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Monumentale Paradoxie

Gustav Mahler (1860-1911) – Fünfte Symphonie (1901-03)

I Trauermarsch. In gemessenem Schritt. Streng. Wie ein Kondukt

II Stürmisch bewegt, mit größter Vehemenz

III Scherzo. Kräftig, nicht zu schnell

IV Adagietto. Sehr langsam

V Rondo-Finale. Allegro

Gustav Mahlers 1901-03 entstandene, später mehrfach instrumentatorischen Nachbesserungen unterzogene fünfte Symphonie ist nicht nur ein Werk des Umbruchs, sie ist ein "Gemisch von Strenge und Zusammenhangslosigkeit" (Romain Rolland), eine monumentale Paradoxie, Produkt ungebrochenen Zerspaltenseins. Sie gliedert sich in fünf Sätze zu drei Abteilungen. Hierbei sind die ersten zwei und die letzten zwei Sätze zu je einer Abteilung zusammengefaßt, das Scherzo steht für sich im Zentrum. Schon die Tonartenfolge der fünf Sätze verweist auf Diskontinuität: cis-moll – a-moll – D-Dur – F-Dur – D-Dur. Motivisch vielfältig verwoben sind erster und zweiter Satz. Diese zwei Sätze sind auch von wilderem Wuchs als die folgenden. Der Kopfsatz gliedert sich in vier umfangreiche Hauptteile mit Coda, wobei der dritte Teil eine stark veränderte Wiederaufnahme der Thematik des ersten Teils ist. Der erste Teil besteht vor allem aus zwei entgegengesetzten Charakteren, die wiederkehren: aus dem strikteren Marschduktus und elegischer Sanglichkeit, die sich in eine Schubert-Hommage verwandelt. Unvermittelt schlägt Verharrung in Exzeß um mit dem überraschenden Einbruch des zweiten Hauptteils: "Plötzlich schneller. Leidenschaftlich. Wild". Die Polyphonie drängt in der impulsiven Verschiedenheit der Linienführung an die Grenze des Faßbaren, eröffnet in Sekunden gigantische Perspektiven, die im nächsten Moment in sich zusammenfallen. Der vierte Hauptteil knüpft daran an, die Coda ist ins Fahle verkehrter Widerschein des Beginns. Der zweite Satz kombiniert neue mit

übernommener Substanz, ist sehr kaleidoskopisch gebaut und gipfelt in einem "Pesante"-Choral, der im Schlußsatz krönend wiederaufgenommen wird, hier aber ins dem Satzcharakter eingeschriebene Katastrophische umkippt. Mit höchster Kunst ist hier motivische Verzahnung angewandt, überall scheint Bekanntes auf, doch ständig in neuer Beleuchtung, in unerwartetem Zusammenhang: Der zweite Satz setzt die Zerfallstendenzen des ersten fort. Ganz anders das Scherzo, der umfangreichste Satz: Da herrscht ein Höchstmaß an architektonischer Kontrolle über eine weit auseinanderdriftende Vielfalt thematischer Gebilde und Verzweigungen. Als grober formaler Grundriß entsteht: Variierender Hauptteil – Erstes Trio – Wiederaufnahme des Hauptteils – Zweites Trio – Durchführung und (teilweise durchführende) Reprise – Coda (schnell). Das berühmte Streicher-Adagietto war Willem Mengelberg zufolge "Mahlers Liebeserklärung an Alma" und gerät mit sehnsüchtiger Vorhaltsmelodik in "Tristan"-Nähe. In drei weitumspannende Hauptabschnitte gliedert sich das Rondo-Finale: Das schmiegsame Rondothema alterniert mit sprühenden Fugati und einem sanglichen Seitenthema, das aus dem Adagietto abgeleitet ist. Alles mündet in die sieghafte Rückkehr des Chorals, der in eine Schlußstretta übergeht. Dieses Finale hat in seiner ungetrübten Daseinsfreude keine ersichtliche Beziehung zur düsteren Welt der ersten zwei Sätze dieser Symphonie.

Christoph Schlüren