"Ich arbeite momentan an einem
Caprice für Violine und Orchester, in welchem ich die Entsprechung
zu einem Dialog zwischen einem Zigeunergeiger und seiner ihn begleitenden
Gruppe schaffe. Ich schreibe das im Charakter der Volksmusik. Ich
sage bewußt nicht 'im Stil', denn das impliziert etwas Gemachtes
oder Künstliches, wogegen 'Charakter' etwas Gegebenes meint,
was von Anfang an da ist. Alleine die Verwendung von folkloristischem
Material garantiert keineswegs eine authentische Verwirklichung
volkstümlichen Charakters; das trägt natürlich dazu
bei, unvermeidlich, wenn es im Geiste des Volks geschieht."
Schluß des 2. Satzes, Andante sostenuto e misterioso, aus
der 3. Sonate für Violine und Klavier op. 25 (1926);
George Enescu (Violine) und Dinu Lipatti (Klavier);
Dante CD
Inwieweit läßt das Unfixierbare sich fixieren? Der stets
mit dem improvisatorischen Moment, mit den feinen Empfindungen des
Augenblicks, mit der Aura des spontanen, unmittelbar Empfundenen
umrankte Ton der Volksmusik ist die Wiege der Musik. Ihm nachzuspüren,
die Essenz daraus in seinen Partituren zu veredeln und zu verewigen
war die grundlegende Motivation von Rumäniens großem
Komponisten, Geiger, Pianisten und Dirigenten George Enescu, den
sie soeben mit dem Pianisten Dinu Lipatti, seinem frühverstorbenen
Landsmann, in einem Ausschnitt aus dem zweiten Satz seiner Dritten
Violinsonate hörten.
Die Wiege der europäischen Musik liegt im Südosten, und
je weiter wir uns via Balkan gen Syrien bewegen, desto mehr scheint
uns das zu umfangen, was wir als ursprüngliches Musizieren
erleben. George Enescu sah sich zu keinem Zeitpunkt wie etwa
sein exakter ungarischer Zeitgenosse Béla Bartók
als Forscher, der das Wurzelwerk unserer Musikkultur freilegen und
einen wissenschaftlichen Überblick hätte auftun wollen.
Bei Enescu geschah der Umgang mit den Wurzeln auf eine integrative
Art, geleitet von einer unglaublichen musikalischen Begabung und
lebenslangen Intuition für das Lebendige, sich zu organischer
Gestalt Formende in den Klangbeziehungen. In Enescus Schaffen verschmolzen
die ihn prägenden Traditionen der Volksmusik seiner frühesten
Kindheit und der klassischen Musikkultur bis hin zu den neuesten
Strömungen. Technische Aspekte als Selbstzweck interessierten
ihn weder als ausübenden Musiker noch als Tonschaffenden, und
so erschienen ihm auch schematische Lösungen wie die Zwölftontechnik
und überhaupt das serielle Denken als uninteressant, da schöpferisch
einengend und im Methodischen unmusikalisch. Gleichwohl war Enescu
auf seine subtile Art ein Neuerer: In seiner virtuos verschlungenen
motivischen Arbeit, seiner äußerst mobilen Handhabung
modaler Harmonik, in der extremen Sublimation der elaborierten Instrumentation,
und vor allem in der Verwirklichung des Quasi-Improvisando-Charakters,
der in irregulär kontrapunktierender, geradezu schwankender
rhythmischer Feinzeichnung, in subtil sich verästelnder Heterophonie,
klangfarblicher Elastizität, dichter Atmosphäre und emotionaler
Konzentration gründet. Sein stilistisches Spektrum ist außergewöhnlich
weitgestreut, dabei jedoch stets charakteristisch persönlich.
Je älter er wurde, desto mehr gelang es ihm, das, was ihm von
Kind an als wesentlich Auszudrückendes vorschwebte, niederzuschreiben.
Das Erstaunliche ist, daß die minutiöse, soweit möglich
alle Details der Ausführung exakt vorschreibende Notation zu
einem klingenden Ergebnis führen kann, das wie spontan realisiert
wirkt als wäre nichts vorgegeben, und die vollendete
Form entstände in ihrer Ganzheit aus der Inspiriertheit des
Augenblicks heraus. Nichts ist da zu spüren von jahrelangem
Ringen mit den letzten Finessen, zum Beispiel im langsamen Satz,
Andantino, aus der 1935 vollendeten Dritten Klaviersonate, in einer
Aufnahme von 1943 mit Dinu Lipatti.
Ausschnitt aus: 2. Satz Andantino aus der 3. Klaviersonate op. 24
Nr. 3 (1935);
Dinu Lipatti;
EMI CD 767163-2;
"Mein Elternhaus konnte man nur mit Mühe zwischen einem
Akazienwäldchen und dichten Haselnußsträuchern entdecken.
Es war einstöckig, hatte ein Dach aus alten Holzziegeln und
weißgekalkte Mauern. Der Front entlang lief eine schmale,
blau angestrichene Galerie, wo ungezählte Zwiebeln zum Trocknen
aufgehängt wurden. Ich bin der Erde verwurzelt, auf einem Boden
voller Sagen und Legenden geboren. Mein ganzes Leben verlief unter
dem Einfluß der Götter meiner Kindheit, deren Umgang
mir manch strengen Hinweis fürs Leben gab!"
Die zauberhafte Stimmung, die von Enescus Musik ausgeht, entspringt
seinen heimatlichen moldawischen Wurzeln, jenem Empfindungskern
vor allem, den Enescu als "Traurigkeit inmitten von Freude"
beschrieb, als "unbestimmte, aber aufs Tiefste bewegende Sehnsucht".
Dafür steht der Begriff "dor", der mit Umschreibungen
wie nostalgisch, kummervoll oder träumerisch nur teilweise
erfaßt werden kann. In den Doinas, den langsamen und kummererfüllten
Weisen rumänischer Zigeuner, spricht sich das am Direktesten
aus, und immer wieder zog diese affektbeladene Ausdruckswelt Enescu
magisch an.
Anfang von 'Cintec batrinesc';
Le Taraf de Clejani;
Ocora CD C559036;
George Enescu wurde am 19. August 1881 (nach dem damals im Bereich
im Bereich der orthodoxen Kirche gültigen julianischen Kalender
am 7. August) in dem Dorf Liveni-Virnav im moldawischen Teil Rumäniens
geboren.
"Ich wurde geboren wie eine Gestalt aus einer Tragödie:
unter dramatischen Umständen und von dunklen Vorahnungen begleitet.
Meine beiden Großväter waren Priester. Väterlicherseits
hatte ich einen Vorfahren, der sich Enea Galin nannte und Kantor
war. Als sein Sohn Gheorghe geboren wurde, taufte er ihn 'Sohn des
Äneas', was auf rumänisch Enescu bedeutet.
Nicht sehr dramatisch, finden Sie? O doch! Ich war gleichermaßen
das achte Kind meiner Eltern und ihr einziges. Sieben Brüder
und Schwestern gingen mir voran: Alle starben in frühester
Jugend. So konnte meine Geburt als erste Erfüllung oder als
letzte Prüfung aufgefaßt werden. Mit welch angsterfüllter
Sorgfalt meine Eltern meine frühe Kindheit umgaben! Schon vor
meiner Geburt hatten sie häufig Pilgerfahrten zu den verschiedensten
Klöstern unternommen, um die göttliche Gnade zu erflehen.
Für sie war es wie ein Wunder, mich leben und atmen zu sehen.
Ich wurde wie ein in Watte gepacktes, zerbrechliches Küken
behandelt!"
George Enescus Vater sang, dirigierte einen Chor und spielte Geige,
die Mutter spielte Gitarre und Klavier. Vor allem mit der Kirchenmusik,
die in Rumänien mehr mit den byzantinischen und griechischen
als mit den russischen Traditionen verbunden ist, kam er früh
in Berührung, und er blieb sein Leben lang daran interessiert.
Sein Onkel, der Pater Ioan Enescu, war ein berühmter Kantor.
Der Vierjährige begann mit dem Geigenspiel. Er erhielt Unterricht
von einem Zigeuner, der keine Noten lesen konnte. Als er fünfjährig
das Notenlesen und Klavierspiel lernte, begann er sofort zu komponieren.
Von da an stand sein Lebensziel fest: George Enescu wollte Komponist
werden, und alle anderen Tätigkeiten sollten irgendwann zugunsten
dieser einen, hauptsächlichen zurückgestellt werden. Er
imitierte die klassischen Formen, die er nun kennenlernte, und hatte
als Siebenjähriger auf der Geige solche Fortschritte gemacht,
daß ihn Eduard Caudella, der Direktor des Konservatoriums
in Iasi, gar nicht erst als Schüler annahm, sondern sofort
an das Wiener Konservatorium zu Joseph Hellmesberger junior empfahl.
Dort geriet er in den Bann der Musik von Johannes Brahms, der ihn
nie mehr völlig loslassen sollte. Er war bei der privaten Uraufführung
des Brahmsischen Klarinettenquintetts zugegen und spielte unter
dem Meister in der Ersten Symphonie und dem Ersten Klavierkonzert
mit. Zugleich setzte er sich begierig dem Einfluß der Wagnerianer
aus, deren führende Repräsentanten die Operndirigenten
Hans Richter und Felix Mottl waren auch dieses Element blieb
ihm für immer eingraviert:
"Wagner ist der Überwältigendste unter den Komponisten.
Gewisse Wagnerische Chromatizismen sind mir in Fleisch und Blut
übergegangen seit meinem neunten Lebensjahr; sie zu verleugnen
wäre ungefähr dasselbe wie ein Körperteil zu amputieren."
Seit seinem elften Lebensjahr stieg Enescus Ruhm als Geiger kometenhaft.
Er sollte einer der ganz großen Musiker seiner Generation
werden: nicht nur auf der Violine, sondern auch als Pianist, Komponist,
Dirigent und, wenngleich sporadisch, als Pädagoge. Sein Kompositionslehrer
in Wien war Robert Fuchs, dem viele später bedeutende Komponisten
eine gediegene handwerkliche Grundlage verdankten.
1894 wechselte Enescu ans Pariser Konservatorium, wo er Kompositionsunterricht
zunächst bei Jules Massenet erhielt. Er schrieb vier große
'Studiensymphonien', deren erste er in späten Jahren noch liebte.
Diese Werke offenbaren vollendete Handhabung der klassischen Formen,
bestechen mit ungebrochenem Ideenfluß und exzellenter Orchestration.
Diese Art Frühreife läßt zu Recht an die jugendlichen
Meisterwerke von Mendelssohn, Arriaga oder Bizet denken. Die Einflüsse
sind unüberhörbar im klassizistischen Milieu, allen voran
derjenige der mächtigen Pranken Beethovens.
Nach Massenet waren der phantasiestiftende Gabriel Fauré
und der Fugenpapst André Gédalge Enescus Lehrer. Von
beiden hat er entscheidendes Rüstzeug erhalten. Seinen Durchbruch
als Komponist konnte Enescu mit dem 1897 komponierten Rumänischen
Poème feiern, das er sodann als sein erstes Opus zählte.
Es ist ein reich klingendes Orchestergemälde, getragen von
großem, natürlichem Pathos.
Mit dem vierzigminütigen Streicher-Oktett op. 7 von 1900 bewies
Enescu endgültig, daß in ihm ein eigenständiger
Komponist höchster Meisterschaft herangereift war. Es wird
unergründlich bleiben, wie dieses konsequent um immerzu wiederkehrendes
Material errichtete Werk in all seiner unnachgiebigen motivischen
und imitatorischen Gebundenheit von solchem nie abreißenden
Elan und Überschwang durchströmt sein konnte. Als Beispiel
einer 'unendlichen Melodie' hören sie einen Ausschnitt aus
dem Finale, Mouvement de valse bien rythmé.
Ausschnitt aus dem 4. Satz, Mouvement de valse bien rythmé,
aus dem Octuor pour cordes op. 7 (1900);
Bucharest Virtuosi, Horia Andreescu;
Olympia/Helikon harmonia mundi CD 445;
Wie die anderen Meisterwerke Enescus ist das Streicheroktett relativ
unbekannt geblieben, wurde doch sein gesamtes restliches Schaffen
ironischerweise in den Schatten gestellt vom Erfolg der beiden Rumänischen
Rhapsodien op. 11, effektvoller, brillant gearbeiteter Stücke,
episodisch geformt als Aneinanderreihungen mehr oder weniger ergiebiger
Melodien. Der Siegeszug dieser Koloritnummern nimmt sich fast tragisch
aus, wenn man bedenkt, wie gerade Enescu später die Fähigkeit
organischer Motiventfaltung, -verflechtung und -transformation zu
schwindelerregender Höhe gesteigert hat. Diese Neigung ist
schon in der Ersten Symphonie von 1905, einem impulsiven Sturm-und-Drang-Werk,
vernehmlich, doch ungleich stärker schuf sie sich in der neun
Jahre später entstandenen Zweiten Symphonie ihre vielstimmig
komplexen Räume.
"Polyphonie ist das wesentliche Prinzip meiner musikalischen
Sprache. Ich habe einen Horror vor allem Stagnierenden
Harmonische
Fortschreitungen haben nur ihren Sinn als Bestandteile einer Art
elementarer Improvisation. Wie kurz es auch sein mag, ein Musikstück
verdient nur dann, eine Komposition genannt zu werden, wenn es von
einer Linie, einer Melodie, oder, besser noch, von übereinander
sich bewegenden Melodien getragen wird."
In der Zweiten Symphonie tritt zu der von Richard Strauss inspirierten,
sich ständig selbst befruchtenden, weitschweifenden Polyphonie
eine heterophone Veranlagung hinzu: Die Einzelstimmen fächern
sich auf im vielstimmigen Satz, werden fragiler Verzweigung unterzogen.
Im langsamen Satz kommt so am überzeugendsten ein neuer Stil
zum Vorschein, der völlig kohärent ist. Der Orchesterklang
erinnert in seiner Präzision und mit der oft schneidenden Schärfe
und tumultuösen Transparenz in den Ecksätzen oft deutlich
an Mahler. Es folgt ein kurzer Ausschnitt aus dem Finale mit der
George Enescu Staatsphilharmonie Bukarest unter Horia Andreescu.
Ausschnitt aus dem Finale, Allegro vivace, marziale, aus der 2.
Symphonie op. 17 (1914);
George Enescu Staatsphilharmonie Bukarest, Horia Andreescu;
Marco Polo/Naxos CD 8.223142;
Enescu lebte all die Jahre in Paris, wo er über seine Fördererin
Prinzessin Marie die Frau seines Lebens kennen- und liebenlernte:
Marie Cantacuzino, von allen Maruca genannt, die Tochter eines rumänischen
Großgrundbesitzers, die schon länger getrennt von ihrem
Mann, dem Prinzen Cantacuzino lebte. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs
gingen sie zusammen nach Rumänien, wo Maruca Verwundete pflegte
und Enescu in Lazaretten spielte.
"Ich habe oft erlebt, was für eine geistige Erhebung in
den Gesichtern der Verwundeten zu sehen war nach den ersten paar
Tönen. Diese Verwandlung der Seele ist der eigentliche Grund
für die Existenz der Musik. Hätte sie nicht diese wunderbare
Wirkung, den menschlichen Geist zu beruhigen und zu reinigen, so
wäre jede Musik nur eine bedeutungslose Abfolge von Klängen."
Als Geiger hat Enescu, der bis in die dreißiger Jahre im Zenit
seines Könnens stand, überall einen unauslöschlichen
Eindruck hinterlassen. Yehudi Menuhin war Enescus engster und erfolgreichster
Schüler. Als Achtjähriger hörte er Enescu erstmals
in San Francisco mit dem Brahms-Violinkonzert: "Ich verfiel
ihm, ehe ich die erste Note von ihm gehört hatte. Sein Auftreten,
seine Haltung, seine wundervolle schwarze Mähne, alles kennzeichnete
ihn als freien Menschen, ungebunden wie ein Zigeuner, ungezwungen,
natürlich, schöpferisch begabt und voller Feuer. Als er
dann zu spielen begann, hatte seine Musik eine Leuchtkraft, wie
sie mir noch nirgends begegnet war."
Schluß von Arcangelo Corelli: 'La Follia';
George Enescu (Violine), Sanford Schlüssel (Klavier);
Biddulph CD LAB 066;
Menuhin berichtet, wie während einer Unterrichtsstunde bei
Enescu Maurice Ravel mit seiner soeben vollendeten Violinsonate
hereinkam. Nach einem Prima-vista-Durchgang legte Enescu die Noten
weg und spielte das Werk auswendig. Auf diese Art hatte Enescu die
ganze Literatur im Kopf verfügbar und konnte jederzeit jedes
Detail aus einem beliebigen ihm bekannten Werk wachrufen. Über
den Unterricht schrieb Menuhin in seiner Autobiographie: "Was
Enescu mich lehrte durch Beispiel, nicht durch Worte ,
war die in lebendige Botschaft verwandelte Note, die gestochen scharfe,
bedeutungsbeladene Phrase, die zum Leben erweckte Musikstruktur
Er hatte ein Vibrato, dessen Ausdruck unbegrenzt variabel war, und
die herrlichsten Triller, die ich von einem Geiger je gehört
habe." Enescus Bach-Spiel wurde von vielen als das klarste
und weitschauendste gepriesen. Ida Haendel, selbst eine der großen
Geiger-Persönlichkeiten dieses Jahrhunderts, kam von Carl Flesch
zu Enescu. Sie erzählt: "Enescu eliminierte den ganzen
überflüssigen Zierrat in meinem Spiel und ließ mich
mit der Bachschen Anatomie allein. Ich konnte damals nicht alles
in vollem Umfang verstehen, aber der Impuls blieb für immer
in meinem Geist. Für Enescu war es das größte Kompliment
gewesen, als eine Dame ihn nach einem Bach-Stück fragte: 'Maître,
haben Sie soeben etwas gesagt?' Sie dachte, er habe zu ihr gesprochen.
Er ließ die Musik mit solcher Eindringlichkeit sprechen, daß
Sie jeden Satz, jede Phrase als Sinn-Zusammenhang verstehen. Wenn
Sie das Larghetto aus der D-Dur-Sonate von Händel mit ihm hören:
Was für eine klassisch klare, reine Musik! Es ist absolut außerhalb
dieser Welt. Da ist kein Mensch mehr im Spiel, das ist Engelsgesang."
Georg Friedrich Händel: 3. Satz, Larghetto, aus der 4. Violinsonate
D-Dur;
George Enescu (Violine), Sanford Schlüssel (Klavier);
Biddulph CD LAB 066;
Als Komponist machte sich George Enescu auf, der überragende
Monodiker dieses Jahrhunderts zu werden. Vier Jahre nach der Zweiten
Symphonie wurde die Dritte Symphonie abgeschlossen. Sie entstand
während der Kriegsjahre in Rumänien. In der Strauss-Nähe
des ersten Satzes knüpfte sie an die Zweite an, doch das langsame
Finale mit Vocalise-Chor strebte in eine unerhört neue Richtung,
die sich schon im 'Prélude à l'unisson' aus der Ersten
Orchestersuite von 1903 erstmals niedergeschlagen hatte, nun aber
immer mehr prägend wurde. Dagegen trat der Klassizismus etwa
der Zweiten Orchestersuite oder einiger Klavierwerke, mit dem Enescu
den zeitlichen Trends übrigens weit voraus war, allmählich
zurück und kam nur noch als kontrastierende Komponente im größeren
Zusammenhang zum Zuge. Die neue Ausrichtung brachte Enescu zu singulärer
Vollendung und Verfeinerung in Werken wie der Oper 'dipe',
der symphonischen Dichtung 'Vox maris', der Dritten Orchestersuite
und den späten Sonaten. Hören Sie aus der 1938 fertiggestellten
Dritten Orchestersuite op. 27, der 'Suite villageoise', den vierten
Satz, 'Rivière sous la lune', scheinbar ein Klangstück
exquisitester Harmonien und Instrumentalfarben, und doch getragen
von einer linearen Dynamik, die die Form der Gesamtgestalt bestimmt.
4. Satz, 'Rivière sous la lune', aus der Suite villageoise
(Nr. 3) op. 27 (1938);
Rumänisches Nationales Rundfunk-Symphonieorchester, Horia Andreescu;
Olympia/Helikon harmonia mundi CD 495;
Immer weniger interessierte sich Enescu für den Ausbau der
überlieferten Form realer Mehrstimmigkeit, und immer mehr konzentrierte
er sich auf den Gehalt einer einzigen zentralen Linie, auf deren
angemessene Ausschmückung und kostbare Einrichtung, auf deren
quasi-polyphonische Aufladung: Die Heterophonie, deren natürliche
Ursprünge ihm aus der rumänischen Volksmusik seit jeher
vertraut waren, brachte Enescu in einer Art zur Blüte, die
man als das Ablauschen der Aura der Hauptstimme bezeichnen kann.
Der ganze Satz ist durchdrungen von den Fasern der zentralen Stimme,
und damit eigentlich, höchst vielgestaltig, von dieser selbst,
ihre Aspekte und Möglichkeiten widerspiegelnd. Er kultivierte
eine Art maximaler Passivität bei hoher polyphoner und chromatischer
Dichte. Öfter geriet er dabei in die Nähe impressionistischer
Klanglichkeit, doch blieb immer die lineare Triebkraft, die melische
Spannung maßgebend und nicht das stillstehende Auskosten sich
selbst genügender köstlicher Detailwirkungen. So fand
Enescu zu einer angemessenen Verarbeitung der volksmusikalischen
Charaktere, ohne seinen stilistischen Reichtum einzuschränken.
Er fusionierte die geeigneten Anteile unterschiedlichster Stilwelten,
lief dabei aber nicht Gefahr, im selbstgeschaffenen Luxus zu ertrinken.
Vielmehr erreichte er mit der obsessiven Ausarbeitung seiner Partituren
außerordentliche Ökonomie der Mittel und Transparenz,
wie in seinem Hauptwerk, der Oper 'dipe' op. 23, einer 'tragédie
lyrique' in vier Akten auf ein Libretto von Edmond Fleg, deren Vollendung
ihn ungefähr 25 schöpferischer Prozedur kostete. Enescu
widmete den 'dipe' Maruca. Die letzten zwei Akte behandeln
jene Abschnitte in Ödipus Leben, die mit den Dramen des
Sophokles übereinstimmen. In den ersten beiden Akten sind Kindheit
und Jugend des Helden Gegenstand. Es ist nun der Schluß des
ersten Aktes zu hören, wo nach der furchtbaren Weissagung des
Tiresias die Schatten einer düsteren Zukunft heraufziehen.
Aus 'dipe' op. 23 (1931), 1. Akt: Schluß;
Orfeon Donostiara, Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, Lawrence
Foster;
EMI 2CDs 754011-2;
Enescu bestand später darauf, sein 'dipe' sei "wie
eine Symphonie gebaut".
"Es ist eine schreckliche Angelegenheit: Man muß alles
zur gleichen Zeit im Bewußtsein haben. Könnte man sich
einfach jedem Detail für sich zuwenden, so wäre es kein
Problem. Aber nein: Man muß dem Publikum das Gefühl vermitteln,
daß das ganze Werk sich zusammenschließt, indem alles
aus einem einzigen Ideenfluß entstanden ist
"
Der 'dipe' war zwar 1931 abgeschlossen, doch mit den Revisionen
daran war Enescu nie fertig, wie er überhaupt kaum ein Werk
geschrieben haben dürfte, mit dessen letzter Fassung er vollständig
zufrieden war. Viele Werke, darunter die Vierte und Fünfte
Symphonie, blieben in unvollendeten Skizzen liegen oder kamen, wie
die fehlende Zweite Klaviersonate, überhaupt nie zu Papier.
"Ich kann nicht mehr an zehn verschiedenen Kompositionen gleichzeitig
arbeiten, wie ich das in meiner Jugend tat. Ich muß bekennen,
daß ich einige Symphonien, Streichquartette und Werke für
Geige und Klavier in meinem Kopf habe, für deren Niederschrift
mir die Zeit fehlt
"
Schwere Jahre kamen auf Enescu zu. Maruca erlitt einen psychischen
Kollaps, von dem sie sich nie mehr vollständig erholte. Eine
Zeitlang befürchtete Enescu, sie könne vollständig
geisteskrank werden. Ende der dreißiger Jahre stellten sich
die ersten Anzeichen jener Rückgratverkrümmung ein, die
ihn am Ende verkrüppeln sollte. Als alter Mann mußte
er feststellen, daß seine Ohren, die bis dahin so untrüglich
funktionierten, eine verfälschte Tonhöhenwahrnehmung auslösten.
Da er und Maruca mit der kommunistischen Machtübernahme nach
dem Zweiten Weltkrieg ihren gesamten Besitz verloren hatten, mußte
er trotzdem weiterhin als gefeierter Virtuose auftreten. Sein Stolz
ließ es nicht zu, über seine Probleme zu sprechen. In
den letzten Jahren vollendete er einige seiner stärksten Werke,
darunter das Zweite Klavierquartett, das Zweite Streichquartett,
das vokalsymphonische Werk 'Vox maris' und zuletzt die Kammersymphonie.
Ich komponiere beständig, aber sehr langsam, sehr sorgfältig
und nicht in exakter Übereinstimmung mit dem herrschenden
Stil heutiger Tonsetzer
Ich gehe meine Werke wieder und wieder durch, manchmal jahrelang,
ohne daß sie aufgeführt werden. Manchmal verändert
eine unmerkliche Verbesserung die Bedeutung des Ganzen, oder gibt
diesem erst wirklich die notwendige Bedeutung. Ich mache ziemlich
wenig, aber so gut ich es kann."
Die Vervollkommnung der elaborierten Polyphonie und motivisch komplex
verschränkten Form trieb Enescu am weitesten im 1952 beendeten
Zweiten Streichquartett und in der Kammersymphonie op. 33. Aus letzterem
Werk hören Sie den Schlußsatz, der aus dem langsamen
Satz hervorgeht und die motivischen Stränge der vorangehenden
Sätze bündelt. Lawrence Foster leitet das Orchestre de
Chambre de Lausanne.
4. Satz, Allegro molto moderato, aus der Symphonie de chambre op.
33 (1954);
Orchestre de Chambre de Lausanne, Lawrence Foster;
Claves/Disco-Center CD 50-8803;
Im Juli 1954 erlitt George Enescu über der abschließenden
Überarbeitung seiner Kammersymphonie einen schweren Schlaganfall,
der ihn halbseitig gelähmt zurückließ. Das Werk
blieb die letzte Etappe einer immer gründlicher, immer besessener
die einzelnen Schritte überprüfenden kompositorischen
Reise. In der Nacht vom 3. auf den 4. Mai 1955 starb George Enescu
in Paris.
"Wenn ich alles zu Papier bringen könnte, was sich in
meinem Kopf bewegt, so würde ich Hunderte von Jahren benötigen."
George Enescu hatte eine einzigartige musikalische Sprache entwickelt,
indem er die anerworbene Klarheit der Klassizität mit dem quasi
improvisando seiner angestammten Innenwelt durchwob mit jenem
magischen 'dor', jener "unbestimmten, aber aufs Tiefste bewegenden
Sehnsucht". Dann war der ordnende Geist von 'dor' durchdrungen,
und er fand zu sich selbst. Seine Heterophonie war wohl vor allem
der Versuch, den symphonischen Linien jenen unfaßlichen Ausdrucksreichtum,
jenes farbig schimmernde Moment, letztlich aber: jenen Empfindungsreichtum
zu verleihen, jenes 'dor', das von frühester Zeit an in ihm
mitschwang. Zum Schluß spielen Isaac Stern und Alexander Zakin
das Finale, Allegro con brio, ma non troppo mosso, aus der Dritten
Violinsonate von George Enescu, geschrieben 'im volkstümlichen
rumänischen Charakter': eine Art imaginierter Folklore von
überquellender Vitalität.
Schluß des 3. Satzes, Allegro con brio, ma non troppo mosso,
aus der 3. Violinsonate op. 25 (1926);
Isaac Stern (Violine), Alexander Zakin (Klavier);
Sony CD SMK 64532;
Benutzte Literatur
'George Enescu His Life an Music' von Noel Malcolm; Verlag
Toccata Press, Exeter, 1990 (ISBN 0-907689-33-7).
'Yehudi Menuhin Georges Enesco' von Bernard Gavoty (übers.
A.-H. Eichmann); Verlag R. Kister, Genf, 1960.
'Unvollendete Reise. Lebenserinnerungen' von Yehudi Menuhin (übers.
I. Nadolny; Piper Verlag, München, 1976.
Sendemanuskript für BR2 (Redaktion: Wilfried Hiller);
Sprecher der Enescu-Zitate: Gerd-Udo Feller;
Produktion: 26./28.1.1998;
Erstsendung: 4.2.1997, 23:o5-24:oo, "Mittwochsthema"
Christoph Schlüren, 1/98
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