Musikgeschichte wird, vor allem in
unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen, meist in Trends,
Strömungen und Kategorien geschrieben, die stets mit wenigen
überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht
werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch viele jener
Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz Großen"
gezählt werden, Persönlichkeiten sind, deren Werdegang
und Werk in keine Schublade paßt, sondern eine eigene Kategorie
begründet. Vom musikalischen Establishment hartnäckig
ignoriert, schuf er 32 Symphonien und sechs große Bühnenwerke
von teils gigantischen Ausmaßen und bis ins Greisenalter nicht
versiegender, stupender Originalität:
(Anspieltip: Gothic Symphony)
"Meine Symphonien komponieren sich selbst."
Bis heute ist Havergal Brian weniger für seine Musik berühmt
als für deren rekordträchtige Begleitumstände. Seine
Erste Sinfonie, 'The Gothic', komponiert zwischen 1919 und 1927,
dauert üblicherweise fast zwei Stunden, worunter eine gewaltige
Vertonung des 'Te Deum' den Hauptteil bildet, und verlangt eine
riesige Besetzung von wenigstens 197 Instrumentalisten (darunter
vier separate Blechbläsergruppen) und 500 Sängern. Mit
diesen Vorgaben ging sie ins Guiness-Buch der Rekorde ein, kam jedoch
erst 34 Jahre nach der Vollendung 1961 in London zur Uraufführung.
Die erste professionelle Aufführung des symphonischen Kolosses
leitete 1966 Adrian Boult in der Royal Albert Hall anläßlich
des 90. Geburtstags des Komponisten. Das andere sensationsheischende
Faktum ist Brians ungeheuerliche Altersproduktion: Allein 22 Sinfonien
schuf er mit über 80 Jahren. Die 'Gothic Symphony', seine erste,
schloß er 51-jährig ab, und selbst dann sollte es noch
weitere 27 Jahre dauern, bis erstmals eine seiner Sinfonien gespielt
wurde. Man traute ihm als einem Sproß der 'working class'
und weitgehenden Autodidakten nicht einmal wirkliche Professionalität
zu.
'The Gothic' ist das Gegenteil eines epigonalen, dick aufgetragenen
Riesenschinkens. Schon in diesem Werk ist die generelle Charakteristik
Brian, die absolute Unvorhersehbarkeit der Entwicklung, voll ausgebildet.
Es geht immer anders weiter als man vermuten würde. Brians
Sinfonien sind ausnahmslos Abenteuertrips, führen "towards
the unknown region". Alles ist hoch differrenziert, kühn
in der assoziativen Verbindung, nie der naheliegenden Anziehungskraft
von Mahler, Strauss oder Elgar unterworfen. Brian ist sein eigener
Herr, und seine Wege sind eine ständige Herausforderung für
Entdeckungsfreudige. Das lineare, kontrapunktische Element und die
rhythmische Bestimmtheit sind von zentraler und im Spätschaffen
noch zunehmender struktureller Bedeutung, wogegen die Harmonik mehr
Resultat des mehrstimmigen Geflechts als bewußt erstrebtes
Ziel ist.
Nach seiner Gothischen schrieb Brian weitere großangelegte
Symphonien von meist einer knappen Stunde Länge. Die Behauptung
ist nicht unberechtigt, daß diese tatsächlich von Werk
zu Werk immer eigentümlicher und damit auch auf Anhieb schwerer
zugänglich wurden. So sehr die tonalen Bausteine seiner Musik
durchaus aus der Tradition stammen, so unkonventionell ist die Verknüpfung
zu zusammenhängenden Abschnitten oder gar einem symphonischen
Ganzen. Daher wurde ihm von Seiten der konservativen Kritik "Formlosigkeit"
vorgeworfen, wogegen die Fortschrittsästheten das "Festhalten
an tonalen Wirkungen" bemängelten. Also auch er dank seiner
Eigenständigkeit Opfer der ideologischen Grabenkämpfe.
In der dritten Symphonie kann man auf höchst faszinierende
Weise mitverfolgen, wie set-artig variativ aneinandergereiht leicht
Faßliches in Fremdartiges, scheinbar Traditionelles in wahrhaft
Unerhörtes umkippt, alles in brillanter und oftmals bizarrer
Instrumentation. Die Vierte Symphonie, eine 1931-32 parallel zu
Hitlers Machtergreifung entstandene Vertonung des 68. Psalms in
Luthers Übersetzung, trägt den deutschen Titel 'Das Siegeslied'.
Und welche Koinzidenz: nach feierlich barockisierendem Beginn in
der Art eines verwegen modernisierten Händel-Stils erreicht
die Musik schnell die unseligen Gefilde von Schmerz, Klage, Verzweiflung
und Schrecken. Diese Symphonie sollte die letzte sein, in der Gesang
vorkommt. Doch war Brian auch im Operngenre sehr fruchtbar. Sein
erstes Hauptwerk vor der 'Gothic' war die satirische Oper 'The Tigers'
(1917-19). Die darauffolgende weitgehende Konzentration auf das
Symphonische wurde 1937-44 von dem vierstündigen Lyrischen
Drama 'Prometheus Unbound' nach Shelley (dessen Partitur verschollen
ist) sowie 1949-57 durch die Komposition der vier Opern 'Turandot',
'The Cenci', 'Faust' und 'Agamemnon' (letzterer als Einakter vor
Strauss 'Elektra' zu spielen; Brian: "Wenn Sie wissen
wollen, wo Elektra herkommt
") unterbrochen. Keines dieser
Werke, die zum Teil bis heute nicht erklungen sind, ist in einer
Aufnahme erhältlich. William Havergal Brian wurde am 29.
Januar 1876 in Dresden, Staffordshire als Töpferkind geboren.
Das Milieu der Arbeiterklasse erlaubte den Schulbesuch nur bis zum
12. Lebensjahr. Sein Vater spielte Bassetthorn und Bsariton in einer
Militärkapelle von daher rührt wohl Brians lebenslange
Allusionen an Militärmusik. Er zeigte vielseitige musikalische
Begabung und lernte Geige, Cello, Klavier und Orgel spielen. Obwohl
er keine übliche akademische Ausbildung genoß, erwarb
er sich bald beeindruckendes kompositorisches Können und blieb
zugleich von den Fesseln der Konvention verschont. Schon in den
frühen, nach der Jahrhundertwende geschriebenen Orchesterwerken
hat er seinen unverkennbar eigenen Tonfall. Vor dem Ersten Weltkrieg
führten ihn Dirigenten wie Henry Wood, Thomas Beecham oder
Granville Bantock auf (letzterer auch noch in späteren Jahren).
Die lange Geschichte von Brians Mißerfolgen begann 1913 mit
dem Scheitern seiner ersten Ehe und dem Zerwürfnis mit seinem
großzügigsten Gönner. Als Familienvater in zweiter
Ehe hangelte er sich am Existenzminimum entlang und brachte er notgedrungen
zu beträchtlichem Ansehen als Musikjournalist.
Als der später als Sinfoniker maßgebliche BBC-Redakteur
Robert Simpson Anfang der 50-er Jahre Partituren vernachlässigter
Kollegen prüfte, stieß er auf Brians 1949 komponierte
Achte Sinfonie und war überwältig von der Originalität
und abenteuerlichen Logik dieser Musik, die einer anderen Welt zu
entstammen schien. Nun betrieb Simpson effektiv die Aufführung
von Brians Werken und löste damit in diesem jenen sinfonischen
Schaffensschub aus, der sich in 22 weiteren Sinfonien niederschlug,
die seit der Achten in der Form kompakter und knapper, im Inhalt
jedoch keineswegs schlichter und eingängiger geworden sind.
Noch zu Lebzeiten Brians konnte Simpson sogar durchsetzen, daß
die BBC sich verpflichtete, sämtliche Sinfonien Brians mit
ihren Orchestern aufzunehmen. Er hatte es nun, bevor er mit beinahe
97 Jahren starb, wenigstens in informierten Kreisen zu dem Ruf gebracht,
einer der eminentesten Sinfoniker des 20. Jahrhunderts zu sein,
und Malcolm MacDonald widmete seinen Sinfonien eine dreibändige
Werkmonographie. Sein Rang ist weiterhin umstritten. Seine Sinfonien
sind, je später desto mehr, polyphon verwobene Klanglabyrinthe,
die einem unergründlich zugrundegelegten Plan folgen. Man könnte
auch sagen: die tönende Dokumantation einer abenteuerlichen
Innenwelt, eine fortwährende Apotheose des Unerwarteten.
Christoph Schlüren
Diskographie
Symphonie Nr.1 'The Gothic';
slowakische Solisten, Chöre und Orchester, Ondrej Lenard;
Marco Polo 2CD 8.223280-281 (Vertrieb: Naxos)
Symphonie Nr. 2, Festival Fanfare;
Moskauer Sinfonieorchester, Tony Rowe;
Marco Polo 8.223790
Symphonie Nr. 3;
BBC Symphony Orchestra, Lionel Friend;
Hyperion CDA 66334 (Vertrieb: Koch)
Symphonien Nr. 4 'Das Siegeslied' und Nr. 12;
Slowakische Chöre und Orchester, Adrian Leaper;
Marco Polo 8.223447
Violinkonzert, Symphonie Nr. 18, The Jolly Miller;
Marat Bisengaliev (Violine), BBC Scottish Symphony Orchestra, Lionel
Friend;
Marco Polo 8.223479
Symphonien Nr. 11 und 15, Doctor Merryheart, For Valour;
National SO of Ireland, Tony Rowe, Adrian Leaper;
Marco Polo 8.223588
Symphonien Nr. 17 und 32, In memoriam, Festal Dance;
National SO of Ireland, Adrian Leaper;
Marco Polo 8.223481
Symphonien Nr. 20 und 25, Fantastic Variations on an Old Rhyme;
National SO of Ireland, Andrew Penny;
Marco Polo 8.223731
Frühe Orchesterwerke;
Hull Youth SO, Geoffrey Heald-Smith;
Campion 2CD 1331/1332 (Vertrieb: Liebermann)
Komplette Klaviermusik;
Raymond Clarke (Klavier), Esther King (Mezzosopran);
Minerva Athene ATH 12 (Vertrieb: Scherzando)
(Stand 2001)
Informationen über Havergal Brian
The Havergal Brian Society (www.musicweb.uk.net/brian)
('Kleiner Lauschangriff' für Klassik Heute) |