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Gustav Mahler 10. Symphonie in Fis

Interpretations- und Fassungsvergleich

 

1. Satz Anfang Tt. 1-51

New York Philharmonic,
Dimitri Mitropoulos; live, 16.1.1960

New York Philharmonic Special Editions NYP 9811/12

Track 1, von Anfang (Dauer: 4’33), ausblenden!

Gustav Mahlers Zehnte Symphonie sollte in den weit ausgreifenden Außensätzen ein großer instrumentaler Schmerz- und Klagegesang werden, mehr denn je autobiographisch gefärbt, worauf die vielen Annotationen in der Partitur hinweisen, die auf verlorenem Posten die Liebe zu seiner Frau beschwören. Das Adagio, dessen Beginn in der legendären Live-Aufnahme der New Yorker Philharmoniker unter Dimitri Mitropoulos vom Januar 1960 erklang, ist der einzige vollendete Satz aus dieser Zehnten, die im Sommer 1910 in Toblach Gestalt anzunehmen begann. Nach der Skizzierung der ersten zwei Sätze erfuhr Mahler von dem Verhältnis seiner Gattin Alma mit dem Architekten Walter Gropius, was ihn in tiefste Verzweiflung stürzte und sein recht frühzeitiges Ableben vielleicht beschleunigt hat. In dieser aufgewühlten Zeit skizzierte er noch die restlichen drei Sätze und begann mit der Ausarbeitung in Partitur, die er nur im ersten Satz, dem Adagio, zum Abschluß brachte. Sehr lückenhaft ist seine Orchestrierung des zweiten Satzes (des ersten der beiden Scherzi also) und des mit 'Purgatorio' betitelten dritten Satzes. Der vierte und fünfte Satz liegen nur in zum Teil äußerst rudimentär ausgeführten, jedoch ununterbrochen fortlaufenden Skizzen vor. Bis zu seinem Tod am 18. Mai 1911 kam Mahler nicht mehr dazu, weiter an dem Werk zu arbeiten, und erst 1923 zeigte Alma das Vorhandene ihrem künftigen Schwiegersohn Ernst Krenek, dem aufstrebenden Komponisten, der damals einer der ganz Großen zu werden versprach. Auch Alexander von Zemlinsky und Alban Berg erhielten Einsicht, und man kam übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß sich nur das Adagio und der kurze dritte Satz, das 'Purgatorio', zu einer Vervollständigung und Veröffentlichung eigneten. Krenek zeichnete 1924 für die Veröffentlichung verantwortlich, doch hatten bei dieser ersten Druckausgabe auch Zemlinsky und Franz Schalk die Finger im Spiel. Jene Fassung, die nun weltweit gespielt wurde, war voller Fehler. Außerdem erschien im Zsolnay-Verlag ein Faksimiledruck des Autographs.

1943 fragte der amerikanische Mahler-Enthusiast Jack Diether bei Dmitrij Schostakowitsch in Leningrad an, ob dieser bereit wäre, das Mahlersche Manuskript zu vollenden. Doch Schostakowitsch sah sich, bei aller Begeisterung für Mahler und Kenntnis seiner Werke, außerstande, eine solche Arbeit auszuführen. Auch das 1949 von Diether initiierte Treffen zwischen Alma Mahler und Arnold Schönberg in Beverly Hills sollte seinen Zweck nicht erfüllen. Schönberg zog sich mit dem Manuskript für ungefähr eine Stunde zurück und erklärte dann, er könne es nicht machen. Wenn man bedenkt, welche stilistische Vergewaltigung sein Orchesterarrangement von Brahms’ g-moll-Klavierquartett ist, so dürfte man nur spärlich bedauern, daß er, der die ambitioniertesten seiner eigenen Werke nicht vollenden sollte, hiervor zurückschreckte. Zu jener Zeit beschäftigte sich bereits seit drei Jahren in Chicago der 1921 geborene Clinton A. Carpenter mit der Zehnten Symphonie, an deren Komplettierung er ab 1950 arbeiten sollte. 1953 begann in London der Trompeter Joseph Hugh Wheeler, angeregt von Jack Diether, mit der Ausarbeitung von Mahlers Skizzen in Partitur. Außerdem war in Deutschland Hans Wollschläger dabei, seine Fassung der Zehnten zu erstellen. Wheelers erste komplette Version war 1959 abgeschlossen. Ohne von all diesen Versuchen zu wissen, begann im selben Jahr der englische Musikwissenschaftler Deryck Cooke, im Rahmen eines BBC-Programms anläßlich von Mahlers hundertstem Geburtstag eine Aufführungsfassung einzurichten. Cookes wichtigster Berater war der Komponist Berthold Goldschmidt, der die noch sehr lückenhafte Vervollständigung, in der Teile der beiden Scherzi fehlten, am 19. Dezember 1960 als Dirigent zur Uraufführung brachte. Beeinflußt von Bruno Walter, verbot Alma Mahler daraufhin jede weitere Aufführung, was sie jedoch drei Jahre später widerrief, nachdem sie erstmals das BBC-Tonband mit Cookes Einführung und dem Mitschnitt des symphonischen Torsos gehört hatte. Alma starb 1964, und kurz darauf entdeckte ihre Tochter Anna ungefähr vierzig weitere Manuskriptseiten der Zehnten, die Cooke zur Verfügung gestellt bekam, der seinerseits Kopien an Wheeler und Carpenter, von deren Arbeit er mittlerweile Kenntnis erhalten hatte, weiterschickte. Am 13. August 1964 erklang unter Berthold Goldschmidt bei den Londoner Proms erstmals die "komplettierte Zehnte Symphonie" Gustav Mahlers. Es handelte sich um die erste Version von Deryck Cooke, die schon zwei Jahre später vom Philadelphia Orchestra unter Eugene Ormandy für die CBS auf Platte eingespielt wurde. 1965 kam in New York Joe Wheelers dritte Version zur Uraufführung. Während Hans Wollschläger 1962 die Arbeit an der Zehnten aufgegeben hatte – er hält ein solches Unternehmen heute für "Größenwahn" –, erstellte Wheeler noch eine vierte Version, die 1966 in New York unter dem rumänischen Dirigenten und Komponisten Ionel Perlea erstmals gegeben wurde. Auch Cooke revidierte weiter. Seine zweite Version, die heute im Druck vorliegt und fast überall als die "Zehnte Mahler" gilt, wurde 1972 in London unter Wyn Morris aufgeführt und für die Platte eingespielt. Die 1966 fertiggestellte sechste Version der Fassung von Clinton A. Carpenter endlich wurde 1983 der Öffentlichkeit präsentiert. Zur selben Zeit begann der 1957 geborene Italo-Amerikaner Remo Mazzetti jr., vertraut mit den Fassungen Carpenters, Cookes und Wheelers, mit der Arbeit an seiner ersten eigenen Fassung, die 1994 unter Leonard Slatkin in St. Louis auf CD eingespielt wurde. Jüngst wurden die gemäßigtere zweite Fassung Mazzettis, bereits auf CD erschienen mit dem Cincinnati Symphony Orchestra unter López-Cobos, sowie die weit eigenständigere Bearbeitung des russischen Dirigenten Rudolf Barschai, beide uraufgeführt 2000, vollendet.

Die zweite Version Deryck Cookes, die in Zusammenarbeit mit Berthold Goldschmidt und den Komponistenbrüdern Colin und David Matthews zustande kam, hat sich heute auf den Konzertpodien als Aufführungsfassung der Zehnten Mahler durchgesetzt, nicht zuletzt dank des Einsatzes renommierter Dirigenten wie Simon Rattle oder James Levine. Nach Morris dirigierten sie auch Levine, Rattle bereits zweimal, Chailly, Inbal und, in einer mit markanten Eingriffen versehenen Version, Kurt Sanderling für die Schallplatte. Dabei sind sich sämtliche Bearbeiter, mit Ausnahme Carpenters, immer darin einig gewesen, daß keine Fassung definitiven Rang beanspruchen und von authentischem Mahler ohnehin keine Rede sein kann. Jedenfalls sind mittlerweile die Vervollständigungsversuche von vier Bearbeitern in teils unterschiedlichen Versionen in Aufnahmen erhältlich: diejenigen von Cooke, Wheeler, Carpenter und Mazzetti, und in Kürze wird noch die Bearbeitung Rudolf Barschais hinzukommen – ein verwirrend vielfältiges Panorama.

Im Zentrum der fünfsätzigen Symphonie steht ein kurzes Intermezzo mit dem Titel 'Purgatorio', umgeben von zwei Scherzi, die wiederum von den zwei umfangreichsten Sätzen – dem einleitenden Adagio und dem ambitioniert konzipierten Finale, einem von einem Allegro moderato durchbrochenen weiteren langsamen Satz – umrahmt sind. Die Symphonie ist insofern, vom Mittelsatz aus gesehen, gewissermaßen spiegelförmig angelegt. Das 'Purgatorio' dauert ungefähr vier Minuten, und der Titel mag angesichts der Musik doch etwas rätselhaft anmuten. Nach dem kontrastierenden Mittelteil hat Mahler hier einfach ein 'da capo' vorgeschrieben und so seinen Bearbeitern eigentlich keine andere Wahl gelassen, als den ersten Teil noch einmal zu zitieren, woran sich Cooke und Wheeler denn auch hielten. Wir hören jetzt einmal das komplette 'Purgatorio' in Cookes erster Version mit dem Philadelphia Orchestra unter der schwungvollen Leitung Eugene Ormandys.

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3. Satz komplett

Philadelphia Orchestra, Eugene Ormandy; 1966

CBS LP 61447

Track 3 (Dauer: 4'01)

Wie haarsträubend die Fehler in der ersten Druckausgabe des 'Purgatorio' waren, darüber gibt der musikalisch vorzügliche Live-Mitschnitt der New Yorker Philharmoniker unter Mitropoulos vom 16. März 1958 Auskunft, wo zweimal der Schlußton der Melodie statt des schwebenden c der Grundton b ist. Hören Sie jetzt also zuerst einen kurzen Ausschnitt aus der neuen Berliner Aufnahme Simon Rattles, wo der richtige Schlußton c erklingt.

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Ausschnitt aus 3. Satz: Tt. 16-34

Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; 1999

EMI CD 556972 2

Track 3, ab ca. 0'21 (Dauer: 0'29), ein- und ausblenden!

Und nun, unter Mitropoulos, die falschen Noten der Erstausgabe.

4

Ausschnitt aus 3. Satz: Tt. 16-34

New York Philharmonic, Dimitri Mitropoulos; live, 16. 3. 1958

New York Philharmonic Special Editions NYP 9811/12

Track 2, ab ca. 0’24 (Dauer: 0'25), ein- und ausblenden!

Unter den Bearbeitern war der 1921 geborene Amerikaner Clinton A. Carpenter derjenige, der sich nicht an Mahlers 'da capo'-Vorschrift hielt. Das ist kein Wunder, war doch Carpenter auch ansonsten derjenige, der bei seiner Einrichtung überhaupt sehr freizügig verfuhr, ohne philologische Bedenken und mit der Zielsetzung, so weiterzukomponieren, wie es nach seiner Vorstellung Mahler selbst getan haben dürfte. Da Mahler in seinen Symphonien exakte Wiederholung vermied, entschied sich Carpenter für eine freie Variante des Anfangsteils. Zu hören ist nun der veränderte Schlußteil mit der Philharmonia Hungarica aus Marl unter Harold Farberman. Man kann zwar den "Mut" des Bearbeiters preisen, doch ist eine erhebliche Willkür der hohe Preis seiner freien Ausgestaltung.

5

Ausschnitt aus 3. Satz: T. 109-Schluß

Philharmonia Hungarica, Harold Farberman; 1995

Deutsche Schallplatten CD DS 1044-2

Track 3, ab ca. 2'36 (Dauer: 1'42), einblenden!

Der zweite Satz, das erste der beiden Scherzi, ist von Mahler nur provisorisch und zum Ende hin wirklich fragmentarisch instrumentiert. In der gedruckten Ausgabe der zweiten Version Deryck Cookes kann man genau verfolgen, was von Mahlers Hand stammt und wo es sich um Ergänzungen handelt. Es steht außer Zweifel, daß Mahler noch viel verändert hätte in diesem Satz, der auch in vorliegendem Rohzustand zu seinen eigentümlichsten Scherzi zählt. Formal kontrastiert ein A-Teil, der mit ständigen, fortwährende Erregung erzeugenden Taktwechseln arbeitet, mit einem gemütlicheren, Ländler-artigen B-Teil, der weitgehend im 3/4-Takt gehalten ist. Die gegensätzlichen Abschnitte sind bei der Wiederholung stark gekürzt, der Satz mündet in einen Schlußteil, in dem Elemente beider Teile zusammentreten. Nie zuvor hat Mahler so obsessiv mit wechselnder Metrik gespielt. Die Folge ist eine außergewöhnliche Konzentration auf das Rhythmische. Für die Musiker ist es keine leichte Aufgabe, hier zugleich mit Spannung und Eleganz zu agieren, was auf sehr entspannte Art James Levine in der 1981 bei RCA veröffentlichten und längst gestrichenen Aufnahme mit dem Philadelphia Orchestra geglückt ist. Gespielt wird – natürlich – die Cookesche Fassung. Wir hören den Beginn des ersten Abschnitts.

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Ausschnitt aus 2. Satz: Anfang-T. 77

Philadelphia Orchestra, James Levine; rel. 1981

RCA LP RL 03726

Track 2, von Anfang (Dauer: 1'34), ausblenden!

So interessant es klingt, läßt sich doch der Eindruck nicht wegwischen, daß der Klang nicht Mahlers Spätstil repräsentiert: zu glatt und konventionell, zu zufällig in der Dramaturgie und zugleich zu wenig vielfältig. Das wußte auch Clinton Carpenter, der, nach einer Klarinetten-Imitation zu Anfang, nach 23 Takten einen Kontrapunkt der Holzbläser einführt, kurz darauf eine neue Trompetenstimme, und dort, wo sich das Geschehen etwas beruhigt und er die Vorschrift ‚Etwas mäßigend‘ einfügt, die Motivik der Pauke übergibt, Imitationen der Holzbläser dazusetzt und das Glockenspiel zu Hilfe nimmt. Das klingt tatsächlich aufregender, rauher und sogar authentischer, wenngleich diese Authentizität eine hypothetische ist.

7

Ausschnitt aus 2. Satz: Anfang-T. 76

Philharmonia Hungarica, Harold Farberman; 1995

Deutsche Schallplatten CD DS 1044-2

Track 2, von Anfang (Dauer: 1'39), ausblenden!

Bis hin zum Trio ist die Faktur in Carpenters Fassung geradezu überbordend. Er belebt den einigermaßen schmucklosen Satz mit großem Reichtum an Trillern, allerlei Ornamentik und kontrapunktischer Elaboration.

Remo Mazzetti jr. kannte die Fassungen seiner Vorgänger genauestens, als er mit der Niederschrift seiner ersten Version begann, der es einerseits an der relativen Ursprünglichkeit der früheren Versuche mangelt, die andererseits eine Art 'best of' sein möchte und dies vom rein handwerklichen Standpunkt aus vielleicht auch ist. Unter den Vorgängern lehnt sich Mazzetti am stärksten an Cooke an, jedoch wesentlich unbekümmerter, was die Ausdeutung und Erweiterung der Mahlerschen Überlieferung betrifft. Wie raffiniert und effektvoll seine Orchestration ist, kann man hier gut hören, zumal in der souveränen Darbietung des Saint Louis Symphony Orchestra unter Leonard Slatkin, die auch tontechnisch exzellent dokumentiert ist.

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Ausschnitt aus 2. Satz: Anfang-T. 60

Saint Louis Symphony Orchestra, Leonard Slatkin; 1994

RCA CD 09026 68190 2

Track 2, von Anfang (Dauer: 1'09), ausblenden!

Da sich Joe Wheeler wie Cooke sehr viel enger an den Notentext Gustav Mahlers hält, sind die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen zu Beginn recht gering. Hören wir zunächst die Cooke-Fassung, welche als Referenz für die anderen drei Fassungen – nicht zuletzt wegen der philologischen Exaktheit und des recht hohen interpretatorischen Niveaus einiger Aufnahmen – dienen soll. Riccardo Chaillys kräftig zupackende Einspielung mit dem Radio-Symphonieorchester Berlin leidet vor allem unter der Redundanz, mit welcher Forte meist zu Fortissimo und, oft genug, Mezzopiano zu Forte hochgetrieben wird. Trotzdem ist ein aufnahmetechnisch klar konturiertes Resultat herausgekommen.

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Ausschnitt aus 2. Satz: Tt. 320-361

RSO Berlin, Riccardo Chailly; 1986

Decca 466955-2

Track 2, ab ca. 6'50 (Dauer: 0'52), ein- und ausblenden!

Bei Joe Wheeler ist die Faktur zunächst karger, dann belebter als bei Cooke. Das ziemlich amateurhafte Spiel des Colorado MahlerFest Orchestra unter dem kompetenten Mahlerianer Robert Olson ist zwar von viel Einfühlung getragen, doch gibt es – wahrscheinlich außerdem raumakustisch oder auch aufnahmetechnisch bedingt – erhebliche Balanceprobleme: Die Blechbläser dominieren oft über Gebühr, das Schlagzeug kommt zu massiv. Aber nicht nur das ist es, was Wheelers Ton schroffer und etwas urtümlicher erscheinen läßt. Der trinkfeudige Joe Wheeler, der als Musiker wie als Tänzer bewundert wurde, muß eine außergewöhnliche, brillante Persönlichkeit gewesen sein, und als er 1977 mit nur fünfzig Jahren gestorben war, berichtete sein Bruder: "Zu seinem Begräbnis war die eine Seite der Kirche mit seinen Musikerfreunden gefüllt, die andere mit einem stattlichen Aufgebot schöner junger Frauen."

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Ausschnitt aus 2. Satz: Tt. 320-361

Colorado MahlerFest Orchestra, Robert Olson; live, Januar 1997

MahlerFest CD MF -10

Track 2, ab ca. 6'47 (Dauer: 1'01), ein- und ausblenden!

Viele weitere sinnfällige Divergenzen zwischen den einzelnen Fassungen ließen sich anführen. Doch folgen wir noch einmal der abenteuerlichsten Unternehmung, der von Clinton Carpenter erstellten Fassung vom ersten Trio an. Es ist dies sozusagen ein intuitiver Versuch, den Klang, der Mahler vorgeschwebt haben könnte, einzufangen. Schwer zu ertragen ist dabei, daß Carpenters Freisinnigkeit mit oft sehr bescheidenen kompositionstechnischen und geschmacklich fragwürdigen Mitteln umgesetzt ist und so den Geschmack eines Pseudo-Mahler-Brainstorm hinterläßt.

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Ausschnitt aus 2. Satz: T. 165-Schluß

Philharmonia Hungarica, Harold Farberman; 1995

Deutsche Schallplatten CD DS 1044-2

Track 2, ab ca. 3'34 (Dauer: 6'10), einblenden!

Die trotz zahlreicher kleiner Unstimmigkeiten wohl fulminanteste, couragierteste und immer wieder exaltierteste Darstellung beider Scherzi, die auf Tonträger dokumentiert ist, verdanken wir dem französischen Dirigenten Jean Martinon mit dem Chicago Symphony Orchestra, zusammengeschnitten aus zwei Live-Konzerten im Mai 1966 in Chicago und veröffentlicht in einer Jubiläumskassette des Orchesters. Wie bei Ormandy handelt es sich hier um die Erstfassung Deryck Cookes, aus der wir den Schluß des 2. Satzes hören.

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Ausschnitt aus 2. Satz: Schluß

Chicago Symphony Orchestra, Jean Martinon; live, Mai 1966

Chicago Symphony Orchestra Editions

Track 3, ab 8'34-Schluß (= 9'59) (Dauer: 1'24), einblenden!

Das zweite Scherzo steht nach dem zentralen 'Purgatorio' an vierter Stelle und geht attacca ins Finale über. Wie Letzteres existiert es von Mahlers Hand nur als Skizze mit gelegentlichen Angaben zur Instrumentation. Es entspricht dem dämonischen Typus Mahlerscher Musik, und es überrascht nicht unbedingt, daß dem Satz im Manuskript das Motto "Der Teufel tanzt es mit mir" vorangeht, gefolgt von den Worten: "Wahnsinn, faß mich an, Verfluchten! / vernichte mich / daß ich vergesse, daß ich bin! daß ich aufhöre, zu sein / daß ich ver.". Das letzte Wort ist nicht ausgeschrieben. Die Form dieses Stücks ist delirienhaft. Unablässig wechseln bedrohliche Scherzo- und walzerartige Trio-Thematik miteinander ab, verdrehen dem Hörer die Sinne, indem sie ihn wechselseitig erschaudern und bezirzen. Simon Rattle hat schon in seiner 1980 entstandenen ersten Aufnahme der Zehnten den dämonischen Charakter herauszulocken verstanden. In der neuen Einspielung mit den Berliner Philharmonikern geht er noch subtilere Wege, die aber auch einige Male, beispielsweise im zweiten Satz und im Finale, den Gefahren eines überspannten Manierismus näher sind. Fast jedes Detail ist hier eingehend beleuchtet, dynamisch ins rechte Licht gestellt und charakteristisch erfaßt. Das ist natürlich auch das Ergebnis von Rattles Erfahrung mit Cookes Fassung der Zehnten, die er mehr als sechzig Mal im Konzertsaal gegeben hat.

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Ausschnitt aus 4. Satz: Anfang-T. 137

Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; 1999

EMI CD 556972 2

Track 4, von Anfang (Dauer: 3'37), ausblenden!

Deryck Cookes Fassung blieb von Seiten der Dirigenten keineswegs unangetastet. Vor allem Kurt Sanderling tat sich hervor, indem er als Schostakowitsch-erprobter Maestro Cooke russifizierend aufpäppelte, was man gleich zu Satzbeginn mit dem Gebrauch der Ratsche hören kann, aber auch mit grellen Retuschen in Glockenspiel oder Trompete, oder, am Ende unseres Ausschnitts, mit zwei Floskeln in der hinzugefügten Sologeige. Sanderling gelingt insgesamt eine sehr stringente, spannungsvoll ausmusizierte und im Rhythmischen bei aller Straffheit auch elastische Aufführung, die allerdings durch die problematische Intonation des Berliner Sinfonie-Orchesters einige Einbußen erleidet.

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Ausschnitt aus 4. Satz: Anfang-T. 122

Berliner Sinfonie-Orchester, Kurt Sanderling; 1979

Berlin Classics CD 94422 BC (Vertrieb: edel)

Track 4, von Anfang (Dauer: 1'25), ausblenden!

Eugene Ormandy hat 1966 in Philadelphia die erste Version der Cooke-Fassung eingespielt, deren Instrumentation sich teilweise, vor allem in der Wahl der Hauptmelodieträger, deutlich von der zweiten Version unterscheidet. Ob mancher besondere Effekt wie der Beckenschlag im sechsten Takt oder einige Glockenspiel-Verstärkungen Zutaten Ormandys sind, ist zu bezweifeln, finden wir sie doch auch in Martinons Live-Aufnahme aus dem gleichen Jahr wieder. Daraus ist abzuleiten, daß es sich um Bestandteile der ersten Fassung Cookes handelt, die er später vielleicht aus Furcht vor einer zu äußerlichen Wirkung wieder zurückgezogen hat. Klanglich kompakter und wärmer als etwa Rattle, fesselt Ormandy mit Elan und Eleganz.

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Ausschnitt aus 4. Satz: Anfang-T. 137

Philadelphia Orchestra, Eugene Ormandy; 1966

CBS LP 61447

Track 4, von Anfang (Dauer: 2'25), ausblenden!

Erstaunliche Parallelen zu Cookes Instrumentation weist diejenige Joe Wheelers auf, ist dabei aber schlichter und herber, dem späten Mahler angemessener, und mit originellen Ergänzungsstimmen versehen. Daß Wheeler der Trompete weit mehr den Vorzug gibt als Cooke, mag nebenbei mit daran liegen, daß Wheeler selbst Trompeter war. Carpenter hat auch hier das mondänere Klangideal, wuchert mit Nebenstimmen und zeigt besonders dort Schwächen in der kontrapunktischen Plausibilität, wo der Originalsatz Mahlers sehr dünn ist. Mazzetti schließlich erweist sich erwartungsgemäß als der brillante, blendende Orchestrator, was, wie in folgendem Ausschnitt aus seiner ersten Fassung unter Slatkin zu hören, im ständigen Changieren zwar viel Wirkung hermacht, das Charakteristische aber eher abschwächt.

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Ausschnitt aus 4. Satz: Tt. 380-411

Saint Louis Symphony Orchestra, Leonard Slatkin; 1994

RCA CD 09026 68190 2

Track 4, 7'11-8'38 (Dauer: 1'26), ein- und ausblenden!

In seiner zweiten Fassung hat Mazzetti das Ausmaß der Effekte gegenüber der ersten Fassung weit zurückgeschraubt. Gleichwohl ist das sanguinische Temperament des Bearbeiters, der es liebt, die Trickkiste des großen Orchesters in kaleidoskopischer Weise auszunutzen, unüberhörbar.

Das Finale ist zugleich der ambitionierteste und der unfertigste Satz von Mahlers Zehnter Symphonie. Es ist absolut sicher, daß Mahler hier nicht nur die vorhandene lineare Struktur vervollständigt, sondern sich im Vollendungsprozeß zu mancher Veränderung entschlossen hätte. Die Form ist in großen Zügen dreiteilig. Der breiten, düsteren Introduktion folgt ein zentrales, sehr wechselhaftes Allegro moderato (welches meist zu schnell genommen wird), das via massiver Verbreiterung in die Rückkehr des Kopfsatzes mündet, die als Höhepunkt und zugleich als Verbindung zum breit dahinströmenden, weihevollen Abgesang fungiert. Der ganze Schlußabschnitt wirkt als Coda der gesamten Symphonie. Meines Erachtens ist die Verknüpfung des schnellen Mittelteils mit der Wiederkehr der Elemente des ersten Satzes in dieser Form nicht bezwingend realisiert, woran auch die verschiedenen Bearbeitungen nichts zu ändern vermögen. Dagegen können sie, je nach Geschick und Einfühlungsvermögen, plausibel über jene Passagen im Schlußteil hinwegtragen, wo Mahler nur eine einzige Stimme notiert oder diese lediglich mit ein paar einfachen Harmonien versehen hat.

Der vierte Satz geht in den Fünften über, indem das auskomponierte rhythmische Verebben vom Forte-Schlag der vollständig gedämpften Trommel abgefangen wird. Dieser Schlag ist zugleich der Impuls für den Finalbeginn. Zu einem besonderen Kunststück überredeten hier die Matthews-Brüder Deryck Cooke, indem sie ihn überzeugten, die bis dahin im vierten Satz schweigende Tuba zum Satzende mit einer absteigenden Phrase eintreten zu lassen, auf die nun zu Beginn des Finales deren aufsteigendes Motiv antwortet. David Matthews verglich dieses Vorgehen mit der Situation im Theater, wenn eine neue Figur auftritt. Hören Sie also, mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern, den Übergang vom zweiten Scherzo zum Finale, wobei Sir Simon die zwei Trommelschläge, die bei Mahler das Ende des einen und den Beginn des anderen Satzes markieren, zu einem einzigen zusammenzieht. Der Anfang des Finales ist gespeist von Motivik aus dem 'Purgatorio'-Satz, die im schnellen Mittelteil verarbeitet wird. Die beiden weit ausschwingenden Kantilenen, die sodann von der Flöte bzw. von den Geigen vorgestellt werden, werden später den dritten Teil des Finales prägen.

 

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Übergang vom 4. zum 5. Satz: Tt. 521-578 und 1-54

Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; 1999

EMI 556972 2

Track 4, 10'22-12'06, und Track 5, 0'00-4'38 (Dauer: 6'23), ein- und ausblenden!

Als Deryck Cooke zum erstenmal im Konzertsaal das Flötenthema des Finales hörte, wußte er endgültig, daß seine Arbeit an Mahlers Zehnter nicht vergeblich war. Bei den von Mahler nicht bezeichneten Tempi herrscht unter den Bearbeitern viel Uneinigkeit. Während Cooke für den Finalbeginn 'Langsam, schwer' vorschreibt, sieht Wheeler hier ein 'Allegretto' und übergibt die aufsteigende Motivik den Kontrabässen.

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Ausschnitt aus 5. Satz: Anfang-T. 27

Colorado MahlerFest Orchestra, Robert Olson; live, Januar 1997

MahlerFest CD MF-10

Track 5, von Anfang (Dauer: 1'13), ausblenden!

Clinton Carpenter wiederum hat eine ganz andere, sich von allem abhebende Idee über diesen Satzbeginn. Alma zufolge wurde Mahler, am offenen Fenster stehend, vom Schlag auf die verdeckte Trommel bei einer Begräbniszeremonie zu diesem Übergang inspiriert. Man könnte weiter ausführen: Der Tanz mit dem Teufel endet mit dem Tod, die Schwelle ins Jenseits wird überschritten, wo das Purgatorium wartet, welches zu Selbsterkenntnis führt (deshalb der Wiedereintritt des Anfangs der Symphonie) und zur Verklärung transzendiert. Aus Mahlers Erlebnis einer Begräbniszeremonie schließt Carpenter, daß Forte hier fehl am Platz sei, und schreibt für die Trommel durchweg piano vor. Im Folgenden erzielt er mit der abwärtssteigenden Motivik und fahlem Tremolo sowie einem zackig punktierten Rhythmus aus der 5. Symphonie im Hintergrund eine gespenstische Wirkung.

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Ausschnitt aus 5. Satz Anfang-T. 27

Philharmonia Hungarica, Harold Farberman; 1995

Deutsche Schallplatten CD DS 1044-2

Track 5, von Anfang (Dauer: 1'40), ausblenden!

Im Allegro moderato kann noch einmal Mazzetti sein ganzes instrumentatorisches Können beweisen. Er ist in der Erstfassung um keine Wirkung verlegen, orchestriert virtuos und kurzweilig, doch wird so die Kontinuität des Ausdrucks unterminiert, von einer Dramaturgie der Farben kann auf die weite Strecke kaum die Rede sein.

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Ausschnitt aus 5. Satz: Tt. 84-205

Saint Louis Symphony Orchestra, Leonard Slatkin; 1994

RCA CD 09026 68190 2

Track 5, 7'20-10'14 (Dauer: 2'44), ein- und ausblenden!

In seiner zweiten Fassung hat sich Mazzetti, wie bereits bemerkt, dann unter dem Einfluß Wheelers für seine Verhältnisse sehr mit Effekten zurückgehalten, doch bleibt das Ganze nach wie vor zu sehr ein vordergründiges Flickenwerk voll brillanter, schöner und bemerkenswerter Stellen, wobei die "Hollywoodisierung" nicht zuletzt auch dem recht trägen Dirigat von López-Cobos anzulasten ist.

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Ausschnitt aus 5. Satz: Tt. 84-205

Cincinnati Symphony Orchestra, Jesus López-Cobos; 2000

Telarc CD 80565 (Vertrieb: in-akustik)

Track 5, 7'09-9'50 (Dauer: 2'42), ein- und ausblenden!

Der friedvoll-wehmütige Schlußteil nach der vehementen Wiederkehr der abgründigen Welt des Kopfsatzes kann sehr breit genommen werden. Ob allerdings die extreme Langsamkeit, die James Levine in Philadelphia auskostete, auf die große Strecke spannend bleiben kann, ist bei aller unbestreitbaren Schönheit des Streicherklangs nachhaltig zu bezweifeln. Es folgt ein kurzer Ausschnitt einer Passage, wo Mahler nur die Hauptstimme aufgeschrieben hat und dem Bearbeiter – in diesem Fall Cooke – das gesamte Rankenwerk überlassen ist. Cooke begnügt sich mit vorsichtigen Ausschmückungen und riskiert keinen Moment selbstherrlichen Kontrapunktierens.

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Ausschnitt aus 5. Satz: Tt. 335-345

Philadelphia Orchestra, James Levine; rel. 1981

RCA LP RL 03726

CD 2, Track 2, ab ca. 20'08 (Dauer: 1'20), ein- und ausblenden!

Ganz anders als bei Cooke klingt diese Passage bei Clinton Carpenter, wozu das lausige Spiel der Philharmonia Hungarica seinen verunstaltenden Teil beiträgt. Angesichts des scheiternden Versuchs, Mahlers Melodie einen adäquaten Kontrapunkt entgegenzusetzen, sollte man die Einwände von Cookes Mitarbeiter David Matthews wegen Carpenters mangelnder Professionalität nicht als Rivalitätsgeste abtun. Denn je dünner und unspektakulärer das Gewebe ist, desto unbeholfener und klischeeorientierter agiert Carpenter.

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Ausschnitt aus 5. Satz: Tt. 335-346

Philharmonia Hungarica, Harold Farberman; 1995

Deutsche Schallplatten CD DS 1044-2

Track 5, 14'05-14'49 (Dauer: 0'44), ein- und ausblenden!

Wie kein anderer hat es Joe Wheeler vermocht, die Todesnähe des späten Mahler in seiner Bearbeitung der Zehnten Symphonie zu beschwören. Er setzt zumal im Schlußteil des Finales konsequent auf den innigen Affekt der Streicher, womit er durchaus einen Gegensatz zur bis zu den Schlußtakten immer wieder durchbrochenen Instrumentation bei Cooke und Mazzetti bildet, von Carpenters Überfrachtungen ganz zu schweigen.

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Ausschnitt aus 5. Satz

Colorado MahlerFest Orchestra, Robert Olson

MahlerFest CD MF-10

Track 5, 16'25-19'02 (Dauer: 2'37), einblenden!

Ausgerechnet Remo Mazzetti, der so ehrgeizig und selbstbewußt angetreten war und von den Fehlern seiner Vorläufer lernen wollte und auch lernte, erkannte Jahre später mit einem Mal, daß Joe Wheeler dem Geist der Mahlerschen Musik viel näher gekommen war als seine Konkurrenten. Ein Plädoyer für die Wheelersche Fassung war die Folge, in welchem Mazzetti bekannte: "Wheeler stellte sich ganz in den Dienst der offensichtlichen und unausgesprochenen Vorgaben in Mahlers durchgehender Skizze von 1951 Takten und entwickelte eine überzeugende Textur und Orchestration in Übereinstimmung mit der neuen und einmaligen Klangwelt, die einzig mit der Zehnten Symphonie verbunden ist. Wo Cooke und ich die Texturen der Symphonien der mittleren Periode (Nr. 5, 6 und 7) imitierten und Carpenter versuchte, die dichte Polyphonie der Neunten wiederzubeleben, war es nur Wheeler, der es Mahlers eigenen, entschlackteren Texturen gestattete, klar durchzuscheinen. Insofern ist Wheelers letzte Version näher am 'Lied von der Erde' als irgendeine der anderen Fassungen, und dies nicht etwa, weil Wheeler gedacht hätte, daß es so gemacht werden sollte, sondern, weil Mahlers eigene Orchestration in der ersten Hälfte der Symphonie dies nachdrücklich fordert. Was nicht bedeutet, daß in Wheelers Partitur wenig oder nichts hinzugefügt worden wäre.". In der Folge zog Mazzetti seine erfolgreich rezipierte Partitur zurück und schuf seine 1997 vollendete zweite Version, in welcher er versuchte, die ihm ausbeutungswürdig erscheinenden Elemente Wheelers zu integrieren. Auch Wheeler wußte, daß nur Mahler selbst den authentischen Mahlerklang verwirklicht hätte und jede Imitation und Ergänzung fraglos schwächer ausfallen mußte.

Folgerichtig änderte er, wie auch Cooke, abgesehen von den teils gravierenden Druckfehlern, nur ein paar unauffällige Kleinigkeiten im von Mahler in Partitur vollendeten ersten Satz. Auch Mazzetti wahrte hier einigermaßen die Diskretion, wogegen Carpenter – wie könnte es anders sein? – sich zumal am Höhepunkt kräftig und mit entstellendem kompositorischen Eifer einmischte.

Der Kopfsatz allein wird bis heute gemeinhin als Mahlers Zehnte Symphonie bezeichnet, wenn auch der Widerstand der Puristen gegen die Ausarbeitung der Skizzen nachgelassen hat. Und natürlich kann kein Zweifel bestehen, daß dieses Adagio auch für sich alleine intensivste Wirkung ausübt. Es ist der vollendetste, in der Übereinstimmung von Substanz und Ausdruck geschlossenste Satz der Symphonie. Viele der bedeutenden Interpreten haben sich mit der hochverdichteten Emotionalität dieser Musik eingelassen und ihr den Stempel ihrer Persönlichkeit aufgeprägt. Und diese Musik hält eine Menge aus, wenngleich sie wie jede andere zum Beispiel bei extrem breiter Tempowahl eine entsprechend substantielle Darbietung fordert. Giuseppe Sinopoli konnte mit dem Philharmonia Orchestra London in schier unglaublichen 33 Minuten einiges glaubhaft machen und die latente Nähe zum Adagio aus Bruckners Neunter Symphonie wird an den entsprechenden Stellen sehr deutlich. Vieles ist sehr subtil ausmusiziert, immense Introversion und Ermattung, ein anämisch zelebriertes Pathos prägt weite Passagen. Es gelingt bei aller Liebe zum Detail nicht, die für ein so breites Tempo notwendige Spannung aufzubauen.

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Ausschnitt aus 1. Satz: Anfang-T. 31

Philharmonia Orchestra, Giuseppe Sinopoli; 1987

Deutsche Grammophon CD 459 406-2

CD 1, Track 1, Anfang-3'23 (Dauer: 3'20), ausblenden!

Anders als bei Sinopoli wirkt die Deutung Karl Anton Rickenbachers mit den Bamberger Symphonikern durchweg überdehnt und führt zu behäbigem Stillstand. Das Gegenstück dazu bildet die abscheulich durchgehetzte, technisch verpfuschte Aufführung Harold Farbermans in weniger als 19 Minuten. So etwas kann man eigentlich nur verabscheuen, ganz abgesehen davon, daß hier von Adagio keine Rede mehr sein kann. Was dazwischen ist, kann überwiegend ernstgenommen werden. Zu den strengen Exerzitienmeistern zügigen Kalibers gehören George Szell und Michael Gielen, worunter dem biegsameren, atmenderen, schlichtweg um Welten musikalischeren Szell eindeutig der Vorzug zu geben ist. Eine merkwürdige Mischung aus selbstauferlegter analytischer Askese und dem Bedarf nach klanglicher Entfaltung mit dem daraus resultierenden sehr breiten Tempo lieferte Hermann Scherchen mit dem Wiener Staatsopern-Orchester Anfang der fünfziger Jahre. Der den Bratschen allein eingeschriebene Anfang, vielleicht die heikelsten Takte der ganzen Symphonie, mit allen Gefahren falschen Betonens und modulatorischen Irrens, übertriebener Emphase oder spannungsarmen Zerfallens, inhomogenen Klangs und flatternder Intonation besetzt: Dieser Anfang wird zum Offenbarungseid aller Musiker. Wer wird ihm gerecht? Hermann Scherchen eher nicht, auch wenn die geistige Ausrichtung spürbar ist, was der Ausführung eine untergründige Spannung verleiht.

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Ausschnitt aus 1. Satz: Anfang-T. 15

Wiener Staatsopern-Orchester, Hermann Scherchen; rel 1952

Palladio CD PD 4133.34 (ursprünglich LP bei Westminster!)

CD 2, Track 2, von Anfang (Dauer: 1'31), ausblenden!

Ungleich weniger ambitioniert, gelingt Rafael Kubelik eine Darstellung des Anfangsgedankens, deren Geschlossenheit für die Gestaltung des ganzen Satzes symbolisch erscheint.

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Ausschnitt aus 1. Satz: Anfang-T. 15

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Rafael Kubelik; April 1968

DG CD 463738-2

CD 4, Track 2, von Anfang (Dauer: 1'19), ausblenden!

Kubelik überträgt eine Wärme, Sanglichkeit und in der böhmischen Musiziertradition wurzelnde Frische des Ausdrucks auf seine Musiker – hier das ihm eng verbundene Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks –, die unmittelbar mit dem Hörer kommunizieren. Nach der sogenannten metaphysischen Dimension dürfen die Anhänger von Zerrissenheit und Dekadenz dabei vergeblich fahnden. Diese Dimension wurde beispielsweise 1978 von Klaus Tennstedt mit dem London Philharmonic Orchestra sinnfällig angestrebt, was sich rein äußerlich in einer Spieldauer von 28 Minuten niederschlug. Wenn dagegen Leif Segerstam 16 Jahre später in Kopenhagen eineinhalb Minuten länger brauchte, so hing dies eher mit seiner Neigung zu klanglicher Opulenz und gleichzeitigem Bedarf nach Deutlichkeit zusammen. Die bedrängende Spannung aufzubauen gelang ihm nicht. Auf der anderen Seite der Medaille ist die heitere Unbeschwertheit Bernard Haitinks angesiedelt, die dem Stück den tragischen Stachel zieht und einen gelösten Eindruck macht, der angesichts der musikalischen Entwicklung nun doch nicht ganz glaubwürdig ist. Bei Lorin Maazel bleibt der Eindruck, in gemessenerem Tempo, ähnlich oberflächlich distanziert. Andere hinterlassen tiefere Spuren: James Judds leidenschaftliche Aufgewühltheit kontrastiert mit der sanften Schwermut Claudio Abbados. Für Judd mag das Vorbild Leonard Bernstein sein, der den Klage-, Schmerz- und Seufzergestus als selbstverständliche Ingredienzen in Mahlers Musik entdeckte wie kein Zweiter, was beide Einspielungen, sowohl die New Yorker von 1975 als die Wiener von 1974, maßgeblich auszeichnet. Aus ersterer Aufnahme ist jetzt jenes sehnsuchtsdurchtränkte Thema zu hören, das unmittelbar aus dem einleitenden Gedanken der Bratschen hervorgeht.

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Ausschnitt aus 1. Satz: Tt. 16-30

New York Philharmonic, Leonard Bernstein; 1975

Sony CD 68304

CD 12, Track 3, 1'23-3'12 (Dauer: 1'49), einblenden!

Zum Schluß war jetzt jene motivische Pflanze zu hören, die auch als drittes Thema des Adagios bezeichnet wird. In der Tat handelt es sich um drei kontrastierende Gruppen, die dem Satz das Gepräge geben, doch ist die motivische Verwandtschaft zwischen diesen sogenannten Themen so groß, daß von einem wirklich opponierenden Motivmaterial nicht die Rede sein kann. Die Form ist eher die einer doppelten Metamorphose mit Interpunktionen des Einleitungsgedankens, die klar gliedernde Funktion haben. Man hat auch von einer Doppelvariation gesprochen, doch ist es eigentlich nicht möglich, das vegetative Wuchern dieser Musik solcherart angemessen zu umschreiben. Es ist etwas Naturhaftes in der Fortschreitung, etwas sich selbst Umschlingendes, welches mit einem Mal in eine unerwartete Lösung überführt wird, gleichsam eine Naturkatastrophe erfährt. Immer noch, nunmehr neunzig Jahren nach der Entstehung, wirkt der plötzliche Fortissimo-Ausbruch vor dem Schluß des Satzes wie ein Schock. Das Potential für dieses gewaltige Ereignis ist eben nicht vorherzuspüren und trifft damit den unvoreingenommenen Hörers jedesmal wieder gänzlich wider die Erwartung. Unter allen Neueinspielungen finde ich auch im Adagio diejenige Simon Rattles mit den Berliner Philharmonikern am ansprechendsten. Rattle neigt zwar mehr denn je zu Exaltationen und macht so die Musik noch zerrissener als sie ohnehin ist. Aber andererseits: Wer hat schon sonst mit solcher Intensität und Beweglichkeit in Dynamik und Tongebung feinste Schattierungen des Tonsatzes zur deutlichsten Aussprache gebracht? Wir begeben uns jetzt mitten hinein in die "Durchführung", wo die thematischen Gestalten im Anschluß an das dritte Solo der Bratschen kaleidoskopischem Wechsel unterworfen sind.

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Ausschnitt aus 1. Satz: Tt. 104-140

Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; 1999

EMI CD 556972 2

Track 1, 9'55-12'39 (Dauer: 2'44), ausblenden!

Das eigentliche Ereignis im Adagio von Mahlers Zehnter, der überwältigende as-moll-Fortissimo-Eintritt des Chorals und der darauffolgende Aufbau des grell dissonanten Neunton-Akkords, mit welchem Mahler seinen postumen Ruf als "Vater der Moderne" symbolisch fundamentierte, ist nicht nur Höhepunkt des Kopfsatzes, sondern kehrt zugleich, als Stigma dieser Symphonie, im Finale wieder. Oder würde man nicht doch besser sagen: sollte wiederkehren? Letztlich bleibt nach jedem Hören der komplettierten Zehnten der beklemmende Eindruck und zugleich die bewegende Gewißheit bestehen, daß es – ebenso wie bei Mozart, Schubert oder Bruckner – nicht möglich ist, das Werk eines Genies wie Mahler fortzuführen oder zu vollenden. Ein Musikwissenschaftler mit gutem kompositorischen Handwerk, wie dies Deryck Cooke war, bringt in den entscheidenden Momenten nicht die Freiheit und kreative Phantasie auf, die unbedingt erforderlich wären, um die Höhe des vollendeten ersten Satzes zu halten. Und jene, die selbst große Tonschöpfer sind, können es nicht vermeiden, daß immer wieder ihre persönliche Phantasie die kaum aufgegangene Saat Mahlers vergewaltigt. Selbst Schostakowitsch, der ja eine so grandiose Bearbeitung von Mussorgskijs 'Boris Godunov' vorgelegt hat, mußte diese Arbeit und damit diese Form der Einmischung in ein – bei aller stilistischen Vertrautheit und Sympathie – fremdes Terrain ablehnen. Natürlich kann es sein, daß aufgrund der gemachten Erfahrungen eines Tages eine fesselndere und zugleich stilsichere Komplettierung der Zehnten Mahler von berufener Hand ausgeführt wird, und nichts spricht dagegen, das Unmögliche weiterhin für möglich zu halten. Leider stand uns für diesen Vergleich noch nicht Rudolf Barschais in langen Jahren gereifte und vom Sinfonieorchester des Westdeutschen Rundfunks eingespielte Fassung zur Verfügung. Barschai ging in vieler Hinsicht freier vor als seine Vorgänger. Der Einfluß Schostakowitschs ist zwar offensichtlich in seiner Orchesterbehandlung, doch ist es ihm zweifelsohne besser gelungen, ein kontinuierlicheres Drama zu entfalten, den zwingenden Zusammenhang über weitere Strecken herzustellen. Glättungen, wie wir sie zumal dem tapferen Cooke verdanken, sind Barschais Sache nicht. Auch hat er das Orchester teils bedeutend erweitert und exotischere Instrumente einbezogen wie Tenorhorn, Gitarre und Mandoline, die Mahler in seiner Siebten Symphonie verwendete, aber auch Schlaginstrumente, die bei Mahler nicht vorkommen. Es ist ihm zuzutrauen, daß er eine neue Ära in der Auseinandersetzung mit dieser monumentalen 'Unvollendeten' eröffnet.

Doch bleibt, Wheeler und auch Cooke, Mazzetti und wahrscheinlich Barschai zum Trotz, der einzig vollendete erste Satz letzter Höhepunkt in Mahlers Schaffen und überragt den sicherlich adäquat und (auch als teilweise einstimmig überlieferter Torso noch) imponierend konzipierten Rest der Symphonie an elementarer Qualität und Statur. Bewegen wir uns also nochmals zurück zu diesem ersten Satz, hin zum erschütternden Schlüsselmoment der Symphonie, dem Hereinbrechen des gänzlich Unerwarteten ins kantable Gewebe. Dieses zentrale Ereignis, vielfach als Katastrophe verstanden, sei hier, wie der Beginn unserer vergleichenden Exkursion, Dimitri Mitropoulos und den New Yorker Philharmonikern überlassen. Lodernder Furor, warme Menschlichkeit und unbestechliche Kontrolle über das Wesentliche gingen in diesem zu früh verstorbenen Feuerkopf eine Synthese ein, die die Hörer stets unmittelbar in Bann zog. Technische Perfektion war nicht Mitropoulos’ Hauptanliegen, wenn er sich mit kompromißloser identifikatorischer Kraft der musikalischen Dynamik, die er erweckte, zugleich vollkommen hingab. Den Abschluß unserer Reise durch Mahlers Zehnte Symphonie markiert also unter Mitropoulos’ Leitung der Kopfsatz mit dem Eintritt des Höhepunkts.

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Ausschnitt aus 1. Satz: Tt. 187-?

New York Philharmonic, Dimitri Mitropoulos; live, 16.1.1960

New York Philharmonic Special Editions NYP 9811/12

CD 1, Track 1, Schluß (Dauer: 12'10), einblenden

Sendemanuskript für BR 4

"Interpretationen im Vergleich" ((Redaktion: Attila Csampai)

Produktion: 10/2001 (Karlheinz Steinkeller)

Erstsendung: 27.10.2001

Christoph Schlüren, 7/2000 & 10/2001