DG 459635-2
(4CD/194'/1976, 1975, 1976, 1974)
Nach einigen Gastspielen Ende der fünfziger und Mitte der sechziger
Jahre dirigierte Sergiu Celibidache von 1971 bis 1982 regelmäßig
das Stuttgarter Radio-Sinfonieorchester, bis er sich fast ausschließlich
auf seine Tätigkeit als Münchner Generalmusikdirektor
konzentrierte. 1972-77 war er, ohne schriftliche Verpflichtung seinerseits,
künstlerischer Leiter des Stuttgarter Orchesters, das somit
in seinem Wirken einen ähnlichen Stellenwert erhielt wie zuvor
das Sinfonieorchester des Schwedischen Rundfunks. Die DG beginnt
nun mit den vier Brahms-Sinfonien die kommerzielle Auswertung der
schwäbischen Konzertmitschnitte und kommt damit der EMI zuvor,
die Ende Mai dieselben Werke mit den Münchner Philharmonikern
vorlegen möchte. Die Koinzidenz ist kein Unglück, denn
das Münchner Phänomen wird einzigartig bleiben. Die extrem
breiten Tempi des späten Celibidache nämlich wird man
in den siebziger Jahren noch vergeblich suchen. Die Stuttgarter
Tempi stimmen weitgehend mit denjenigen der italienischen Rai-Dokumente
vom März 1959 überein, die illegal vielerorts erhältlich
sind, oder auch in der Vierten Sinfonie mit jenen
der Berliner Philharmoniker vom 21. November 1945. Im übrigen
aber überragen sie hinsichtlich der orchestralen und aufnahmetechnischen
Qualität (gegenüber Berlin auch der dirigentischen Meisterung)
ihre Vorläufer bei weitem. Celibidaches Brahms knüpft
fraglos bei Furtwängler an. Doch hat Celibidache viel weniger
der Gunst des Moments überlassen und in fanatischer Weise die
strukturelle Dimension herausgearbeitet. Es gibt in allen vier Werken
keinen Moment, wo das im Augenblick Entstehende nicht aus der organischen
Gesamtgestalt, aus der lebendigen Architektur heraus begründet
wäre. Auch der Brahmssche Tonfall und Charakter ist in identifikatorischer
Weise verwirklicht, ohne je zum Sentimentalischen oder aufgesetzt
Stilisierten zu tendieren. Welch mitreißendes Feuer und zugleich
welche natürliche Anmut prägen den Kopfsatz der Dritten
Symphonie, der plötzlich so gar nicht mehr sperrig erscheint!
Und im Andante kann man in unerhörter Weise mitvollziehen,
wie alles aus der bezwingend geoffenbarten Struktur definiert und
zugleich von pulsierendem Leben durchdrungen ist. Was für Übergänge,
wo subtilst abgestimmte Kontinuität auch das durchbrochenste
Satzbild bestimmt. Jeder Moment kann sein Eigenleben entfalten,
soweit es nur irgend innerhalb des Zusammenhangs zu rechtfertigen
ist. Hier durchdringt alles jedes, ein ideales soziales Gefüge
des motivisch Gestalthaften mithin innerhalb des bindenden Stroms
harmonischen Bezugs. Nichts bleibt blendende Einzelerscheinung,
und doch kommt allem sein Recht auf "freie" Entfaltung
zu. Entsprechendes gilt für alle Sätze dieser Sinfonien.
Grandios ist, wie man bei besserer Kenntnis der Werke in Celibidaches
Darstellung immer eindeutig spüren kann, wo man sich gerade
innerhalb des Formprozesses befindet. Alles hat untergründig
Richtung, geradezu körperhaft überträgt sich der
jeweilige Grundzug der Auseinandersetzung das Auseinandertreiben
der thematischen Welten in der Exposition (welcher Sinn für
überraschenden Kontrast!), der wellenförmig artikulierte
Drang nach vorn mit Beginn der Exposition bis hin zum stets unzweifelhaft,
aber nie theatralisch realisierten Höhepunkt, das untrüglich
disponierte Konvergieren in der Reprise und die Erfüllung im
Schluß, sei er nun suggestiv geführter Abgesang oder
lebenssprühende Apotheose.
Celibidaches Brahms ist gesungen vom ersten bis zum letzten Takt.
Keiner sonst hat so bewußt an nobler, natürlich atmender
Phrasierung (man höre das Hauptthema aus dem Finale der Ersten
Symphonie), an schlüssiger Artikulation der modulatorischen
Bögen gearbeitet. Die rhythmischen Finessen sind nicht nur
gestochen scharf herausgearbeitet (mit den Abstrichen kleinerer
Live-Pannen), immer dies nicht zuletzt infolge einer ebenso
virtuos-flexiblen wie keineswegs "äußerlichen"
Gestik! ist der Rhythmus federnd, biegsam im Dienste der
Melodie. Die oft sehr ausladenden Rubati sind sowohl aus instrumentatorischen
(also unterschiedlichem Klangreichtum verschiedener Kombinationen)
als auch aus formbildenden Gründen motiviert, mitnichten aber
aus blinder Detailliebe. Besonders hervorzuheben ist Celibidaches
Modellierung des vertikalen Zusammenklangs. Brahms Instrumentation
hat ihre Tücken, kann durchaus bei pauschelerer Ausführung
die strukturelle Fortschreitung verdunkeln und manchmal spröde
wirken. Celibidache erbringt den Gegenbeweis. Er hält immer
am typischen, aus tiefer Ruhe heraus ergiebigen, warm resonierenden
Brahms-Klang fest und verfällt nicht in impressionistische
oder expressionistische Effekte. Aber dem Klang wird stets die "bestmögliche",
leuchtendste Seite als Träger seiner strukturellen Funktion
abgewonnen. Im Finale der Vierten bringt das Stuttgarter Orchester
ein wahrhaft unerhörtes Wunder kompositorischer Folgerichtigkeit
zum klingen, das Passacaglia-Thema triumphiert durch alle Verwandlungen
hindurch. Das alles sind keine interpretatorischen Spezialfälle,
sondern in Ermangelung ideologischer Fixiertheit eher
Idealfälle. Wobei auch das Ideale immer innerhalb des Möglichen
geschieht (man höre den packenden Probenauszug). Das Stuttgarter
Orchester hat seine Limits hinsichtlich der Fähigkeiten der
Einzelnen (auch aufnahmetechnisch ist mehr Transparenz und räumliche
Präsenz möglich). Vieles mag in München noch idealer
geklungen haben, wiewohl auch die Münchner Philharmoniker schon
in der eigenen Stadt dem BR-Sinfonieorchester nur unter Celibidache
das Wasser reichen konnten. Aber wozu lange bejammern, daß
Celibidache kaum mit den absoluten Spitzenorchestern gearbeitet
hat? Gegen das, was hier zu hören ist, wird sich fast alles
andere zwangsläufig sehr arm ausnehmen.
Christoph Schlüren
Interpretation: höchste Bewertung
Vergleichsaufnahmen: Furtwängler (EMI), Celibidache/Rai Milano
(Fonit Cetra), Barbirolli (EMI), Walter (Sony), Toscanini/NBC (Music&Arts),
Bernstein/NYP (Sony), Harnoncourt (Teldec), Mackerras (Telarc)
(Rezension für Klassik Heute) |