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Jean Sibelius

Gedanken zu Sibelius Sechster Symphonie
mit einem Ausblick auf die Siebente

"Las ich Kritiken von teuflischer Bosheit, so nahm ich diese als einen Beweis dafür, daß es in meiner Entwicklung ad astra ging."

Jean Sibelius

So oder anders?

Das zwanzigste Jahrhundert wird unter anderem als Zeitalter der materialsortierten Systeme und progressionsgläubigen Sperrgut-Ideologien in die Musikgeschichte eingehen - in den traditionellen mitteleuropäischen Musikzentren wenigstens, in denen oft schwerlich einleuchtet, daß Geschichte auch außerhalb ihrer Kampf- und Bruderschaftsplätze "gemacht" wurde und wird. Außer Sicht dann selbstredend die darauf folgenden eigendynamischen Vorgänge an der Peripherie der sich in behaglich streitbarer Selbstbezogenheit mit sich und ihrem Debattieren auseinandersetzenden Wiege der europäischen Musikkultur. Manchen Vertretern der "Ränder" gestattete man unumschränkt Zutritt aufs Plateau der Erstrangigen, vor allem aus dem Osten. Noch heute tun sich freilich viele selbstberufene Anleger von Generallinien öffentlicher Meinung schwer, einen Tschaikowskij wirklich ernst zu nehmen, ganz sehen zu wollen als das, was er ist. Und auch die schöpferischen Eierköpfe aus dem Umfeld des legendären St. Petersburger "Mächtigen Häufleins" werden mal mehr, mal weniger akzeptiert im umwundenen Vergleich mit den "ganz Großen". Mit Mussorgskij hat man da die geringsten Probleme, denn der war ja ganz und gar exotisch, zudem offensichtlich Autodidakt, hemmunslos und modern, von seinen wohlmeinenden Kollegen geschönt und geglättet, aber tatsächlich ein Alkoholiker am Abgrund - da blickt uns, wie bei Janácek, ein Existentialismus entgegen, der den preußisch dividierenden Akademismus schon deswegen anscheinend nicht gefährdet, weil er sich mit ihm praktisch nicht berührt. Das Andersartige, sei es aus Rußland, Sumatra oder von der Rückseite des Mondes, hat uns in seinem Anderssein schon immer fasziniert - und schließlich bestätigt es ja auch unser So-sein als solches? Gefährlich wird es für den, der unsere Traditionen aufsaugt wie wir, sich deren Techniken und Sprachmittel aneignet und nun in Wechselwirkung mit seiner natürlich anders gerichteten Mentalität, seinen Traditionen und geistigen Gemeingütern bringt. Wir tun uns verdammt schwer, englische Komponisten zu akzeptieren mit allem menschlichen Ballast, den sie unvermeidlich mitbringen und der doch ihre persönliche Farbe ausmacht, sei es die aristokratische Wehmut, die lost-empire-glory eines Elgar, das grüblerisch versponnene Navigieren mit pastoralen Nebellichtern bei Vaughan Williams, die phantastisch schillernde Naturmystifizierung des Arnold Bax. Wir werten anhand von anderem, vergleichen und verfehlen die Essenz. Wir erheben Ansprüche an den Gehalt, die Gestalt, ohne uns den Kern der schöpferischen Motivation zu vergegenwärtigen. Es bleibt uns fremd, weil wir zu sehr das Ähnliche herausfiltern und messen am Angestammten.

Ist das wirklich alles "nicht Fisch noch Fleisch"? Einmal aufgetane Kategorisierungsprobleme haben jedenfalls zudem großzügige Verfallsdaten... Solchen Mühlen vorgemahlener Urteilsbildung aufgrund hergebrachter Sichtung von So (wir) und Anders (die anderen) verdanken wir auch die maßlose kontinentale Unterschätzung der Werke des schwedisch-stämmigen Finnen Johann Julius Christian Sibelius, genannt "Janne", in die Geschichte eingegangen als Jean Sibelius, geboren am 8. Dezember 1865 im zentralfinnischen Hämeenlinna.

 

... Ich bin der Sklave meiner Themen...

Sibelius war kein Schwärmer, sondern ein wortkarger Realist, was die Kommentierung seiner eigenen Werke anging. Über das Kommende redete er fast gar nicht, und wenn doch, so in verschlüsselter, für den Gegenüber vager Weise. Work in progress? No comment. Umso erstaunlicher nahm sich ein Brief vom 20. Mai 1918 an seinen Freund Axel Carpelan aus, in dem auch die im Entstehen befindlichen zwei letzten Symphonien umrissen werden:

"Meine neuen Werke - zum Teil schon skizziert und im Plan fertig. Mit der fünften Symphonie in neuer Gestalt - so gut wie neu komponiert - bin ich heute beschäftigt. Erster Satz ganz neu, zweiter Satz an den alten erinnernd, dritter Satz an den Schluß des alten, ersten Satzes erinnernd, vierter Satz: die alten Motive, aber stärker in der Ausarbeitung. Das Ganze eine, wenn ich so sagen darf, vitale Steigerung gegen den Schluß hin. Triumphal.

Die sechste Symphonie ist ihrem Wesen nach wild und leidenschaftlich. Düster mit pastoralen Gegensätzen. Wahrscheinlich in vier Sätzen, zum Schluß hin sich in einem finsteren Orchesterbrausen steigernd, in dem das Hauptthema ertrinkt.

Die siebente Symphonie: Lebensfreude und Vitalität mit Appassionato-Einschüben. In drei Sätzen. Der letzte ein 'hellenistisches Rondo'.

Alles dies mit Vorbehalt gesagt. Du verstehst. Es sieht aus, als sollte ich mit allen diesen drei Symphonien auf einmal hervortreten. Wie immer: das Skulpturelle stärker hervortretend in meiner Musik. Deshalb dieses Aushämmern der ethischen Linie, das mich ganz in Anspruch nimmt und bei dem ich mich konzentrieren können und aushalten muß.

Was die sechste und siebente Symphonie angeht, ändern sich vielleicht noch die Pläne, was auf der Entwicklung der musikalischen Gedanken beruht. Wie immer bin ich der Sklave meiner Themen und unterwerfe mich ihren Forderungen. Aus allem ersehe ich, wie mein Innerstes sich seit den Zeiten der vierten Symphonie geändert hat. Und die Symphonien sind ja doch mehr Glaubensbekenntnisse von mir als meine anderen Werke."

Die Pläne änderten sich. Vorher und nachher (selbst die für vollendet erachtete fünfte Symphonie wurde nochmals umgeschrieben und erst 1919 abgeschlossen). Der Keim der sechsten Symphonie fiel bereits 1914 aus den Skizzen zur fünften Symphonie ab. Da notierte Sibelius im November ein es-Moll-Thema in dorischem Modus in sein Skizzenbuch. Dieses erwies sich als inkompatibel zu den Skizzen zur fünften Symphonie und er wurde gewahr, daß dieser Vorbote eines Themenfragments aus dem Finale seiner späteren Sechsten den Einstieg in die Welt eines weiteren Werks bedeutete. Das nun nach d-moll transponierte Thema eröffnete den Horizont der sechsten Symphonie, deren Grundstimmung er als "musikalische Poesie in der dorischen Tonart" charakterisierte. Zwischen die Arbeit an der Fünften schob Sibelius nun die Skizzierung von Themen für die Sechste ein, und im Dezember waren die wichtigen Themen aller vier Sätze bereitgestellt. Im Frühjahr 1915 hatte er sich entschlossen, aus dem skizzierten Material ein zweites Violinkonzert, ein "Concerto lirico" entstehen zu lassen. Zunächst aber wurde die erste Fassung der fünften Symphonie vollendet, deren triumphale Uraufführung zum fünfzigsten Geburtstag des Komponisten unter seiner Leitung in Helsinki eine dreifache außerplanmäßige Wiederholung des Konzertes nach sich zog.

Am 18. Juli 1917 vermerkt sein Tagebuch: "Ich habe die Symphonien Nr. 6 und 7 in meinem Kopf." Es folgte der vorab zitierte Brief, und Ende 1919 war Sibelius wieder in die sechste Symphonie vertieft, machte sich dann aber stattdessen an die Niederschrift der Kantate "Oma maa" (Heimatland). Danach allerdings kam er mit seinen symphonischen Projekten nicht mehr zurecht und geriet in eine schöpferische Krise, um erst im November 1922 wieder Zugang zu finden zu den seinen ursprünglichen Intentionen innewohnenden dynamischen Prozessen. So gelang es ihm, die sechste Symphonie endlich im Februar 1923 zu vollenden. Er widmete das Werk dem ersten Chefdirigenten der Orchestervereinigung Göteborg (heute Göteborgs Symfoniker), dem bedeutenden schwedischen Komponisten Wilhelm Stenhammar (1871-1927), der sich intensiv für Sibelius einsetzte und diesen auch mehrfach als Gastdirigenten einlud (Stenhammar war in seinen besten Werken - darunter der grandiosen g-moll-Symphonie - ein romantischer Klassizist aus objektivierender Distanz zur Nationalromantik, und grundsätzlich ein meisterlicher Eklektiker, der vielerlei Elemente in seinen Stil einschmolz, darunter auch Sibeliussche). Sibelius: "In Göteborg hat man sich mit am meisten für meine Musik interessiert." Die Widmung an Stenhammar wurde aus unerfindlichen Gründen später nicht in die bei Wilhelm Hansen gedruckte Partitur übernommen. Die Uraufführung fand am 19. Februar 1923 in Helsinki unter Sibelius statt. In den dreißiger Jahren schrieb Sibelius an Karl Ekman: "Der Vorbehalt in meinem Brief (an Carpelan) hinsichtlich der neuen Symphonien war sehr angebracht. Die fünfte Symphonie wurde in ihrer endgültigen Fassung erst im Herbst 1919 fertig, und es sollte noch viel Zeit vergehen, bis ihre beiden Nachfolger entstanden - dann auch gar nicht in der Gestalt, die ich mir damals vorgestellt hatte. Die letztliche Gestaltung eines Werkes hängt ja von Mächten ab, die stärker sind als man selbst. Hinterher kann man dies und jenes feststellen, im großen und ganzen aber ist man nur ein Werkzeug. Und diese wunderbare Logik - wir können sie getrost Gott nennen - die ein Kunstwerk beherrscht, ist ja doch das Entscheidende." In diesem Zusammenhang ist von Interesse, was Sibelius 1907 über seine Begegnung in Helsinki mit dem Gastdirigenten Gustav Mahler berichtete: "Der Kontakt zwischen uns wurde auf einigen Spaziergängen geschlossen, wo wir alle großen Fragen der Musik auf Leben und Tod diskutierten. Als unser Gespräch auf das Wesen der Symphonie kam, warf ich ein, daß ich deren Strenge und Stil und die tiefe Logik bewundere, die einen inneren Zusammenhang zwischen allen Motiven schaffe. Das entsprach den Erfahrungen, die ich in meinem Schaffen gemacht hatte. Mahler aber war einer ganz entgegengesetzten Meinung: 'Nein. Die Symphonie muß wie die Welt sein. Sie muß alles umfassen.'"

 

Von der irregulären Gesetzmäßigkeit

Die sechste Symphonie von Sibelius schreibt in der motivischen Verknüpfung der Sätze untereinander den Weg konsequent fort, den er in den Symphonien Nummer vier und fünf beschritten hatte. Allerdings ist sie von viel weniger eindeutig einforderndem Charakter als ihre Vorgänger: weder die dunkle, introvertierte Dämonie der Vierten noch die optimistisch glanzvolle, schließlich triumphale Eigenart der Fünften finden in der Sechsten eine adäquate Fortsetzung. Was Sibelius in einem frühen Stadium als "wild und leidenschaftlich" vorschwebte, wurde in der Vertiefung und Konzentration auf die themenimmanenten Kräfte zusehends verhalten, beherrscht - die "symphonische Geste" schwang mehr und mehr nur untergründig mit, um gelegentlich die Krallen der Macht durchscheinen zu lassen, oder - im Scherzo - sich erst zu größerer Kraftentfaltung zu entschließen, wenn die letzten Takte schon in Sicht sind. Indem die Trümpfe massiver orchestraler Wirkungen nur selten an- und eigentlich nie ausgespielt werden, ist es kein Wunder, daß die sechste Symphonie beim breiten Publikum seit jeher weniger Begeisterung auslöste als ihre heroischen Nachbarwerke. Aber indem Sibelius dabei oft in den formal extensivsten Momenten von den dynamischen Möglichkeiten des Orchesters bewußt nicht den naheliegenden Gebrauch macht, führt er dem sensiblen Hörer vor, wie die dem Tonsatz innewohnende Spannung so gar nichts mit der äußeren Intensität zu tun haben muß, mit der sie dargeboten wird. Dem auf klangliche Opulenz und forsche Direktheit der Wirkung eingestellten Hörer jedoch dürfte dann leicht entgehen, in welchem Stadium der Satzentwicklung er sich gerade befindet.

Sibelius' Themenbehandlung ist hier mehr als in seinen anderen Werken ins Unfassliche getrieben, und die routinierten Analytiker widersprechen sich aufs Ergötzlichste in ihren Einschätzungen des symphonischen Prozesses. Sibelius leitet auf immer wieder irreguläre und stets unkonventionelle Art eine thematische Zelle aus der anderen ab. Ein exponiertes Thema zerfällt, Einzelelemente daraus entfalten in eigendynamischen Prozessen ihre eigenen Kommentare, die partiell - oft mit einer intervallischen oder rhythmischen Variante oder Verwandlung - fortgesponnen werden, mit einem anderen Trieb einer gemeinsamen thematischen Zelle in wechselseitig anregende Beziehung treten, woraus wiederum etwas scheinbar Neues entsteht. Und plötzlich blinkt etwas auf, tritt hervor, bricht durch, das so gar nicht zu erwarten war, eine unverhofft beflügelte Stimmung wird entfacht - die auf ebenso unvorhersehbare Weise zergeht, einem Verharren Platz macht. In völlig unorthodoxer Weise bleibt Sibelius auf bestimmten Tönen, Akkorden stehen, als blicke ein Thema sich um, um sich neu zu orientieren, als fühle er, daß hier einem komplementären harmonischen Bedürfnis Genüge getan werden müsse, als habe hier einfach die Natur einem Klang seinen Platz zugewiesen in diesem Verlauf. So tauchen Erscheinungen unergründlich auf und verschwinden wieder, um irgendwie woanders plötzlich wiederum, ganz selbstverständlich oder absolut überraschend, nebensächlich oder zentral mächtig, uns entgegenzutreten. Ganz außergewöhnlich ist auch, wie Sibelius mit dem Wechsel von Bewegungsqualitäten operiert, damit Kontraste auf einer zusätzlichen Ebene schafft. In einen gleichförmig ruhigen Klangstrom fährt mit einem Mal kleingliedrige Bewegtheit hinein; ein klarer,

 

 

tiefer See mündet ohne Ankündigung in einen reißenden Bach, und plötzlich schießt das Wasser gar reißend hinab, und so fort; ein kontinuierlich treibendes Bewegungsmuster löst sich abrupt in gehaltene Harmonien auf, und unterschwellig setzt sich der neue Rhythmus durch, dessen Relation zum vorangehenden zunächst nicht mitvollziehbar war. Das alles hat mit Naturmusik im illustrierenden Sinne überhaupt nichts zu tun, sondern vielmehr mit der inneren Natur der involvierten Themen, mit deren Trieben und "sozialem Verhalten", die Sibelius vielleicht deswegen so ihrer Natur gemäß behandeln konnte, weil er sich bedingungslos in die äußere Natur versenken konnte, seine Affektwelt in völlige Übereinstimmung mit ihren Erscheinungsformen brachte. Erscheint uns Natur doch immer gesetzmäßig und irregulär zugleich, wie auch die symphonischen Gestalten des Jean Sibelius.

Wenn die Schatten länger werden

Zur Sechsten Symphonie

Die vier Sätze der sechsten Symphonie sind thematisch, harmonisch und stimmungsmäßig eng ineinander verkettet. Wo der "thematische Keim" liegt, läßt sich an der fertigen Symphonie nicht mehr erkennen - er könnte auch in der Coda des Finales verborgen sein, deren melodischer Leitgedanke nur scheinbar neu, in Wirklichkeit die Umkehrung eines vorherigen Gedankens ist.

Der erste Satz beginnt mit einem verklärt polyphonen Streichersatz, der die ganze verhangene Grundstimmung des Kommenden in sich trägt, jene Stimmung, die Sibelius mit dem Aphorismus "Wenn die Schatten länger werden..." kennzeichnete. Thematisch bleibt dieser Anfang ohne offensichliche Fortführung. Daß wir uns in einem Allegro-Satz befinden, teilt sich auch dann noch nicht mit, wenn Flöten und Oboen mit thematischem Material hinzutreten, dessen Weiterentwicklung klarer ist. So wirkt der unvermittelte Eintritt der schnellen Bewegung nach gehaltener, kollidierender Harmonie fast wie der Eintritt in ein neues Tempo, wäre da nicht die Identität des Grundpulses, die den zurückgehaltenen Beginn im nachhinein in den Allegro-Charakter integriert. Einmal angestoßen, treibt die neue Bewegung nur so dahin, als wäre nichts anderes gewesen. Sie verkehrt sich freilich im weiteren Verlauf ins mysteriös Spitze, dann ins aufschäumend Jauchzende, um über einige teils jähe Umwandlungen in einer knappen Rekapitulation der anfänglichen Inwendigkeit zu schließen. Der modale, das heißt von leittönig-affirmativer Unterstreichung der Grundtonart befreite, mehrdeutige Charakter ist am Ende wieder so unverstellt vorhanden wie in der erhabenen Streicher-Einleitung.

In mancherlei Hinsicht auf verwandten Kontrastprinzipien baut das Finale auf. Auch hier sind Anfang und Ende von der modalen Schlichtheit geprägt; und auch hier ist im choralhaften Wechselgesang von hoher und tiefer Lage von einem Allegro molto noch nichts zu spüren (es sei denn, der Dirigent neigte zu lächerlich wirkender Übereiltheit). Dem tritt der synkopische Rhythmus entgegen, der das energische Seitenthema vorbereitet, welches zunächst im Wechselspiel von Geigen und Bratschen steigert, um dann volle, feurige Gestalt anzunehmen - ein Vorgang, der sich zweimal abspielt und um so tiefer einprägt. Dieses Finale enthält eine richtige Durchführungssektion, wo Sibelius auch für Sekunden mit aller Macht die kontrapunktistische Pranke emporhält - es ist absolut treffsicher, und jegliche Fortspinnung dieser Dimension unterbleibt geflissentlich: "Der Irrtum unserer Tage lag lange im blinden Glauben an die Polyphonie. Es war, als ob die meisten sich einbildeten, das Ganze würde besser, indem man Uneinheitlichkeiten übereinander auftürmt. Polyphonie ist sicherlich eine Kraft, wenn gute Gründe für ihren Einsatz bestehen, aber für eine lange Zeit schien es fast, als grassierte da eine Krankheit unter den Komponisten." Nach dem Wiedereintritt wird das Hauptthema modifiziert und trägt ein beschleunigtes Tempo (Allegro assai), um am Schluß (Doppio più lento) in jenes scheinbar neue Choralthema zu münden, das in den Streichern eine emphatische Wendung erfährt. In dorischem cis-moll treten ein letztes Mal wie aus sagenhafter Ferne Flöten und Fagotte einer Schlußbildung entgegen, lenken aber dann ins heimatliche dorische d-moll ein. Der Schluß ist von sehnender Verharrung.

Der schwerste Satz der Symphonie ist der zweite, Allegretto moderato. Er wird fast immer in einem zu hastigen Tempo wiedergegeben, was die verhalten tänzerische Qualität zerstört und einen statisch stagnierenden Eindruck zur Folge hat. In einem gemesseneren Tempo und bei entsprechend duftig leichter Ausführung hingegen entfaltet dieser Satz einen ganz spezifischen Reiz des Vagierenden auf dem schmalen Grat zwischem Ätherischem und Morbidem. Der tastende, rhythmisch verschobene Beginn in Flöten und Fagotten gibt die Stimmung vor und deutet Eigenschaften an, die das in engmaschigem Wechsel wiegende Thema, das die Geigen einführen, umranken. Das Thema läuft in immerzu absackenden Aufwärtsfiguren aus. Das minimale Material trägt erstaunliches Kombinations- und Entwicklungspotential in sich, das jedoch einer strikten Enthaltung unterzogen ist. Dem Legato wird sodann eine neue Artikulationsqualität entgegengesetzt: Tenuto-Triolen am Anfang einer leichten Steigerung, die in den eigenwillig transparent figurierten Auftritt des wiegenden Themas von vorhin führt. Beiläufig wird das Staccato-Motiv der Bläser eingeführt, das gleich darauf wichtig wird: Tempo (nunmehr Poco con moto) und Bewegungsqualität wechseln schlagartig, mysteriös starre Flautato-Muster der Streicher steigen auf und nieder, bilden den repetitiv-beharrlichen Grund für die flüchtigen Einwürfe der Holzbläser. Immer dichter wird der Satz, thematische Vergrößerung tritt hinzu - das alles auf kleinstem Raum: die statische Fläche kippt, ein lakonisches Wiederaufscheinen von Elementen des ersten Satzteils beschließt den Spuk. In dieser flüchtigen Quasi-Valse steckt eine immense Befähigung des Weglassens jeglicher Füllsel und Dehnung. Manches erinnert an die genialische, populäre Valse triste. Es gibt ständig atmosphärische Berührungspunkte zwischen diesen nordischen Walzern von Sibelius (man höre nur seine Schauspielmusik zu Scaramouche). Irgendetwas vom echten Walzergeist hat er eingefangen in seiner Wiener Zeit (in der er auch Johann Strauß d. J. hörte) und transferiert in die wehmütig-nordische Empfindungssphäre. Die Walzer von Sibelius sind ja nicht ganz so zahlreich, aber darum nicht weniger eigenartig als die der vielfältigen Sträuße...

Der dritte Satz, eine Art nordisches Elfenspuk-Scherzo, ist das zugänglichste Glied der Symphonie, das aber auch äußerste Leichtigkeit und Behendigkeit in der Ausführung verlangt. Auf einen formbildenden thematischen Kontrast ist in knappem Umriß verzichtet; der sextuolisch punktierte Rhythmus dominiert, die triolische Thematik gleitet immer wieder in heranrollende Sechzehntel-Crescendowogen hinüber. Die Faust sitzt locker aber wohlkontrolliert in der Tasche, und nach einigen koboldhaft bedrohlichen Scheinattacken erhebt sie sich erst ganz zum Schluß mit geradezu elegantem Grimm - da ists auch schon vorbei.

Alles ist wie flüchtig mit traumwandlerischer Sicherheit hingeworfen, sozusagen mühelos gehaucht und schon gelungen in Sibelius' sechster Symphonie. Nirgends spürt man in diesem intimen, zartbesaiteten Werk das unendlich zähe, fast zehnjährige Ringen um die endgültige Form.

 

Finale symphonische Synthese

Zur 7. Symphonie

Die siebente Symphonie entstand parallel zur sechsten vor Sibelius' geistigem Auge. Sie war anfangs dreisätzig konzipiert ("Lebensfreude und Vitalität mit Appassionato-Einschüben. In drei Sätzen. Der letzte ein 'hellenistisches Rondo'." Sibelius 1918, siehe oben), doch hatte er schon 1914 ein leidenschaftliches Bekenntnis zur formalen Synthese abgelegt: "Ich muß die Konzeption des Symphonischen erweitern. Ich schmiede Pläne für eine 'Symphonische Phantasie'... Wie sehr mir diese Form am Herzen liegt!" Als die letztlich einsätzige siebente Symphonie am 24. März 1924 unter Leitung des Komponisten in Stockholm uraufgeführt wurde, war sie denn auch nicht mit einer Nummer versehen und trug den Titel "Fantasia sinfonica". Nach einiger Zeit zog Sibelius den Titel jedoch zurück und bezeichnete das Werk als seine Siebente Symphonie.

Die mehrsätzige Anlage ist hier wahrlich verschmolzen zu einem einzigen drastische Gegensätze umrahmenden Satz, in dem alle Themen in direkter oder indirekter Verwandtschaft zueinander stehen. Mithin: es gibt keine tragende thematische Bildung, die nicht die Ableitung einer anderen bildete. Alles wächst aus dem anfänglichen Adagio heraus, ja ursprünglich sprichwörtlich empor, in das es zum Schluß wieder zurückfindet (anbei eine unerhebliche Kuriosität: erinnert vorher manches an die fünfte Symphonie, so hat hier tatsächlich die Valse triste in unverstellter Form das vorletzte Wort). Aus dem weitgesponnen einleitenden Adagio entwickelt sich ein breitangelegtes allmähliches Accelerando, das bis ins stürmisch alternierende Vivacissimo führt. In dieses hinein drängt sich wieder die Adagio-Welt, die von einem Allegro molto moderato abgelöst wird, das sich bis zum Presto steigert. Diese Presto-Faktur muß sich wiederum dem allmächtigen Adagio-Charakter beugen, der die Symphonie grandios zu Ende geleitet. Im Zentrum der drei Adagio-Bezirke steht jeweils das monumentale Posaunenthema, machtvoll und ausladend kontrapunktiert vom übrigen Blech mit Unterstützung des restlichen Orchesters.

Schon im ersten Anfang sind zwei wesentliche motivische Elemente enthalten: die sekundweise ansteigenden, gleichförmigen Schritte und die verschleiernden, nachfärbenden Synkopen der Kontrabässe. Auch der schroffe Abriß der Linie findet später sein Pendant, und alles in der Folge ist von höchster Bedeutung für Späteres: das Dreiklangmotiv der Geigen, die Vorhaltsbildungen, die Melodieformen der Holzbläser und Streicher bis zum Beginn des daraus hervorgehenden choralartig hymnischen Streichersatzes (geboren aus der letzten Flötenphrase davor). Die Überleitungsfigur der ersten Geigen zum Posaunenthema, welches dem ersten Flötenthema zugehört, wird direkt im Anschluß an dieses weiter verwertet. Nie schafft Sibelius hier mit völlig neuen Mitteln, alles entsteht aus dem Bestehenden, ist einverleibt in den einen Organismus - ohne "Fremdkörper", durchwoben von diskursiven und rekursiven Bezügen. Und doch erscheint so das meiste neu, unerwartet, ist spannend bis zum Ende. Nie wird es tote Materiallese, abstraktes Strukturdenken - was beispielsweise an der psychologisch alle drei Male ganz anderen Wirkung des jedesmal im zentralen C-Dur auftretenden Posaunenthemas zu erleben ist. Dabei bleibt dieses sich im heroischen Zug, in der weiträumigen Anlage durchaus gleich, ist aber in wechselnder "Beleuchtung" niemals das Gleiche. Es schafft immer einen unwiderstehlichen Sog vor seinem Eintritt, der jeweils die ungestüm vorantreibenden Kräfte gerade da wieder bändigt, wo eine weitere Steigerung in dieser Richtung an die Grenzen der Ausführbarkeit stoßen würde. Was man als meisterlich disponiert bezeichnen möchte, hinterläßt freilich einen gänzlich natürlichen und bezwingenden Eindruck - es kann nur so sein und nicht anders. Auch wenn dieses So für viele ein Anders ist.

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Konzerthaus Wien, 1996/überarbeitete Fassung]