen wird, das sind
die unnachahmlichen außertechnischen Voraussetzungen für
einen wirklich großen Virtuosen oder Sänger, aber eigentlich
auch für den Komponisten, will er nicht armselig zwischen Spekulation
und Konstruktion wählen müssen. George Enescu (1881-1955)
war einer der großartigsten Geiger dieses Jahrhunderts. Er
empfand aber nie den besonderen Reiz, die Trumpfkarte der blitzblanken
Virtuosität auszuspielen. Nicht umsonst wurde vor allem sein
stilechtes, tiefempfundenes und melodisch weittragendes Bach-Spiel
gerühmt, wo er, ohne je von Trockenheit oder Routine gefährdet
zu sein, wohl den reinigenden Gegenpol zur unerschöpflich besessenen
Detailversessenheit seines Freundes Pablo Casals symbolisiert haben
dürfte. Enescu sah sich nie als Geiger, sondern als universeller
Musiker und vor allem als Komponist. Sein einziges Violinkonzert
schrieb er als Fünfzehnjähriger am Pariser Konservatorium:
nur zwei Sätze wurden vollendet, nur der erste aufgeführt.
Seine melodische Eingebung war ursprünglich geprägt von
der heimatlichen moldawischen Musik, von jenem Kern, den er als
"Traurigkeit inmitten der Freude" wahrnahm, als "unbestimmte,
aber aufs Tiefste bewegende Sehnsucht": "dor", eine
Empfindungsart, die mit Ortungen wie nostalgisch, kummervoll oder
träumerisch nur partiell erfaßt wird. In den Doinas,
langsamen und bedrückten rumänischen Volksweisen, sind
die so verflochtenen Affekte ausgesprochen, und Enescu hat immer
wieder zu diesen Charakteren Zuflucht genommen, z. B. in Schlüsselwerken
wie der dritten Violinsonate, der dritten Klaviersonate oder seinem
zentralen dipe. Und tatsächlich ist er da am stärksten,
wo die nicht fixierbaren Grundzüge der Doina ihren verfließenden
Rahmen leihen, wo er die motivische Strenge der Klassizität
mit dem Quasi improvisando seiner seelischen Befindlichkeit verbindet:
dann ist der ordnende Geist wahrlich von "dor" durchdrungen,
und da klingt Enescu pur und nur nach Enescu.
Nun hat das englische Raritäten-Label Olympia von der rumänischen
Electrecord die Lizenzen auf eine neue Gesamtaufnahme von Enescus
Orchesterwerken erworben, die für rumänische Verhältnisse
auf höchstem Niveau eingespielt wird: vom Staatlichen Rundfunkorchester
unter Horia Andreescu, dem wahrscheinlich kompetentesten Dirigenten
im heutigen Rumänien. Bisher sind fünf CDs erschienen,
außerdem eine weitere mit den großbesetzten Kammermusiken.
Es ist zu hoffen, daß die kommenden Folgen auch die ersten
drei Studiensymphonien und das Violinkonzert berücksichtigen,
und zudem stehen noch zwei späte Spitzenwerke aus, die bis
dahin nur bei Marco Polo erhältlich sind: die symphonische
Dichtung Vox Maris und die Kammersymphonie, die letzten zwei Kompositionen,
die Enescu vollenden konnte.
Mit fünf Jahren begann Enescu zu komponieren, mit sieben wurde
er als geigendes Wunderkind ans Wiener Konservatorium geschickt.
Dort hat die Musik von Johannes Brahms unauslöschliche Spuren
in ihm hinterlassen, die man seiner Musik für lange Zeit anhören
und für immer eingeschmolzen finden konnte. Die vierte Studiensymphonie
ist im vierten Jahr nach dem Wechsel nach Paris entstanden (seine
Lehrer waren zunächst Massenet, dann Fauré und Gédalge).
Sie zeigt einerseits den Frühvollendeten wie einst Mendelssohn,
Bizet oder Strauss, offenbart andererseits sehr direkt die ganze
Palette der Einflüsse: Strausscher heroischer Schwung, Brahms'
motivische Arbeit und lyrische Versonnenheit, Beethoven im machtvoll
gehandhabten Fugatostil der Durchführung, aber auch Dvoráksches
Scherzando. Ein Jahr früher hatte er bereits das Rumänische
Poem op. 1 geschrieben, mit massiven flächigen Wirkungen und
sattem Wohlklang, dessen Anfang auf Mendelssohns Hebriden-Ouverture
zurückgeht - es sollte sein Durchbruch werden. Das Andantino
von 1896 übrigens klingt wie Brahms in elegant französischem
Gewand.
Daß Enescu als Komponist nur mit den zwei Rumänischen
Rhapsodien op. 11 ins Repertoire einging, stellt ihn in ein völlig
nebensächliches Licht - es ist, als würde man von Brahms
nur die Ungarischen Tänze kennen. Natürlich sind diese
Rhapsodien vorzüglich gearbeitet und orchestriert, aber in
der Aneinanderreihung der Episoden relativ primitiv und formal wenig
zwingend - hat doch gerade er die Kunst organischer Motiventfaltung
und -verflechtung zu eminenter Höhe gebracht. Auch die recht
redselige Cello-Concertante op. 8 ist eher weniger bedeutend, wogegen
die Erste Orchestersuite op. 9 bestechende melodische Qualitäten
hat - die Idee von der "unendlichen Melodie" hatte vor
allem im Unisono-Prélude der Streicher und im Menuet lent
eine weitschwingende melodische Disposition zur Folge, die mehr
und mehr eines seiner wesentlichsten Merkmale wurde. Erstmals in
voller Üppigkeit erkennbar ist der Tristan-Einfluß im
langsamen Satz der stürmisch drängenden Es-Dur-Symphonie
op. 13, die nach wie vor auffallend vieles Brahms verdankt und stark
von Berliozschen Orchesterwirkungen angeregt ist. Jedoch ist Enescus
Eigenton schon überall präsent in diesem jugendfrischen,
unruhigen Werk. Zu den mitreißendsten und spielerischsten
Beiträgen zur Literatur für Bläserensembles zählt
das Dixtuor op. 14 aus der gleichen Zeit.
Eines seiner großartigsten Werke hatte Enescu da längst geschrieben:
das vierzigminütige Streicher-Oktett op. 7 mit vier ineinander
übergehenden, aus dem gleichen Material gebildeten Sätzen,
wo motivisch-kanonische Strenge des Satzes mit einem emotionalen
Überschwang, einem Feuer gepaart ist, das die Schwierigkeiten
der Konstruktion nicht mehr erahnen läßt. Überhaupt
war Enescu ein nie zufriedenzustellender Feiler und Revidierer,
der über seinem Hauptwerk, der Oper dipe (EMI 2CDs 665
754011 2), weit über zwanzig Jahre saß. Das Herausschälen
der Essenz, das Loswerden überflüssiger Details beschäftigte
ihn immer zwanghafter. Dementsprechend wurde seine Produktivität
immer geringer.
So konnte er seine weiteren Symphonien nie als letztlich abgeschlossen
betrachten. Vor allem in der Zweiten tritt zur Strauss-nahen, sich
selbst stimulierenden Polyphonie eine fragile Heterophonie: die
Einzelstimmen werden aufgefächert, verästeln sich im vielstimmigen
Raum, am meisten im träumerischen, rumänisch gefärbten
Mittelsatz. An Mahler gemahnende, einprägsame Wendungen unterstreichen
den tragischen Zug, der sich in der dritten Symphonie weiter verdichtet.
Die Vielstimmigkeit ist hier reduziert, und der nach dem mit der
Dämonie liebäugelnden Scherzo folgende Lento-Schlußsatz
mit Vocalise-Chor (eine herrliche Konzert-Kopplung mit Debussys
Trois Nocturnes!) führt in die einsame Region des dipe-Stils,
wo sozusagen die Mehrstimmigkeit nicht mehr als die abgelauschte
Aura der Hauptstimme ist: immer weniger Tätigkeit und immer
mehr Dichte. Aber eine Passivität, die sich, im Gegensatz zum
Impressionismus der Debussyisten, nicht aus der Folge delikater
vertikaler Momente speist, sondern aus nicht enden wollender Linearität.
Auf diesem Wege gelangte Enescu nun auch zu einem tieferen Verständnis
seiner volksmusikalischen Wurzeln, und die Ouverture über volkstümliche
rumänische Themen und die Dritte Orchestersuite haben mit dem
Geist der Rhapsodien kaum noch etwas gemein. In der Suite ist in
den verhalteneren Sätzen eine subtile Intimität und erfüllte
Monodie erreicht, wie sie kein anderer Komponist in diesem Jahrhundert
zu schaffen vermochte. Auch das skurril-expressive Poem Vox maris,
das in mancher Detailwirkung "La mer" beleiht, gehört
hierher. Dagegen aber sticht die Kammersymphonie op. 33 nochmals
ab, als geläuterte Nachfahrin des elaborierten Zweiten Streichquartetts:
Äußerst kompliziert in der Analyse, jedoch frappierend
einfach und direkt im Resultat, von höchster Meisterschaft
- Enescu, ein dogmenfreier Stimmen- und Themenvernetzer auf freitonalem
Feld.
Christoph Schlüren
(Rezension für Frankfurter Rundschau, 1995)
Kompositionen von
George Enescu.
"Komplette Orchesterwerke":
Vol.1: 4. Studiensymphonie Es-Dur (1898),
1. Symphonie Es-Dur op. 13 (1905), Ouverture
über volkstümliche rumänische Themen op. 32 (1948);
Olympia/DSB CD 441;
Vol.2: 2. Symphonie A-Dur op. 17 (1914), zwei Rumänische Rhapsodien
op. 11 (1901);
Olympia/DSB CD 442;
Vol.3: 3. Symphonie C-Dur op. 21 (1918), Rumänisches Poem op.
1 (1897);
Olympia/DSB CD 443;
Vol.4: 1. Orchestersuite op. 9 (1903), Symphonie Concertante für
Cello und Orchester op. 8 (1901/Solist: Marin Cazacu), 2 Intermèdes
für Streicher op. 12 (1902/03); Olympia/DSB CD 444;
Vol.5: 2. Orchestersuite op. 20 (1915), 3. Orchestersuite op. 27
(1938), Andantino (1896); Olympia/DSB CD 495;
Oktett für Streicher op. 7 (1900), Dixtuor für Bläser
op. 14 (1906); Olympia/DSB CD 445;
Alle Olympia-CDs: Rumänisches Nationales Rundfunk-Symphonieorchester
und Chor, Dirigent: Horia Andreescu;
Kammersymphonie für 12 Solisten op. 33 (1954),
3. Symphonie op. 21; Klausenburger Philharmoniker und Chor, Dirigent:
Ion Baciu; Marco Polo/Fono CD 8.223143;
Vox Maris op. 31 (1954); Iasi Moldavia Philharmoniker und Chor,
Dirigent: Ion Baciu
(+ 2. Symphonie; Staatsphilharmonie Bukarest, Andreescu); Marco
Polo/ Fono CD 8.223142;
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