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"Zukunftsmusik" in klassischer Form

Felix Draeseke und die "Symphonia tragica"

Noch so eine Ausgrabung, wird sich mancher denken. Wer ist denn Felix Draeseke? Für Kenner ein Begriff, wenn auch überwiegend aus dem Musikgeschichts-Schrifttum bekannt. So bei HansJoachim Moser, der in seiner populären "Musikgeschichte in 100 Lebensbildern noch 1958 dem "Recken" ein ganzes Kapitel zuerkennt: "Dieser große Könner und menschlich gediegene Künstler ist an praktischer Auswirkung leider für die große Öffentlichkeit nur ein 'Nebenmeister' geblieben trotz des Wertes seiner Symphonia tragica und dem Riesenwurf seines 'Christus'-Oratotiums." Über die Tragica schreibt Moser: "Die Sinfonie ist zweifellos die bedeutendste ihrer Zeit nach Brahms, Bruckner und Tschaikowskij, und das ebenso durch Zusammenraffung der Form wie an Ausdrucksgeladenheit. Bülow, Nikisch, Göhler und Pfitzner haben dem Werk begeisterte Zuhörer erstritten." Über die Oratorien-Tetralogie "Christus" (1895-99) schließlich befindet er: "Großartig gekonnte Chorszenen und eindrückliche Soloauftritte wechseln übersichtlich, Leitmotive erklären sich gegenseitig, ohne die Händel-Anteile mit Musik im Sinne Wagners zu überdecken. Man könnte ebenso von einer organischen Bach-Bruckner-Synthese sprechen. Als Gesamtleistung war dies Werk, gerade im Zeitalter von Nietzsches Antichrist-Pochen, eine religiöse Tat und bildete hierzu ein geistesgeschichtliches Gegengewicht."
Wenn er ein so großer Meister gewesen sein soll, warum ist Draeseke dann so gänzlich übersehen worden, zumal in der heutigen Nischenpflegeszene der kleinen Klassiklabels, die sich mit Feuereifer auf Unbedeutendes stürzen? Das hängt sicher mit den musikalischen Schwierigkeiten seiner Werke zusammen, also mit der stilistischen Eigentümlichkeit. Draeseke macht es den Hörern nicht unbedingt leicht, auch nicht den heutigen, an schwerverdauliche Kost gewöhnten. Der Freund Hans von Bülow ließ ihn, nach manch herben Erfahrungen mit reservierten Zuhörern, einst ernüchternd wissen: "Werke wie die Deinigen können im Laufe der Dinge nur analegomina figuriren. Vulgus will ergötzt, sagen wir erquickt sein und solche 'niedere' Tendenz ist Dir allzubekanntlich wildfremd. Man wird Deiner Musik – von Sachverständiger Seite – stets den gebührenden Respekt entgegenbringen, aber auf besondere Sympathie darfst Du nirgends rechnen." Harte Worte, durch mehr als hundertjährige Tatsachen belegt. Wenn man die jüngst bei MDG erschienene erste Sinfonie hört, wird man sie bestätigt finden: Wie schwer sich die Themen einprägen, wie komplex und eigenartig die harmonische und kontrapunktische Faktur vernetzt sind! Das ist noch heute höchst anspruchsvolle Sinfonik für Kenner, die über die Bewunderung des phänomenal disponierten kombinatorischen Reichtums hinaus den Einfühlungswillen aufbringen, ins Innere der Musik vorzudringen, die etwas spröde, manchmal fast abweisend herbe Außenseite zu überwinden. Es klingt freilich vor allem deshalb so abweisend, weil die ausführenden Musiker selbst sich noch nicht den Kern der musikalischen Verläufe erschlossen haben. Einen natürlichen Zugang zu Draesekes Tonsprache in all ihren unerschöpflichen, oft eigenbrötlerisch anmutenden Facetten kann man erst mit längerer, intensiver Auseinandersetzung gewinnen. Dann erst lernt man in dieser vielgestaltigen und so gar nicht eingängigen Tonwelt das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden, ihre Art modulatorischer Bewegung als folgerichtig und bezwingend erfühlen.
Felix August Bernhard Draeseke wurde am 7. Oktober 1835 in Coburg geboren und begann als Fünfjähriger mit dem Klavierspiel, als Achtjähriger mit dem Komponieren. Mit fünf Jahren erlitt er auch eine Mittelohrentzündung, die nie ausgeheilt wurde, sein Gehör bereits in frühen Jahren zusehends beeinträchtigte und schließlich zu fast völliger Ertaubung führte. 1852-55 studierte Draeseke am Leipziger Konservatorium bei dem konservativen Julius Rietz (Komposition), bei Friedrich Richter und Moritz Hauptmann (Theorie), Louis Plaidy und Ignaz Moscheles (Klavier) sowie Franz Brendel (Musikgeschichte). Seine offenkundige Wagner-Begeisterung erregte beim Lehrkörper starkes Mißfallen. 1855 vollendete er eine neutönerische Sinfonie in C-Dur, seine nicht erhaltene "Nullte", die er später wahrscheinlich vernichtet hat. Auf Vermittlung Brendels betätigte er sich als gefürchteter Kritiker, der entschieden für die neudeutsche Richtung eintrat und sich so manchen Feind fürs Leben schuf. 1857 machte ihn Bülow mit Franz Liszt bekannt, der sich alsbald sehr für ihn einsetzte. Draeseke gehörte nun zum engsten Kreis der Weimarer Neudeutschen und schrieb radikale "Zukunftsmusik" wie die Kleist-Kantate "Germania an ihre Kinder" und die monumentale Tondichtung "Julius Caesar". Im Juli 1859 besuchte er Richard Wagner in der Schweiz und wurde Zeuge der Vollendung von "Tristan und Isolde". Dieser war für ihn "der weitaus originellste Geist, dem ich je begegnet bin… In Wagner trat mir ein gebildeter Geist, begabt mit produktivem Genie, entgegen, der das Bedürfnis fühlte, über alle sich ihm bietenden Erscheinungen selbständig zu denken."
Im August 1861 dirigierte Draeseke auf der zweiten Weimarer Tonkünstlerversammlung seinen "Germania-Marsch": "Durch dieses Stück wurde ich als Schrecken der Menschheit hingestellt und zwar in ganz Deutschland, indem alle Zeitungen sich beeilten, über die Schule en bloc ein Verdammungsurteil zu fällen, mich aber als die besonders gefährliche Bestie zu kennzeichnen." Nach diesen Ereignissen verließ Liszt Weimar und ging nach Rom. Am 17. Oktober 1862 ging Draeseke in die "selbstgewählte Verbannung" in der französischen Schweiz, aus der erst nach 14 "verlorenen Jahren" nach Deutschland zurückkehrte. Sein Komponieren erfuhr eine grundlegende Wandlung hin zu Verinnerlichung und Ausgewogenheit, die man in seiner ersten (1869-72) und zweiten (1871-76) Sinfonie und dem h-moll-Requiem beobachten kann: "Mit diesen Werken, denen Gudrun und die Symphonia tragica folgte, hatte ich mein Gleichgewicht wiedergewonnen und war mir meines künstlerischen Zieles bewusst geworden. Als Kind meiner Zeit und ausgerüstet mit ihren Mitteln, wollte ich ihren Inhalt musikalisch aussprechen, aber in pietätvoller Anlehnung an die großen früheren Meister. Ihre grossen Errungenschaften sollten hoch und wert gehalten werden und neben ihnen die der sogenannten Zukunftsmusik. Was diese uns an neuem Stoff und neuen Mitteln zugeführt hatte, wollte ich versuchen, der Musikwelt in klassischer Form darzubieten. Natürlich war hierunter nicht zu verstehen eine sklavische Nachbildung der früheren Leistungen. Deren Formen sollten frei behandelt und entwickelt, auch formelle Neubildungen versucht, alle gebotenen harmonischen, rhythmischen, modulatorischen Mittel ausgenutzt werden."
Was die thematische Fasslichkeit betrifft, ist die zweite Sinfonie in F-Dur op. 22 schon weit einladender beschaffen als die erste, wobei die kontrapunktische Überlagerungskunst hier am weitesten getrieben ist.

Richard Strauss hat Draesekes sinfonische Schöpfungen sehr bewundert und sich in seiner frühen f-moll-Sinfonie stark an diesen Vorbildern orientiert. Und, so originell und einzigartig Strauss’ in seinem "Don Juan" (unbestritten!) ist: Man kann bei Draeseke die Vorboten des spezifischen Straussschen Schwungs hören, so zweifelsfrei im federnden Kopfsatz der zweiten Sinfonie. Eigentümlich bei dieser Sinfonie ist das anstelle eines langsamen Satz eingeschobene Allegretto marciale mit seiner hintergründigen, fast unheimlichen Atmosphäre.
Die dritte Sinfonie, die "Symphonia tragica", entstand 1885-86 in Dresden (wo er seit 1876 lebte) und wird seither als Draesekes sinfonisches Hauptwerk angesehen. Hierin vergleichbar den Sinfonien Nr. 5 und 8 von Anton Bruckner, ist sie ein vollendet gelungenes Meisterstück zyklischer Formung, wo zum Ende des Finales elementar satzkonstituierende Themen und Charaktere wiederkehren. Es ist Draeseke hier gelungen, die Spannung über die sehr divergierenden ersten drei Sätze hinweg auf das Finale hin zu orientieren, wo sie sich schließlich mit der ins Turbulente verwandelten Rückkehr der Anfangstakte des Kopfsatzes in gigantischer Weise entlädt. An der großartigen Qualität dieses Werks haben in der Fachwelt kaum je ernsthafte Zweifel bestanden. Die Aufführungen von Bülow, Nicodé und vor allem Arthur Nikisch, dem glühendsten Verfechter der Tragica, trugen Draeseke einige seiner größten Erfolge ein. In seinen späten Jahren konzentrierte er sich mehr auf die geistliche Musik – wo er, zumal in den a-cappella-Vertonungen von Messe und Requiem, als wohl bedeutendster Zeitgenosse neben Bruckner und Brahms gelten darf – und schrieb außerdem großdimensionierte deutsche Heldenopern. Nur eine weitere Sinfonie sollte noch entstehen: 1912 die lakonische, verwinkelt humoristische "Symphonia comica", seine vierte. Sechs Jahre zuvor hatte er, der einstige Förderer des jungen Strauss, anläßlich der ersten Dresdner "Salome" den unglückseligen Mahnruf "Die Konfusion in der Musik" in die musikalische Welt geschleudert. Damit war in den Augen der Fortschrittler der einstige Revolutionär endgültig zum Reaktionär geworden. Draeseke starb, nachdem er 1912 noch die ersten Gesamtaufführungen seines "Christus" unter Bruno Kittel hatte erleben dürfen, am 26. Februar 1913 in Dresden. Fatalerweise entdeckten ihn dann die Nationalsozialisten für ihre Zwecke und veranstalteten Draeseke-Feste an den Orten seines Wirkens, wodurch sein Fall nach dem Ende des Zweiten Weltkreigs erst recht erledigt war. Als sein bedeutendster Schüler muß der große Dresdner Sinfoniker Paul Büttner (1870-1943) genannt werden, auch ein "Wiederzuentdeckender".
Die bislang einzige erhältliche Schallplattenaufnahme der "Symphonia tragica" erschien 1955 bei Urania (UR-LP 7162) und wurde 1979 bei Varèse-Sarabande in problematisch nachstereophonisierter Version (mit zwei fehlenden Anfängen) wiederveröffentlicht. Als Aufführende sind Hermann Desser und das Berlin Symphony Orchestra angegeben. Tatsächlich spielt das Orchester des Reichssenders Berlin (wahrscheinlich 1942) unter Leitung von Dr. Heinz Drewes, Generalintendant und GMD dieses Orchesters und Leiter der Abteilung X Musik des Reichministeriums für Volksaufklärung und Propaganda. Eine Veröffentlichung unter richtigem Namen war nach dem Kriege in den alliierten Ländern unmöglich. Da Drewes im Finale eine ebenso überflüssige wie ungünstige Kürzung des zentralen Fugato hatte vornehmen lassen, liegt nunmehr im Jahr 2000 das sinfonische Hauptwerk Felix Draesekes erstmals in Originalgestalt auf einem kommerziellen Tonträger vor. Fürwahr, ein langer Weg für eines der gewaltigsten Werke deutscher Sinfonik.
Christoph Schlüren

('Kleiner Lauschangriff' für Klassik Heute)
Diskographie Felix Draeseke:
3. Sinfonie op. 40 in C "Symphonia tragica", Trauermarsch in e-moll op. 79;
Radio-Philharmonie Hannover des NDR, Jörg-Peter Weigle
cpo 999 581-2 (Vertrieb: jpc)
1. Sinfonie op. 12 in G-Dur, Klavierkonzert in Es-Dur op. 36;
Claudius Tanski (Klavier), Wuppertaler Sinfoniker, George Hanson
MDG 335 0929-2 (Vertrieb: Naxos)
Große Messe in a-moll op. 85 für 4-st. gem. Chor a cappella (+Schumann)
Niederländischer Kammerchor, Uwe Gronostay
Globe 5147 (Vertrieb: Note 1)
Christus, ein Mysterium in einem Vorspiel und drei Oratorien opp. 70-73
Philip Langshaw u. a., Staatl. Philharmonie Breslau, Udo-R. Follert
Bayer 5 CDs 100 175-179 (Vertrieb: Note 1)
Komplette Werke für Cello und Klavier
Barbara Thiem (Cello), Wolfgang Müller-Steinbach (Klavier)
AK/Coburg DR-0002 (Vertrieb: Liebermann)
Quintett in B-Dur op. 48 für Klavier, Streichtrio und Horn (+ Schumann)
Gottfried Langenstein (Horn), Mozart Klavierquartett
MDG 615 0673-2
Klaviersonate in cis-moll op. 6 (+ Liszt: h-moll-Sonate)
Claudius Tanski
MDG L3514
Sonaten für Viola und Klavier Nr. 1 in c-moll und Nr. 2 in F-Dur
Franco Sciannameo (Viola), Eric Moe (Klavier)
AK/Coburg DR-0001 (Vertrieb: Liebermann)
(Stand 2000)