Musikgeschichte wird, vor allem in unserem
Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen, meist in Trends, Strömungen
und Kategorien geschrieben, die stets mit wenigen überragenden
Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht werden. Dabei wird
gerne übersehen, daß auch viele jener Komponisten, die
üblicherweise nicht zu den "ganz Großen" gezählt
werden, Persönlichkeiten sind, deren Werdegang und Werk in
keine Schublade paßt, sondern eine eigene Kategorie begründet.
Er war ein musikalisches Universalgenie, doch sein Schaffen wurde
kaum entsprechend gewürdigt: Rumäniens bedeutendster Komponist
(Anspieltip: 'Rivière sous la lune' aus der 3. Orchestersuite)
Pablo Casals sah in ihm "das größte musikalische
Phänomen seit Mozart", und für Yehudi Menuhin war
sein Lehrer Enescu schlicht "das absolute Maß, nach dem
ich andere beurteile". George Enescu war nicht nur einer der
überragenden Geiger des Jahrhunderts, er war auch ein eminenter
Pianist und umworbener Dirigent. Als Komponist fand er über
die Jahre zu einer zunehmend persönlichen Sprache, die in ihrer
Essenz kaum verstanden wurde. Sein Schaffen zielte auf eine Synthese
von romantischer Harmonik, impressionistischem Klangsinn und aus
der heimatlichen Folklore inspirierter Melodik und Rhythmik. So
durchdrangen sich bei Enescu deutsche und französische Einflüsse
mit dem rumänischen Idiom. Geboren im moldawischen Teil Rumäniens,
erhielt er vierjährig Geigenunterricht von einem Zigeuner.
Mit sieben Jahren studierte er in Wien, wo er unter Brahms spielte
und sich zugleich für Wagner begeisterte. 1894 ging er nach
Paris, das seine Wahlheimat bleiben sollte, als Schüler von
Massenet, Fauré und Gédalge. Das tonsetzerische Handwerk
beherrschte er jetzt schon mit seltener Vollendung, und 1897 brachte
ihm sein Rumänisches Poem den Durchbruch als Komponist. Großen
Erfolg hatten auch die beiden Rumänischen Rhapsodien. Doch
sind dies seine oberflächlichsten Stücke, und die anspruchsvolleren
Werke wurden zwar von Kennern goutiert, jedoch vom Ruhm des Geigers
überschattet. Kein Wunder, denn Enescus Spiel war von innigstem
Zauber in der selbstvergessenen Konzentration und lebenssprühenden
Hingabe (umso unerfreulicher, daß der Großteil seiner
Aufnahmen nicht erhältlich ist). Grandiose Disposition großen
Formzusammenhangs beweist ein Werk wie das vierzigminütige
Streicheroktett des Siebzehnjährigen. Kompositorisch zeigt
Enescu äußerste Vielseitigkeit, sei es in der brillanten
Vorwegnahme neoklassizistischer Ideale (2. Orchestersuite), im in
vielgestaltiger Monodie gipfelnden, sensitiv fesselnden Melos, in
der bis in feinste Abschattierungen ausgehörten Harmonik und
Instrumentation, im improvisatorisch verschlungenen Rhythmus oder
in kontrapunktischer Komplexität und heterophoner Verästelung,
wie beispielsweise in der tumultuösen Faktur der gewaltigen
Zweiten Sinfonie von 1914: "Polyphonie ist das wesentliche
Prinzip meiner musikalischen Sprache. Ich habe einen Horror vor
allem Stagnierenden
Harmonische Fortschreitungen haben nur
ihren Sinn als Bestandteile einer Art elementarer Improvisation."
Immer mehr sucht er, die elaborierten Techniken, die formale Gestaltungskraft
in Einklang zu bringen mit seinen rumänischen Wurzeln. Er schreibt
immer langsamer, feilt immer besessener an jedem Werk. Sein Hauptwerk,
die Oper dipe, vollendet er 1931 nach 25jähriger Prozedur.
In seinen eigentümlichsten Werken wozu die 3. Violinsonate
und Impressions denfance, die 3. Klaviersonate, das komplexe
2. Streichquartett, die 3. Orchestersuite, die sinfonische Dichtung
Vox maris und die sein Schaffen krönende Kammersinfonie zählen
gelingt es ihm, eine einzigartige musikalische Sprache zu
kultivieren, indem er die anerworbene Klarheit der Klassizität
und die Spannkraft sinfonischen Denkens mit dem Quasi-improvisando
seiner angestammten Innenwelt durchwebt so vermag er, jene
magische Qualität in sein Schaffen zu integrieren, die in Rumänien
"dor" heißt, was Enescu als "Traurigkeit inmitten
von Freude", als "unbestimmte, aber aufs Tiefste bewegende
Sehnsucht" beschreibt. Solcher Ausdruck ist unmittelbar erfahrbar
im 3. Satz der 3. Orchestersuite, wo Enescus ordnender Geist ganz
von "dor" durchdrungen ist, wo er zu sich selbst findet
oder auch: wo das spezifisch Rumänische in eigenartig
berührender Art verschmilzt mit Elementen französischer
und deutscher Mentalität.
Christoph Schlüren
('Kleiner Lauschangriff' für Klassik Heute, 1998)
Diskographie
Enescu spielt Corelli, Händel, Chausson etc. (1924/29); Biddulph/Fono
066.
Enescu spielt Bach: Partiten und Sonaten für Violine Solo;
Philips 2 CD 422298-2 (vergriffen).
Enescu und Lipatti spielen Enescu und Lipatti; Dante/Fono 2 CD HPC
091-92.
1. Sinfonie, 4. Studiensinfonie, Ouverture op. 32; Olympia/Helikon
441.
2. Sinfonie, 2 Rumän. Rhapsodien op. 11; Olympia/Helikon 442.
3. Sinfonie, Rumän. Poem op. 1; Olympia/Helikon 443.
1. Orchestersuite, Symphonie Concertante etc.; Olympia/Helikon 444.
Orchestersuiten Nr. 2 und 3, Andantino; Olympia/Helikon 495.
Vox maris op. 31, 1. Studiensinfonie, Ballade; Olympia/Helikon 496.
Kammersinfonie op. 33, Dezett, Intermèdes; Claves/Disco-Center
50-8803.
dipe, Tragédie lyrique; EMI 2 CD 754011-2.
Oktett für Streicher, Dezett für Bläser; Olympia/Helikon
445.
Klavierquartette Nr. 1 und 2; Olympia/Helikon 412.
Streichquartette Nr. 1 und 2; Olympia/Helikon 413.
Cellosonaten Nr. 1 und 2; Olympia/Helikon 642.
Violinsonaten Nr. 1-3; Dynamic/Disco-Center CDS 41.
Violinsonaten Nr. 2 und 3, Sonatenfragment; Hyperion/Koch 66484.
Impressions denfance; Gidon Kremer (Vl.); Teldec/east-west
0630-13597-2.
(Stand 1998)
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