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Jean Sibelius Lemminkäinen-Legenden
op. 22 (1893-95)

Geheimnisvolle Welt der Kalevala

"Meine Symphonien sind Musik, die als musikalischer Ausdruck ohne jedwede literarische Grundlage erdacht und ausgearbeitet worden ist. Ich bin kein literarischer Musiker. Für mich fängt die Musik dort an, wo das Wort aufhört. Eine Szene kann in einem Gemälde, ein Drama in Worten ausgedrückt werden; eine Symphonie soll zuerst und zuletzt Musik sein. Natürlich habe ich es erlebt, daß im Zusammenhang mit einem musikalischen Satz, den ich schrieb, sich mir innerlich ganz unfreiwillig ein Bild aufdrängte, aber das Samenkorn und die Befruchtung meiner Symphonien lagen im rein Musikalischen. Als ich symphonische Dichtungen schrieb, war das Verhältnis natürlich anders. 'Tapiola', 'Pohjolas Tochter', 'Lemminkäinen' oder 'Der Schwan von Tuonela' sind Eingebungen aus unserer nationalen Dichtung, aber ich erhebe keinen Anspruch darauf, daß sie als Symphonien zu betrachten seien."

Jean Sibelius, 1934

Programmatische Musik im Sinne des Nachzeichnens eines realistischen Handlungsablaufs sind Sibelius’ Tondichtungen freilich auch nicht. So berichtete Nils-Eric Ringbom über den Schluß der ersten Legende aus op. 22, 'Lemminkäinen und die Mädchen auf Saari': "Die dramatische Entwicklung des musikalischen Geschehens im letzten Abschnitt des Werkes schien mir dafür zu sprechen, daß hier auch die Entführung selbst [der Kyllikki] musikalisch geschildert ist. In der Antwort auf eine entsprechende Anfrage wollte mir Sibelius das jedoch nicht bestätigen und erklärte mit Bestimmtheit, daß sein Werk nur die Atmosphäre um das tolldreiste Leben des Helden, nicht aber den Handlungsverlauf im einzelnen habe konkretisieren wollen."

Nach dem Kullervo op. 7 erwählte sich Sibelius als nächste Kalevala-Zemtralgestalt den Helden Lemminkäinen. Zuerst wollte er über den Stoff eine Oper 'Die Schaffung des Bootes' komponieren. Doch schuf er nur das Vorspiel zur Oper, das als 'Der Schwan von Tuonela' zu Weltruhm gelangte und in der Lemminkäinen-Suite als zweites Stück erklingt (in der ursprünglichen Fassung stand es an dritter Stelle). Die Lemminkäinen-Legenden wurden im Winter 1895/96 vollendet und im April 1896 unter Sibelius selbst uraufgeführt. Daraufhin revidierte Sibelius den gesamten Zyklus und führte ihn im November 1897 erstmals in der Neufassung auf. Die zwei letzten Sätze unterzog er danach einer nochmaligen Umarbeitung, die 1900 abgeschlossen wurde.

Die schon erwähnte erste Legende, 'Lemminkäinen und die Mädchen auf Saari', schildert aus Lemminkäinens übermütigem Leben bei den Jungfrauen auf der Insel Saari. Er will die wunderschöne Kyllikki gewinnen und wird ihrer habhaft, indem er sie raubt. Wie es die Bezeichnung schon nahelegt, ist Sibelius’ Tonfall hier legendenhaft wie sonst kaum. Allerdings sind auch schon die revolutionären, in Detaillösungen wie in der Großform unkonventionellen Lösungen späterer Werke teilweise vorweggenommen. Hierzu gehört der bei guter Ausführung entstehende kontinuierliche Accelerando-Charakter, der später im Kopfsatz der Fünften Symphonie exemplarische Ausprägung erfährt. Dort wird das Accelerando bis zum Ende durchgezogen. In der ersten Lemminkäinen-Legende markiert es den Vivacissimo-Höhepunkt, nach welchem sich das aufgeregte Geschehen beruhigt. Ein Studium typischer Sibelius-Faktur könnte mit den ersten Partiturseiten dieser Legende beginnen.

 

Am Anfang steht zweimal der mystische Hornakkord, der thematisch versteckte Folgen hat. Dann folgt die statisch-fahl figurierte Fläche, die im zweimaligen Quartenanstieg abbricht. Generalpause. Wieder hebt die Fläche an, doch die Fortführung unterliegt naturhaft wachsender Veränderung. Mehrere in sich beharrende Stadien schließen sich noch an, bevor der Satz mit Eintritt des Allegro moderato ebenso überraschend wie natürlich in Fluß gerät. Waldgeisthaft mystisch wirkt der Schluß, der sich in seiner Andersartigkeit unergründlich schlüssig zum Anfang verhält.

Die zweite Legende, 'Der Schwan von Tuonela', bezieht sich auf keine überlieferte Handlung. Die Streicher symbolisieren den Totenfluß, über dem der Schwan als Englischhorn sein großes, geheimnisvoll dunkles Klagelied singt. Der ostinate Rhythmus in der langen Schlußphase evoziert eine Wagner-verwandte Schwere und Bedeutungsfülle.

Die dritte Legende, 'Lemminkäinen in Tuonela', handelt von mystisch-grausigen Ereignissen. Lemminkäinen wird heimtückisch ermordet und in den Tuoni-Fluß geworfen, aus dem ihn seine Mutter, die zuhause Blut aus dem Kamm ihres Sohns fließen sieht und sich darauf auf die Suche nach seiner zerstückelten Leiche macht, herausfischt und mit Magie wieder zum Leben erweckt. Der ganze Satz ist eine Musterleistung kompositorischer Ökonomie und suggestiven Stimmungszaubers. Das tremolierte Anfangsthema, welches dem Totenfluß entsteigt, kehrt später unvermutet düster wie die Enthüllung eines Geheimnisses wieder und führt den zweiten, endgültigen Höhepunkt herbei. Motive werden aus anderen geboren, neue Motive entstehen als Kontrapunkt und gewinnen Selbständigkeit. Einige Stellen, insbesondere das obsessiv imitierende Viertonmotiv zum Ende der zweiten Steigerung hin (die in Analogie zum Anfang beginnt und bis ins Presto treibt), erinnern stark an Bruckner, der zu jener Zeit große Anziehungskraft auf Sibelius ausübte. An den wilden ersten Ausbruch schließt ein Molto lento-Abschnitt von nobler Kantabilität an, die am Rande der Unhörbarkeit einsetzt und das schwärmerische Element gegenüber dem Schrecken darstellt, der danach wiederkehrt.

In 'Lemminkäinen zieht heimwärts' kehrt der Held nach überstandenen Abenteuern nach Hause zurück. Die überschäumend frische Wirkung dieses Finales wird auch durch das plötzliche, organisch eingewobene Auftauchen neuer Themen hervorgerufen. Immer wieder zaubert Sibelius auf ganz natürliche, unprätentiöse Art aus dem Bestehenden neue Gestalten hervor, die sich aufs Selbstverständlichste in ihrer Umgebung bewegen. Sie können ebenso ein Nebengedanke bleiben wie zur Hauptsache hervorwachsen. Ihr Eintritt ist ein doppeltes Geheimnis: Weder läßt sich ihre natürliche Beziehung zum Vorhergehenden erklären, noch geben sie ihre Bedeutung für das Folgende unmittelbar preis.

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Konzerthaus Wien, 1998]