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George Enescu (1881-1955)

Dor und der ordnende Geist

Musikgeschichte wird, vor allem in unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen, meist in Trends, Strömungen und Kategorien geschrieben, die stets mit wenigen überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch viele jener Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz Großen" gezählt werden, Persönlichkeiten sind, deren Werdegang und Werk in keine Schublade paßt, sondern eine eigene Kategorie begründet. Er war ein musikalisches Universalgenie, doch sein Schaffen wurde kaum entsprechend gewürdigt: Rumäniens bedeutendster Komponist

(Anspieltip: 'Rivière sous la lune' aus der 3. Orchestersuite)

Pablo Casals sah in ihm "das größte musikalische Phänomen seit Mozart", und für Yehudi Menuhin war sein Lehrer Enescu schlicht "das absolute Maß, nach dem ich andere beurteile". George Enescu war nicht nur einer der überragenden Geiger des Jahrhunderts, er war auch ein eminenter Pianist und umworbener Dirigent. Als Komponist fand er über die Jahre zu einer zunehmend persönlichen Sprache, die in ihrer Essenz kaum verstanden wurde. Sein Schaffen zielte auf eine Synthese von romantischer Harmonik, impressionistischem Klangsinn und aus der heimatlichen Folklore inspirierter Melodik und Rhythmik. So durchdrangen sich bei Enescu deutsche und französische Einflüsse mit dem rumänischen Idiom. Geboren im moldawischen Teil Rumäniens, erhielt er vierjährig Geigenunterricht von einem Zigeuner. Mit sieben Jahren studierte er in Wien, wo er unter Brahms spielte und sich zugleich für Wagner begeisterte. 1894 ging er nach Paris, das seine Wahlheimat bleiben sollte, als Schüler von Massenet, Fauré und Gédalge. Das tonsetzerische Handwerk beherrschte er jetzt schon mit seltener Vollendung, und 1897 brachte ihm sein Rumänisches Poem den Durchbruch als Komponist. Großen Erfolg hatten auch die beiden Rumänischen Rhapsodien. Doch sind dies seine oberflächlichsten Stücke, und die anspruchsvolleren Werke wurden zwar von Kennern goutiert, jedoch vom Ruhm des Geigers überschattet. Kein Wunder, denn Enescus Spiel war von innigstem Zauber in der selbstvergessenen Konzentration und lebenssprühenden Hingabe (umso unerfreulicher, daß der Großteil seiner Aufnahmen nicht erhältlich ist). Grandiose Disposition großen Formzusammenhangs beweist ein Werk wie das vierzigminütige Streicheroktett des Siebzehnjährigen. Kompositorisch zeigt Enescu äußerste Vielseitigkeit, sei es in der brillanten Vorwegnahme neoklassizistischer Ideale (2. Orchestersuite), im in vielgestaltiger Monodie gipfelnden, sensitiv fesselnden Melos, in der bis in feinste Abschattierungen ausgehörten Harmonik und Instrumentation, im improvisatorisch verschlungenen Rhythmus oder in kontrapunktischer Komplexität und heterophoner Verästelung, wie beispielsweise in der tumultuösen Faktur der gewaltigen Zweiten Sinfonie von 1914: "Polyphonie ist das wesentliche Prinzip meiner musikalischen Sprache. Ich habe einen Horror vor allem Stagnierenden… Harmonische Fortschreitungen haben nur ihren Sinn als Bestandteile einer Art elementarer Improvisation."

Immer mehr sucht er, die elaborierten Techniken, die formale Gestaltungskraft in Einklang zu bringen mit seinen rumänischen Wurzeln. Er schreibt immer langsamer, feilt immer besessener an jedem Werk. Sein Hauptwerk, die Oper Œdipe, vollendet er 1931 nach 25jähriger Prozedur. In seinen eigentümlichsten Werken – wozu die 3. Violinsonate und Impressions d’enfance, die 3. Klaviersonate, das komplexe 2. Streichquartett, die 3. Orchestersuite, die sinfonische Dichtung Vox maris und die sein Schaffen krönende Kammersinfonie zählen – gelingt es ihm, eine einzigartige musikalische Sprache zu kultivieren, indem er die anerworbene Klarheit der Klassizität und die Spannkraft sinfonischen Denkens mit dem Quasi-improvisando seiner angestammten Innenwelt durchwebt – so vermag er, jene magische Qualität in sein Schaffen zu integrieren, die in Rumänien "dor" heißt, was Enescu als "Traurigkeit inmitten von Freude", als "unbestimmte, aber aufs Tiefste bewegende Sehnsucht" beschreibt. Solcher Ausdruck ist unmittelbar erfahrbar im 3. Satz der 3. Orchestersuite, wo Enescus ordnender Geist ganz von "dor" durchdrungen ist, wo er zu sich selbst findet – oder auch: wo das spezifisch Rumänische in eigenartig berührender Art verschmilzt mit Elementen französischer und deutscher Mentalität.

Christoph Schlüren

('Kleiner Lauschangriff' für Klassik Heute, 1998)

Diskographie

Enescu spielt Corelli, Händel, Chausson etc. (1924/29); Biddulph/Fono 066.
Enescu spielt Bach: Partiten und Sonaten für Violine Solo; Philips 2 CD 422298-2 (vergriffen).
Enescu und Lipatti spielen Enescu und Lipatti; Dante/Fono 2 CD HPC 091-92.
1. Sinfonie, 4. Studiensinfonie, Ouverture op. 32; Olympia/Helikon 441.
2. Sinfonie, 2 Rumän. Rhapsodien op. 11; Olympia/Helikon 442.
3. Sinfonie, Rumän. Poem op. 1; Olympia/Helikon 443.
1. Orchestersuite, Symphonie Concertante etc.; Olympia/Helikon 444.
Orchestersuiten Nr. 2 und 3, Andantino; Olympia/Helikon 495.
Vox maris op. 31, 1. Studiensinfonie, Ballade; Olympia/Helikon 496.
Kammersinfonie op. 33, Dezett, Intermèdes; Claves/Disco-Center 50-8803.
Œdipe, Tragédie lyrique; EMI 2 CD 754011-2.
Oktett für Streicher, Dezett für Bläser; Olympia/Helikon 445.
Klavierquartette Nr. 1 und 2; Olympia/Helikon 412.
Streichquartette Nr. 1 und 2; Olympia/Helikon 413.
Cellosonaten Nr. 1 und 2; Olympia/Helikon 642.
Violinsonaten Nr. 1-3; Dynamic/Disco-Center CDS 41.
Violinsonaten Nr. 2 und 3, Sonatenfragment; Hyperion/Koch 66484.
Impressions d’enfance; Gidon Kremer (Vl.); Teldec/east-west 0630-13597-2.
(Stand 1998)