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Havergal Brian (1876-1972)

Apotheose des Unerwarteten

Musikgeschichte wird, vor allem in unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen, meist in Trends, Strömungen und Kategorien geschrieben, die stets mit wenigen überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch viele jener Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz Großen" gezählt werden, Persönlichkeiten sind, deren Werdegang und Werk in keine Schublade paßt, sondern eine eigene Kategorie begründet. Vom musikalischen Establishment hartnäckig ignoriert, schuf er 32 Symphonien und sechs große Bühnenwerke von teils gigantischen Ausmaßen und bis ins Greisenalter nicht versiegender, stupender Originalität:

(Anspieltip: Gothic Symphony)
"Meine Symphonien komponieren sich selbst."
Bis heute ist Havergal Brian weniger für seine Musik berühmt als für deren rekordträchtige Begleitumstände. Seine Erste Sinfonie, 'The Gothic', komponiert zwischen 1919 und 1927, dauert üblicherweise fast zwei Stunden, worunter eine gewaltige Vertonung des 'Te Deum' den Hauptteil bildet, und verlangt eine riesige Besetzung von wenigstens 197 Instrumentalisten (darunter vier separate Blechbläsergruppen) und 500 Sängern. Mit diesen Vorgaben ging sie ins Guiness-Buch der Rekorde ein, kam jedoch erst 34 Jahre nach der Vollendung 1961 in London zur Uraufführung. Die erste professionelle Aufführung des symphonischen Kolosses leitete 1966 Adrian Boult in der Royal Albert Hall anläßlich des 90. Geburtstags des Komponisten. Das andere sensationsheischende Faktum ist Brians ungeheuerliche Altersproduktion: Allein 22 Sinfonien schuf er mit über 80 Jahren. Die 'Gothic Symphony', seine erste, schloß er 51-jährig ab, und selbst dann sollte es noch weitere 27 Jahre dauern, bis erstmals eine seiner Sinfonien gespielt wurde. Man traute ihm als einem Sproß der 'working class' und weitgehenden Autodidakten nicht einmal wirkliche Professionalität zu.
'The Gothic' ist das Gegenteil eines epigonalen, dick aufgetragenen Riesenschinkens. Schon in diesem Werk ist die generelle Charakteristik Brian, die absolute Unvorhersehbarkeit der Entwicklung, voll ausgebildet. Es geht immer anders weiter als man vermuten würde. Brians Sinfonien sind ausnahmslos Abenteuertrips, führen "towards the unknown region". Alles ist hoch differrenziert, kühn in der assoziativen Verbindung, nie der naheliegenden Anziehungskraft von Mahler, Strauss oder Elgar unterworfen. Brian ist sein eigener Herr, und seine Wege sind eine ständige Herausforderung für Entdeckungsfreudige. Das lineare, kontrapunktische Element und die rhythmische Bestimmtheit sind von zentraler und im Spätschaffen noch zunehmender struktureller Bedeutung, wogegen die Harmonik mehr Resultat des mehrstimmigen Geflechts als bewußt erstrebtes Ziel ist.
Nach seiner Gothischen schrieb Brian weitere großangelegte Symphonien von meist einer knappen Stunde Länge. Die Behauptung ist nicht unberechtigt, daß diese tatsächlich von Werk zu Werk immer eigentümlicher und damit auch auf Anhieb schwerer zugänglich wurden. So sehr die tonalen Bausteine seiner Musik durchaus aus der Tradition stammen, so unkonventionell ist die Verknüpfung zu zusammenhängenden Abschnitten oder gar einem symphonischen Ganzen. Daher wurde ihm von Seiten der konservativen Kritik "Formlosigkeit" vorgeworfen, wogegen die Fortschrittsästheten das "Festhalten an tonalen Wirkungen" bemängelten. Also auch er dank seiner Eigenständigkeit Opfer der ideologischen Grabenkämpfe. In der dritten Symphonie kann man auf höchst faszinierende Weise mitverfolgen, wie set-artig variativ aneinandergereiht leicht Faßliches in Fremdartiges, scheinbar Traditionelles in wahrhaft Unerhörtes umkippt, alles in brillanter und oftmals bizarrer Instrumentation. Die Vierte Symphonie, eine 1931-32 parallel zu Hitlers Machtergreifung entstandene Vertonung des 68. Psalms in Luthers Übersetzung, trägt den deutschen Titel 'Das Siegeslied'. Und welche Koinzidenz: nach feierlich barockisierendem Beginn in der Art eines verwegen modernisierten Händel-Stils erreicht die Musik schnell die unseligen Gefilde von Schmerz, Klage, Verzweiflung und Schrecken. Diese Symphonie sollte die letzte sein, in der Gesang vorkommt. Doch war Brian auch im Operngenre sehr fruchtbar. Sein erstes Hauptwerk vor der 'Gothic' war die satirische Oper 'The Tigers' (1917-19). Die darauffolgende weitgehende Konzentration auf das Symphonische wurde 1937-44 von dem vierstündigen Lyrischen Drama 'Prometheus Unbound' nach Shelley (dessen Partitur verschollen ist) sowie 1949-57 durch die Komposition der vier Opern 'Turandot', 'The Cenci', 'Faust' und 'Agamemnon' (letzterer als Einakter vor Strauss’ 'Elektra' zu spielen; Brian: "Wenn Sie wissen wollen, wo Elektra herkommt…") unterbrochen. Keines dieser Werke, die zum Teil bis heute nicht erklungen sind, ist in einer Aufnahme erhältlich.

William Havergal Brian wurde am 29. Januar 1876 in Dresden, Staffordshire als Töpferkind geboren. Das Milieu der Arbeiterklasse erlaubte den Schulbesuch nur bis zum 12. Lebensjahr. Sein Vater spielte Bassetthorn und Bsariton in einer Militärkapelle – von daher rührt wohl Brians lebenslange Allusionen an Militärmusik. Er zeigte vielseitige musikalische Begabung und lernte Geige, Cello, Klavier und Orgel spielen. Obwohl er keine übliche akademische Ausbildung genoß, erwarb er sich bald beeindruckendes kompositorisches Können und blieb zugleich von den Fesseln der Konvention verschont. Schon in den frühen, nach der Jahrhundertwende geschriebenen Orchesterwerken hat er seinen unverkennbar eigenen Tonfall. Vor dem Ersten Weltkrieg führten ihn Dirigenten wie Henry Wood, Thomas Beecham oder Granville Bantock auf (letzterer auch noch in späteren Jahren). Die lange Geschichte von Brians Mißerfolgen begann 1913 mit dem Scheitern seiner ersten Ehe und dem Zerwürfnis mit seinem großzügigsten Gönner. Als Familienvater in zweiter Ehe hangelte er sich am Existenzminimum entlang und brachte er notgedrungen zu beträchtlichem Ansehen als Musikjournalist.
Als der später als Sinfoniker maßgebliche BBC-Redakteur Robert Simpson Anfang der 50-er Jahre Partituren vernachlässigter Kollegen prüfte, stieß er auf Brians 1949 komponierte Achte Sinfonie und war überwältig von der Originalität und abenteuerlichen Logik dieser Musik, die einer anderen Welt zu entstammen schien. Nun betrieb Simpson effektiv die Aufführung von Brians Werken und löste damit in diesem jenen sinfonischen Schaffensschub aus, der sich in 22 weiteren Sinfonien niederschlug, die seit der Achten in der Form kompakter und knapper, im Inhalt jedoch keineswegs schlichter und eingängiger geworden sind. Noch zu Lebzeiten Brians konnte Simpson sogar durchsetzen, daß die BBC sich verpflichtete, sämtliche Sinfonien Brians mit ihren Orchestern aufzunehmen. Er hatte es nun, bevor er mit beinahe 97 Jahren starb, wenigstens in informierten Kreisen zu dem Ruf gebracht, einer der eminentesten Sinfoniker des 20. Jahrhunderts zu sein, und Malcolm MacDonald widmete seinen Sinfonien eine dreibändige Werkmonographie. Sein Rang ist weiterhin umstritten. Seine Sinfonien sind, je später desto mehr, polyphon verwobene Klanglabyrinthe, die einem unergründlich zugrundegelegten Plan folgen. Man könnte auch sagen: die tönende Dokumantation einer abenteuerlichen Innenwelt, eine fortwährende Apotheose des Unerwarteten.

Christoph Schlüren

Diskographie

Symphonie Nr.1 'The Gothic';
slowakische Solisten, Chöre und Orchester, Ondrej Lenard;
Marco Polo 2CD 8.223280-281 (Vertrieb: Naxos)
Symphonie Nr. 2, Festival Fanfare;
Moskauer Sinfonieorchester, Tony Rowe;
Marco Polo 8.223790
Symphonie Nr. 3;
BBC Symphony Orchestra, Lionel Friend;
Hyperion CDA 66334 (Vertrieb: Koch)
Symphonien Nr. 4 'Das Siegeslied' und Nr. 12;
Slowakische Chöre und Orchester, Adrian Leaper;
Marco Polo 8.223447
Violinkonzert, Symphonie Nr. 18, The Jolly Miller;
Marat Bisengaliev (Violine), BBC Scottish Symphony Orchestra, Lionel Friend;
Marco Polo 8.223479
Symphonien Nr. 11 und 15, Doctor Merryheart, For Valour;
National SO of Ireland, Tony Rowe, Adrian Leaper;
Marco Polo 8.223588
Symphonien Nr. 17 und 32, In memoriam, Festal Dance;
National SO of Ireland, Adrian Leaper;
Marco Polo 8.223481
Symphonien Nr. 20 und 25, Fantastic Variations on an Old Rhyme;
National SO of Ireland, Andrew Penny;
Marco Polo 8.223731
Frühe Orchesterwerke;
Hull Youth SO, Geoffrey Heald-Smith;
Campion 2CD 1331/1332 (Vertrieb: Liebermann)
Komplette Klaviermusik;
Raymond Clarke (Klavier), Esther King (Mezzosopran);
Minerva Athene ATH 12 (Vertrieb: Scherzando)
(Stand 2001)

Informationen über Havergal Brian

The Havergal Brian Society (www.musicweb.uk.net/brian)
('Kleiner Lauschangriff' für Klassik Heute)