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Gustav Mahler

8. Symphonie

Interpretationen im Vergleich

1. Satz 'Veni, creator spiritus'

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1. Satz Anfang

New York Philharmonic Orchestra, Leopold Stokowski (live, 9.4.1950)

New York Philh. Special Editions NYP 9809/10 (Vertr. Klassik heute, LC 07730)

CD 1, Track 1, 0'00-2’22 (Dauer: 2’22); ausblenden!

Der fulminant auftrumpfende Beginn von Gustav Mahlers Achter Symphonie ist symtomatisch für den Charakter des gesamten ersten Satzes, eine Vertonung des lateinischen Pfingsthymnus 'Veni, creator spiritus', der wahrscheinlich im Jahr 809 von Hrabanus Maurus gedichtet wurde. Für die Dirigenten bedeutet es eine eminente Herausforderung, die Vehemenz der kontrapunktischen Faktur, die massiven Klangwirkungen unter struktureller Kontrolle zu halten, ohne den geradezu ins Grenzenlose strebenden Jubel zu dämpfen. Leopold Stokowski war als charismatischer Orchesterbeherrscher prädestiniert für ein solches, beständig auf dem schmalen Grat zur Maß- und Formlosigkeit angesiedeltes Werk, und wir hörten soeben den Anfang des legendären Konzertmitschnitts vom 9. April 1950 in der Carnegie Hall mit der Schola Cantorum, dem Westminster Choir und den New Yorker Philharmonikern unter seiner Leitung. Nicht nur, dass er den unbedingt erforderlichen feurigen Ausdruck und mitreißenden Schwung entfachte, die Phrasierung ist erstaunlich leicht und flexibel, das Ganze atmet in fast klassischer Klarheit. Erstmals hatte Stokowski in Amerika 1916 Mahlers Achte aufgeführt, und er berichtete später, das Publikum habe in den Konzerten geweint. Kein Wunder angesichts der monumentalen Strahlkraft und alle Register chorsymphonischer Macht ziehenden Handschrift, dass die Uraufführung am 12. September 1910 in München mit den Münchner Philharmonikern unter dem Komponisten sich zum überwältigendsten Triumph in Mahlers Leben gestaltete. Und zum letzten: Gut acht Monate später, am 18. Mai 1911, erlag er in Wien einer Lungenentzündung. An der Münchner Uraufführung waren 858 Sänger und 171 Instrumentalisten beteiligt, und seither heißt die Achte nicht grundlos 'Symphonie der Tausend'. Den einprägsamen Namen gab ihr der Konzertagent Emil Gutmann.

Der Partiturentwurf der Achten Symphonie entstand innerhalb von nur zehn Wochen im Sommer 1906. Mahler schrieb darüber an Willem Mengelberg, den ihm zugetanen Dirigentenfürsten des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters: "Hier stecke ich in viel Noten! Ich habe eben meine 8. vollendet. – Es ist das Größte, was ich bis jetzt gemacht. Und so eigenartig in Inhalt und Form, dass sich darüber gar nicht schreiben lässt. – Denken Sie sich, dass das Universum zu tönen und zu klingen beginnt. Es sind nicht mehr menschliche Stimmen, sondern Planeten und Sonnen, welche kreisen." Für Mahler selbst war die Achte sein Magnum opus, und Mahlers Intimus Richard Specht betonte 1912 im Vorwort zu seiner thematischen Analyse, Mahler habe "von diesem Werk das stolze Wort gesagt, dass es 'ein Geschenk an die ganze Nation' sei und hat dies Wort in der Hoffnung gesagt, dass die 'Achte' – im Gegensatz zu seinen anderen vielfach schwerer zugänglichen Symphonien – die Herzen aller Hörer mit einem Schlage zu ihm zwingen werde. Der unwiderstehliche, überwältigend beglückende Eindruck, den die unvergleichliche Uraufführung des Riesenwerkes unter Mahler ausübte, der ungeheure Schrei des Dankes, der nach dieser Aufführung wie im Taumel und Furor losbrach, schien eine Erfüllung jener Hoffnung. Es wäre schön, wenn sie eine dauernde bliebe." Sie blieb es, und weit mehr als das andere Wiener Monumentalwerk derselben Epoche, Arnold Schönbergs Gurre-Lieder. Und doch ist sie, wie letztere, zugleich auch stets heftig umstritten geblieben, und die ablehnende Haltung vieler Kritiker brachte Adorno mit dem bösen Bonmot von der "symbolischen Riesenschwarte" auf den Punkt. Richard Specht wiederum hat dankenswerterweise auch ein Gespräch vom August 1906 aufgezeichnet, in welchem Mahler sich prägnant zur Stellung des Werkes in seinem Schaffen und innerhalb der Musikgeschichte äußerte:

"Denken Sie sich, ich habe in den letzten drei Wochen eine ganz neue Sinfonie in der Skizze fertig gemacht, etwas, wogegen all meine anderen Werke nur wie Vorstufen wirken. Ich habe nie etwas Ähnliches geschrieben; es ist im Inhalt und im Stil etwas ganz anderes als alle meine anderen Arbeiten, und es ist gewiss das Größte, was ich gemacht habe. Ich habe auch vielleicht noch nie unter einem solchen Zwange gearbeitet; es war wie eine blitzartige Vision – so ist das Ganze sofort vor meinen Augen gestanden und ich habe es nur aufzuschreiben gebraucht, so, als ob es mir diktiert worden wäre… Diese achte Sinfonie ist schon dadurch merkwürdig, dass sie zwei Dichtungen in verschiedenen Sprachen vereinigt; der erste Teil ist eine lateinische Hymne, und der zweite Teil nichts Geringeres als die Schlußszene des zweiten Teiles des Faust. Wundern Sie sich? Diese Anachoretenszene und den Schluss mit der Mater gloriosa zu komponieren, und anders als alle anderen, die das so süßlich und schwach getan haben, war schon lange meine Sehnsucht; aber ich habe jetzt gar nicht mehr daran gedacht. Da fiel mir zufällig neulich ein altes Buch in die Hände und ich schlage den Hymnus Veni creator spiritus auf – und wie mit einem Schlage steht das Ganze vor mir: nicht nur das erste Thema, sondern der ganze erste Satz, und als Antwort darauf konnte ich gar nichts Schöneres finden, als die Goetheschen Worte in der Anachoretenszene! Aber auch in der Form ist es etwas ganz Neues: Können Sie sich eine Sinfonie vorstellen, die von Anfang bis zu Ende durchgesungen wird? Bisher habe ich das Wort und die Menschenstimme immer nur ausdeutend, verkürzend als Stimmungsfaktor verwendet, um etwas, was rein sinfonisch nur in ungeheurer Breite auszudrücken gewesen wäre, mit der knappen Bestimmtheit zu sagen, die eben nur das Wort ermöglicht. Hier aber ist die Singstimme zugleich Instrument; der ganze erste Satz ist streng in der sinfonischen Form gehalten und wird dabei vollständig gesungen. Es ist doch eigentlich merkwürdig, dass niemand bisher auf diese Idee verfallen ist – es ist doch das Ei des Kolumbus, die Sinfonie an sich, in der das schönste Instrument, das es gibt, seiner Bestimmung zugeführt wird – und doch nicht nur als Klang, denn die menschliche Stimme ist dabei doch der Träger des dichterischen Gedankens."

Wenn Mahler nun davon spricht, der erste Satz sei "streng in der sinfonischen Form gehalten", so meint er damit die Sonatenform, wo aus dem Kontrast zweier gegensätzlicher Themenwelten eine Art Drama in Tönen hervorgeht. Die Sonatenform ist hier allerdings in sehr erweiterter und modifizierter Weise verwirklicht. Ist zwar zunächst der Kontrast zwischen triumphaler Hauptthematik und inniger Seitenthematik ganz offenkundig, so ist der weitere Fortgang der Exposition sehr durchführungsartig, die sehr umfangreiche eigentliche Durchführung gliedert sich in stark kontrastierende Abschnitte und gipfelt in einer gewaltigen Doppelfuge über die zwei Hauptthemen, und erst mit dem Eintritt der Reprise, die zugleich auch die Wiederkehr des Anfangstexts bringt, wird der sonatenartige Grundriß fühlbar. In der Symmetrie auffallend ist, dass Reprise und Coda zusammen genau dieselbe Zahl von 168 Takten umspannen wie die Exposition. Es ist nicht möglich, in dem beschränkten Rahmen auch nur anzudeuten, wie die einzelnen Interpreten die komplexe, vielschichtige Anlage dieses je nach Aufführung zwischen 20 Minuten – unter Neeme Järvi – und 27 fast Minuten – unter Lorin Maazel – dauernden Satzes bewältigen, dessen immense Herausforderung auch darin besteht, trotz der großen Mannigfaltigkeit an Gestalten und Charakteren unwiderstehliche Stringenz einzufordern, sich eben nicht in einzelnen Stimmungsbildern zu verlieren. Doch mögen exemplarische Beispiele die Situation verdeutlichen. Lorin Maazel hat sich in seiner Wiener Aufnahme vom Juni 1989 in beiden Sätzen der Achten bei weitem am meisten Zeit genommen. Die großteils sehr breiten Zeitmaße sind in seinem Bedürfnis nach Transparenz und detaillierter Klangentfaltung begründet. Gewiß läßt sich ein lodernderes Feuer entfachen, der unbedingte Gestaltungswillen kann in seiner extrovertierten Macht körperhaft spürbarer werden, wie dies bei Stokowski, Mitropoulos oder auch Bernstein der Fall war. Auch kann, wie bei Horenstein, eine intensivere, unverwechselbarere Atmosphäre beschworen werden. Andererseits verfügte Maazel mit den Sopranistinnen Sharon Sweet und Pamela Coburn, den Altistinnen Florence Quivar und Brigitte Fassbaender sowie Richard Leech, Sigmund Nimsgern und Simon Estes über eine hochkarätige Sängerriege, und sechs Aufnahmetage taten das Ihrige dazu. Die extremen organisatorischen Anforderungen kommen Maazels Begabung entgegen wie keine andere Symphonie Mahlers. Wer auf strukturelle Deutlichkeit, weitgehende technische Makellosigkeit und opulente Klangsinnlichkeit Wert, kommt um Bewunderung nicht herum, auch wenn gelegentlich der Eindruck einer inneren Distanz sich zur Gewissheit verdichtet.

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1. Satz, Anfang bis zum ersten Orchesterzwischenspiel

Sharon Sweet, Pamela Coburn, Florence Quivar, Brigitte Fassbaender, Richard Leech, Sigmund Nimsgern, Simon Estes, Wiener Staatsopernchor, ORF-Chor, Arnold-Schönberg-Chor, Wiener Philharmoniker, Lorin Maazel (6/1989)

Sony 45754 (LC 6868)

CD 1, Track 1, 0’00 - Track 2, 1’45 (Dauer: 3’19); ausblenden!

Bei Leonard Bernstein mag, auch aufnahmetechnisch bedingt, das kontrapunktische Gewebe bisweilen etwas weniger durchhörbar sein, doch wird bei ihm sogar das Strukturelle zu sinnfälligerer Entfaltung gebracht. Seine Konzertaufführung des ersten Teils zur Eröffnung des Lincoln Center am 23. September 1962 mit den New Yorker Philharmonikern steht ganz im Zeichen einer ins Unbegrenzte strebenden Freude. Und die Solisten Adele Addison, Lucine Amara, Lili Chookaskian, Jennie Tourel, Richard Tucker, Ezio Flagello und George London verhelfen seinen Intentionen zu prachtvollster Darstellung.

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1. Satz, Anfang bis Imple superna II (T. 66)

Adele Addison, Lucine Amara, Lili Chookaskian, Jennie Tourel, Richard Tucker, Ezio Flagello, George London, Schola Cantorum, Juilliard Chorus, New Yorker Philharmoniker, Leonard Bernstein (live, New York, 23.9.1962)

Sony 63159 (LC 6868)

CD 2, Track 14, 0’00 - Track 15, 1’02 (Dauer: 2’30); ausblenden!

Auch Claudio Abbado hat 1994 in Berlin mit Cheryl Studer, Sylvia McNair, Anne Sofie von Otter, Rosemarie Lang, Peter Seiffert, Bryn Terfel und Jan-Hendrik Rootering Sänger der ersten Garnitur um sich geschart, und so konnte er mit dem Berliner Rundfunkchor, dem Prager Philharmonischen Chor und den Berliner Philharmonikern ergötzlichen Wohlklang ausbreiten, wobei Cheryl Studer etwas angestrengt klingt, wenn sie sich in der höchsten Lage zurückhalten soll. Das auf die Wiederkehr des 'Veni, creator spiritus'-Gedankens folgende, sehr aufwühlende Orchesterzwischenspiel führt in die introvertierte Welt der 'Infirma nostri'-Vertonung, wo die Hauptthematik ins Düstere, Schattenhafte gewendet wird, indem es heißt: "Unsere Schwachheit stärke durch deine Wunderkraft…". Die Intonation der Schwachheit wird unter Mahlers Hand zum gewaltigen Einbruch, der seine bestürzende Wirkung eigentlich in keiner Aufführung verfehlen kann. Da mag man schon bedauern, dass er keine Oper geschrieben hat, und die Ansicht, auch bei seiner Achten handele es sich um absolute Musik, die primär aus ihren eigenen Triebkräften motiviert sei, wird zum blinden Formalismus angesichts der krassen Textausdeutung, die sich schon im primär symphonisch konzipierten ersten Satz an Schlüsselstellen unübersehbar niederschlägt. Claudio Abbado, im Grunde ein überwiegend lyrisch veranlagter Charakter, stürzt sich vehement auf diesen Übergang, lässt die Pauke den Umschwung – im Gegensatz zum in der Partitur notierten einfachen Forte – mit brutaler Attacke markieren und entfesselt ein solches Vorandrängen ins Dunkel, dass die Innigkeit des 'Infirma nostri' fast als neuer Gegensatz und kaum als Ergebnis der vorangehenden Wende aufscheint.

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1. Satz, Qui paraclitus - infirma nostri (Beginn)

Cheryl Studer, Sylvia McNair, Anne Sofie von Otter, Rosemarie Lang, Peter Seiffert, Bryn Terfel, Jan-Hendrik Rootering, Rundfunkchor Berlin, Prager Philharmonischer Chor, Berliner Philharmoniker, Claudio Abbado (2/1994)

Deutsche Grammophon 445843-2 (LC 0173)

CD 1, Track 2, 1’31 - Track 3, 0’43 (Dauer: 2’46); ein- und ausblenden!

Ohne die strukturelle Unterstützung aufnahmetechnischer Raffinesse und mit einem Risikobedarf wie kaum ein anderer, leitete der griechische Maestro Dimitri Mitropoulos am 28. August 1960, zwei Monate vor seinem frühzeitigen Tode, bei den Salzburger Festspielen eine Aufführung der Wiener Philharmoniker, die zu Recht legendär wurde. In unserem knapp achtminütigen Ausschnitt, der die gesamte Exposition des ersten Satzes umfasst, nimmt seine weiträumige gestalterische Disposition unmittelbar gefangen; Modulationen, die unter anderen Händen gewaltsam scheinen, entfalten in unerzwungener Natürlichkeit ihre volle Wirkung; das Umkippen in die Introversion des 'Infirma nostri' kommt mit nicht geringerer Vehemenz als unter Abbado, und doch wird die zu erreichende Stimmung gerade im rechten Moment noch vorbereitet. Bei Mitropoulos erstand die Musik zumeist mit einer elementaren Emphase und glutvoll kommunizierenden Spontaneität, als würde sie im Augenblick der Aufführung komponiert. Dabei lag ihm, der als junger Mann von der Fortschrittstradition der zweiten Wiener Schule entscheidend geprägt wurde, nichts ferner als zerfließende Sentimentalität oder äußerliches Aufdonnern. Die grandiose Klanglichkeit von Mahlers Achter war für Mitropoulos ein bekennerisches Anliegen, welches er aus unbedingter innerer Notwendigkeit heraus neu formte. Auch wenn er so manchmal zu überraschenden Resultaten gelangte, war es doch alles andere als Willkür, was ihn leitete. Im Grunde versteht er die Botschaft von Mahlers Achter aus dem menschheitsumarmenden Geist von Beethovens Neunter, diesen transzendierend mit dem Erleuchtungs- und Auferstehungsgedanken. Mit anderen Worten: Mahlers existentielles Anliegen nimmt tönende Gestalt an. Das gelang den wenigsten Dirigenten. Es singen Mimi Coertse, Hilde Zadek, Lucretia West, Ira Malaniuk, Giuseppe Zampieri, Hermann Prey und Otto Edelmann.

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1. Satz, Anfang - Beginn der Durchführung (T. 169)

Mimi Coertse, Hilde Zadek, Lucretia West, Ira Malaniuk, Giuseppe Zampieri, Hermann Prey, Otto Edelmann, Wiener Staatsopernchor, Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde, Wiener Philharmoniker, Dimitri Mitropoulos (live, Salzburg, 28.8.1960)

Orfeo C 519992 (LC 8175)

CD 1, 0’03-7’47 (Dauer: 7’44); ausblenden!

Ein bizarr irrlichterndes Orchesterzwischenspiel eröffnet nach dem Abreißen des Gesangs die Durchführung. Die Vorschrift Mahlers lautet Tempo primo, dabei aber in Klammern 'Allegro, etwas hastig'. Bernard Haitink mit dem Concertgebouw Orchester neigt ohnehin zu luftiger Leichtigkeit, was natürlich der Durchhörbarkeit öfters zugute kommt, jedoch auch manche massive Ballung gazellenhaft überspringt. Bei ihm klingt das Zwischenspiel wie ein von Mendelssohns Sommernachtstraum inspiriertes Scherzando. Ob solcher Zauberspuk und das Verschenken der dunklen Untertönung zur Wiederholung des 'Infirma nostri' passt? Sicher nicht, aber Mahlers Klangkosmos verträgt viele Schattierungen. Die Aufnahme, auch sie mit edler Sängerschaft bestückt, entstand 1971.

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1. Satz, Beginn der Durchführung

Birgit Finnilä, Marianne Dieleman, William Cochran, Hermann Prey, Hans Sotin, Concertgebouw Orchester, Bernard Haitink (Amsterdam, 9/1971)

Philips 442050-2 (LC 0305)

Track 3, 2’29 - Track 4, 0’30 (Dauer: 1’39); ein- und ausblenden!

Was das Tempo betrifft, bildet Lorin Maazels Auffassung dieser Stelle den schärfsten Gegensatz zu Haitinks Flüchtigkeit. In der langsamen Darstellung kommen die einzelnen Instrumentationseffekte natürlich viel nachhaltiger zum Tragen, sind auch viel effektvoller in der gestochenen Deutlichkeit. Als 'etwas hastig' ist der erzielte Charakter im Zusammenhang allerdings nicht zu verstehen, und das Dämonische, Unheilschwangere geht auch bei Maazel, wenngleich auf einem Haitink entgegengesetzten Wege, verloren. Was bleibt, sind Akkuratesse und Balance, eine analytische Wahrnehmung der skurrilen orchestralen Wechselwirkungen, aber mit einem sehr statischen Beigeschmack.

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1. Satz, Beginn der Durchführung

Wiener Philharmoniker, Lorin Maazel (6/1989)

Sony 45754 (LC 6868)

Track 4, 0’03-1’10 (Dauer: 1’06); ein- und ausblenden!

Wie zarte Blumen wirken die bisher vorgestellten Spukszenen gegenüber der stachligen, peitschenden, heftig attackierenden und wild grimassierenden Gewalt, die Georg Solti 1971 in Wien aus seinem Chicago Symphony Orchestra herauskitzelte. Diese grobe, in ihrer Präzision gespenstische Dämonie wird unterstützt durch eine gnadenlos analytische, mit der realen Raumakustik bedingungslos aufräumende Aufnahmetechnik, die einer reinen Hifi-Ästhetik entspricht. So werden selbstverständlich nicht nur unerhört flexibel einzelne Instrumente ganz nach Bedarf an bestimmte Positionen des Hörraums gerückt, was eine primär durch den Tonmeister und nicht durch den Dirigenten geformte Balance zur Folge hat. Auch die Sänger haben solcherart kein Problem, sich in allen stimmlichen Nuancen durchzusetzen. Verloren geht bei diesem Verfahren die Erfahrbarkeit des Ausmaßes der orchestralen Expansion, dies freilich zugunsten markerschütternder Klangexzesse und geradezu hautnaher Fühlbarkeit der Klangentstehung. Zur Demonstration dieses Klangideals beginnt dieser Ausschnitt etwas früher als die anderen und endet auch später. Es singen keine Geringeren als Heather Harper, Lucia Popp, Yvonne Minton, Helen Watts, René Kollo, John Shirley-Quirk und Martti Talvela. Dass die Drastik von Soltis Vorgehen hier so gut passt wie in den vorangegangenen Instrumentalsymphonien, lässt sich schwerlich vertreten. Der himmlische Glanz der Achten lag ihm weniger als die schroffen Katarakte düstererer Tonschöpfungen Mahlers. Im spezifischen Fall wird die Aussage 'Infirma nostri corporis' künstlich erhitzt und mutet so fast wie ein nekromantisches Ritual an. Was manchen Hörer sicherlich begeistern könnte.

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1. Satz, Ende der Exposition – Cäsur vor 'lumen accende sensibus'

Heather Harper, Lucia Popp, Yvonne Minton, Helen Watts, René Kollo, John Shirley-Quirk, Martti Talvela, Chicago Symphony Orchestra, Georg Solti (Wien, 9/1971)

Decca 430813-2 (LC 0253)

CD 9, Track 5, 1’27-4’20 (Dauer: 2’53); schnell ein- und ausblenden!

Natürlich kann man Mahlers zweite Symphonie als Vorläufer seiner Achten verstehen, doch kam in der Zweiten der Chor – dies sicher zurückgehend auf die Neunte Beethoven und Liszts Faust-Symphonie – erst im Finale hinzu, wogegen die Achte – mit Ausnahme einiger Interludien und des Vorspiels zum zweiten Teil – eine durchgehende Chorsymphonie ist. Andererseits ist es gerade der Auferstehungs- und Erlösungsgedanke, der der Zweiten den populären Namen gab und nun auch die Achte prägen sollte. Mahler hat die Achte ja auch seine "Messe" genannt, was zweifellos in einer pantheistischen Weise zu verstehen ist, denn zunächst ist unbestreitbar, dass die religiöse Hymne des Hrabanus Maurus und der Schluss von Goethes Faust II durch eine kaum überbrückbare zeitliche, religiöse und ästhetische Kluft voneinander geschieden sind, von der sprachlichen und stilistischen Ebene einmal gar nicht zu sprechen. Doch für Mahler und seine auf Erlösung durch göttliche Gnade, auf die im irdischen Leben so unerreichbare grenzenlose Liebe und transzendente Erleuchtung gerichtete romantische Sehnsucht ergab sich eine zwingende geistige Verknüpfung der beiden Dichtungen, ja, letztlich eine geistige Einheit, die er mit den Mitteln der Musik so deutlich und suggestiv als möglich herauszuarbeiten trachtete. Ob dies nun, nach Hans Mayer, eine Tonschöpfung der "totalen religiösen und poetischen Zweckentfremdung" zur Folge hatte, sei dahingestellt. Wie Mahler den Text verstand, darüber gibt seine Bemerkung über die dritte Strophe des lateinischen Hymnus gegenüber Anton von Webern Auskunft: "Diese Stelle bei accende lumen sensibus – da geht die Brücke hinüber zum Schluss des Faust. Diese Stelle ist der Angelpunkt des ganzen Werkes." In der deutschen Übersetzung Georg Göhlers heißt sie: "Entzünde deine Leuchte unseren Sinnen", und weiter: "Ströme deine Liebe in unsere Herzen". Die Verbindung, die sich hier für Mahler herstellte, mag manchem als esoterische Spekulation anmuten, aber derlei pantheistische Streifzüge durch die Geschichte waren zeittypisch und konnten – man denke nur an Schönbergs krude Textentwürfe oder den theosophischen Boom – viel fragwürdigere Formen annehmen.

Es folgt nun ein größerer Abschnitt der Durchführung aus dem New Yorker Konzert vom 9. April 1950, das Leopold Stokowski dirigierte. Die Aufnahme ist leider nur erhältlich in einer 500 Mark teuren, exquisit ausgestatteten Mahler-Box der New Yorker Philharmoniker, die Erlesenes für echte Mahler-Enthusiasten bietet. Wie Stokowski die divergierenden Satzteile spannungsvoll zusammenhält, den suggestiven Klang für die jeweilige Situation kreiert und nie der Gefahr des Episodischen erliegt, wie er mit subtilsten Mitteln direkteste Wirkungen erreicht, das sucht bis heute seinesgleichen. So wirkt der Beginn der Durchführung, sieht man von der historischen Aufnahmequalität ab, nicht weniger dämonisch als unter Solti, dabei aber beweglicher. Entsprechend behutsam gelingt die Überleitung zum 'Infirma nostri corporis'. Wenn dann das offensiv emportreibende 'Accende lumen sensibus' auf den Plan tritt, wo erstmals auch der Knabenchor mitwirkt, so gibt es in der Polyphonie kein gegenseitiges Sich-Eliminieren der widerstrebenden Stimmen, kein schwerfälliges Stampfen auf die schweren Taktzeiten. Stokowski lässt relativ leicht und tänzerisch musizieren, ohne auch nur ein wenig vom triumphalen Gestus zu opfern. Gleiches gilt in erhöhtem Maße für die gigantische Doppelfuge, der noch die vielleicht kühnste Passage des ganzen Werks, die Vertonung des 'Hostem repellas longius', mit den eingeschobenen Aufschreien von Chor und Orchester, vorangestellt ist: "Den Feind wirf zu Boden…" Die Solisten sind Frances Yeend, Uta Graf, Martha Lipton, Louise Bernhardt, Eugene Conley, Carlos Alexander und George London, außerdem singen die Schola Cantorum, der Westminster Choir und der Knabenchor der Public School No. 12, Manhattan.

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1. Satz, Durchführung: Beginn bis Doppelfuge

Frances Yeend, Uta Graf, Martha Lipton, Louise Bernhardt, Eugene Conley, Carlos Alexander, George London, Schola Cantorum, Westminster Choir, Boys’ Chorus from Public School No. 12, Leopold Stokowski (live, 9.4.1950)

New York Philharmonic Special Editions NYP 9809/10 (LC 07730)

CD 1, Track 1, 7’20-13’57 (Dauer: 6’37); ein- und ausblenden!

 

 

 

2. Satz 'Schlußszene aus Goethes Faust II'

Im machtvollen Brausen und Dröhnen der Coda werden die Themen des ersten Satzes vereint, wobei das Accende-Thema und das Veni-Hauptthema mit seinen Quartsprüngen am markantesten wirken. Der Beginn des zweiten Teils, der Vertonung der Schlußszene aus Johann Wolfgang von Goethes 'Faust II', läßt eine völlig andere, zum vorangegangenen, nicht enden wollenden Jubel maximal kontrastierende Welt vor dem Hörer erstehen. Ein ungefähr zehn Minuten langes, wehmütig getragenes, über weite Strecken von einem orgelpunktartigen Es der tremolierenden hohen Geigen harmonisch gebündeltes Orchestervorspiel evoziert ein Naturbild der Einsamkeit und ist zugleich eine Art Ouvertüre, in der Themen und Stimmungen der folgenden Szenerie, vereint durch die gemeinsame melodische Wendung, mit der das erste Motiv der Holzbläser anhebt, vorweggeistern. Zwei dramatische Ausbrüche fahren dazwischen, dem leidenschaftlicher bewegten zweiten folgt ein archaischer Schreittanz als konkreter Vorbote des später ertönenden Engelsgesangs. Die Anfangsstimmung kehrt wieder, das Mysterienspiel kann beginnen: "Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde. Heilige Anachoreten (also Einsiedler), gebirgauf verteilt, gelagert zwischen Klüften." Tenöre und Bässe formieren in magischem Bann Chor und Echo: "Waldung, sie schwankt heran, Felsen, sie lasten dran, Wurzeln, sie klammern an, Stamm dicht an Stamm hinan…" Leonard Bernstein hat in seiner Salzburger Aufnahme vom August 1975 mit den Wiener Philharmonikern dieses Tongemälde mit unnachahmlichem Zauber Gestalt werden lassen. Sein Sinn für orchestrale Farben, für fesselnde Licht- und Schattenwirkungen war seit jeher exzeptionell, und hier, wo sich bei manch anderem Längen einstellen, schafft er eine fast überirdisch schwerelose Atmosphäre, die auf umso erschreckendere, wie im Fundament menschlichen Daseins knirschende Weise zweimal von elementarer Urgewalt durchbrochen wird. Für Bernstein, der sich für eine Reinkarnation Mahlers hielt, war dessen Musik immer existentielles Ereignis, mit allen damit verbundenen Freuden, Zweifeln, Bedrohungen und Katastrophen, eine ständige Apotheose der Zerrissenheit. Um die tatsächliche Wirkung dieses Orchestervorspiels im Zusammenhang fühlbar werden zu lassen, folgt nun zunächst die jubilierende Coda des ersten Satzes, Gloria sit Domino, dann erst die weitgespannte Einleitung des zweiten Teils. Es singen die zu jener Zeit phänomenale Margaret Price, Judith Blegen, Trudeliese Schmidt, Agnes Baltsa, Kenneth Riegel, Hermann Prey und José van Dam, Wiener Staatsopernchor, Wiener Singverein und Wiener Sängerknaben.

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1. Satz, Coda (ab T. 499)

Margaret Price, Judith Blegen, Trudeliese Schmidt, Agnes Baltsa, Kenneth Riegel, Hermann Prey, José van Dam, Wiener Staatsopernchor, Wiener Singverein, Wiener Sängerknaben, Wiener Philharmoniker, Leonard Bernstein

Deutsche Grammophon 459094-2 (LC 0173)

CD 1, Track 9, 0’51-3’18 (Dauer: 2’27); schnell einblenden!

10b

2. Satz, Anfang bis Chor und Echo 'Waldung…'

Besetzung siehe oben (Salzburg, 8/1975)

Deutsche Grammophon 459094-2 (LC 0173)

CD 2, Track 1, 0’05 - Track 3, 1’27 (Dauer: 10’53); ausblenden!

Hat man Bernsteins Aufnahme im Ohr, so wirkt beispielsweise Michael Gielen, neben dem noch schnelleren Neeme Järvi einer der zwei High-Speed-Kapellmeister, nicht nur im feinen Gewebe der verhaltenen Partien sehr blass und ausdrucksarm – was man nicht den trotzdem um Ausdruck ringenden Musikern des Frankfurter Museumsorchesters anlasten kann –, sondern auch in den heftigen Abschnitten in seiner unerbittlichen Buchstabentreue und betont sachlich rigiden Haltung in abschwächender Weise mäßigend. Alles ist korrekt, vieles auch mit kultiviertem Klang abgespielt, aber ein mitreißender Zug stellt sich nicht ein. Dabei handelt es sich um einen Live-Mitschnitt von 1981, ein unverfälschtes Plädoyer also für ein materialistisch eng begrenztes Perfektionsideal.

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2. Satz, Einleitung: Beginn des Più mosso

Opernhaus- und Museumsorchester Frankfurt, Michael Gielen (live, 28.8.1981)

Sony 48281 (LC 6868)

Track 9, 5’28 - Track 10, 1’10 (Dauer: 1’20); schnell ein- und ausblenden!

Eine einzigartige Ausstrahlung von besonderer Authentizität haben die Aufnahmen des aus einer russisch-jüdischen Familie stammenden einstigen Furtwängler-Assistenten und Dauer-Emigranten Jascha Horenstein, deren herbe Größe und spröde Wehmut in manchem an einen anderen großen Vorkämpfer für Mahlers Symphonik erinnert: an John Barbirolli, der freilich die Achte Symphonie nicht aufgeführt hat. Doch ist Horenstein ein grüblerischerer, versponnenerer Musiker als der extrovertierte, der vollblütigen Sentimentalität Edward Elgars so aufgeschlossene Barbirolli. Bei Horenstein finden auf eigentümliche Weise abweisende Rauheit und wie in großen Nachwehen verblühende Kantabilität zueinander. Er setzt wie kaum ein anderer die dynamischen Nuancen der Partitur durch, beispielsweise hier die schneidenden Sforzato-Einsätze der Holzbläser, doch ist es bei ihm gestalterisch durchpulst und gelebt und niemals eine trockene Lehrstunde in sogenannter Werktreue. Was bei seinen Aufnahmen vokaler Werke besonders besticht, ist die gleichberechtigte Interaktion von Sängern und Instrumentalisten, das symphonisch-kontrapunktische Mit- und Ineinander der verschiedenen Ausdrucksebenen. Es folgt ein Ausschnitt aus der ersten Szene des zweiten Teils, 'Waldung, sie schwankt heran…', aus einem Konzert vom 20. März 1959 in der Londoner Royal Albert Hall mit dem London Symphony Orchestra.

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2. Satz, Ausschnitt aus der 1. Szene 'Waldung…'

BBC Chorus, BBC Choral Society, London Symphony Orchestra, Jascha Horenstein (live, London, 20.3.1959)

BBC Legends BBCL 4001-7 (LC 10552)

CD 2, Track 1, 8’02 - Track 2, 2’32 (Dauer: 2’53); ein- und ausblenden!

Über die Schlußszene aus Goethes 'Faust II' schrieb Constantin Floros treffend, sie verdanke ihre Berühmtheit "ihrem 'metaphysischen' Sujet, der Phantastik der Konzeption, der Musikalität der Verse und ihrer Suggestionskraft. Die Szene erzählt die Geschichte Fausts und Gretchens zu Ende und bietet zugleich eine Lösung des 'Welträtsels'." Die Fülle an Figuren sei "bemerkenswert und doch nicht verwirrend". Jene sind: Pater ecstaticus (bei Mahler Bariton) und Pater profundus (Bass), Doctor Marianus (Tenor), drei Sünderinnen (Magna Peccatrix, Mulier Samaritana und Maria Aegyptiaca), die Mater gloriosa, Gretchen (hier Una poenitentium benannt) sowie die Chöre der Anachoreten, der Engel und der seligen Knaben. Mahler hat nun, neben der Fülle an neuem Material, das er für diesen Satz erfand, Motive aus dem ersten Satz eingewoben, womit er die sich für ihn herausstellenden geistigen Analogien mit Kernaussagen des 'Veni, creator spiritus'-Hymnus unterstrich, dies dem Hörer leitmotivisch suggerierend. Auch die thematischen Verschränkungen innerhalb des in den meisten Aufführungen knapp einstündigen zweiten Teils sind sehr vielfältig und resultieren so in einer äußerst komplizierten Gesamtform, innerhalb welcher man aber doch, wie dies bereits Richard Specht tat, einen langsamen Satz, eine Art Scherzo mit nachfolgenden Überleitungsteilen sowie ein großes Finale entdecken kann. Als erste Figur tritt der Pater ecstaticus mit dem Hymnus 'Ewiger Wonnebrand' auf.

Maurice Abravanel, der seit 1947 über mehrere Jahrzehnte Chefdirigent des Utah Symphony Orchestra war, begann dort seinen vielgepriesenen Mahler-Zyklus für Vanguard, den er erst 1977 mit der Zweiten Symphonie vollenden sollte, im Dezember 1963 ausgerechnet mit der Achten. Ein Mann mit langem Atem! Schon diese erste Aufnahme im Mormon Tabernacle zeigt, zu welch einheitlicher Klangkultur Abravanel sein Orchester in der amerikanischen Provinz erzogen hatte. Leider standen ihm bei dieser Produktion nicht allzu hochklassige Sänger zur Verfügung, und nicht alle konnten mit der deutschen Sprache allzuviel anfangen. Den Pater ecstaticus sang David Clatworthy, den Pater profundus Malcolm Smith. Das Klangbild läßt kaum erahnen, wie die Balance zwischen dem Orchester und den hier weit in den Vordergrund gezogenen Solisten tatsächlich war. Es gibt empfehlenswertere Mahler-Einspielungen Abravanels.

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2. Satz, 'ehrengeweihten Ort…' – Pater profundus: …alles bildet, alles hegt.'

David Clatworthy (Bariton), Malcolm Smith (Bass), Utah Symphony Orchestra, Maurice Abravanel (12/1963)

Vanguard 08617971 (LC 1167)

Track 8, 0’00 - Tr. 9, 1’09 (Dauer: 3’24); ein- und ausblenden!

Um wieviel hinreißender ist Leopold Stokowskis New Yorker Aufführung derselben Partien. Mit Carlos Alexander und George London standen ihm ideale Protagonisten zur Verfügung. Doch nicht nur, dass deren Gestaltungskraft und stimmlicher Glanz fesselte: Der Orchestersatz erklingt mit einer Vitalität, einer dialogisierenden Ausdrucksfülle und farbenschillernden Brillanz, die selbst im historischen Klangbild unüberhörbar sind. Eine dieser ebenbürtige Aufnahme ist nicht zu finden.

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2. Satz, 'ehrengeweihten Ort…' – Pater profundus: '…im Busen trug.'

Carlos Alexander, George London, New Yorker Philharmoniker, Leopold Stokowski (live, New York, 9.4.1950)

New York Philharmonic Special Editions NYP 9809/10 (LC 07730)

CD 1, Track 3, 2’20 - Track 5, 2’25 (Dauer: 4’42); ein- und ausblenden!

Dem leidenschaftlichen Arioso des Pater profundus folgen die verschiedenen Engelschöre, denen auch das Scherzando-Element der Symphonie überantwortet ist, sodann der Chor der seligen Knaben zur Wiedergeburt Fausts und die Lobpreisung der Mater gloriosa durch den Doctor Marianus.mit dem Accende-Motiv aus dem ersten Satz. Eine Modulation des Orchesters führt hinüber zum in lichtes E-Dur getauchten Adagissimo, das das Einherschweben der Mater gloriosa illustriert. Der naiven Einfachheit und Unschuld des Ausdrucks, die hier geboten ist, wurde Rafael Kubelik 1970 mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in natürlicher Weise gerecht. Kubelik war nicht gerade ein Magier raffiniertester Klangmischungen, aber stets ein Künstler mit Sinn für das musikalisch Naheliegende.

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2. Satz, Adagissimo: 'Mater gloriosa schwebt einher'

Diverse Rundfunkchöre, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Rafael Kubelik (München, 6/1970)

Deutsche Grammophon 463747-2 (LC 0173)

Track 2, 27’15 - Track 3, 1’30 (Dauer: 2’07); ein- und ausblenden!

Die Portamenti der Geigen, wie sie soeben partiturgetreu zu hören waren, sind keineswegs eine aufführungsgeschichtliche Selbstverständlichkeit. Sogar eine Mahler-Autorität wie Jascha Horenstein konnte 1959 das London Symphony Orchestra nicht dazu bewegen, solcherart gegen borniertes Musikerethos zu verstoßen. Am eindrücklichsten aber hat es Dimitri Mitropoulos mit den Wiener Philharmonikern vorgeführt: Hier wurden die Portamenti geradezu mit genau der richtigen Verzögerung hinaufgeschleudert, und doch spielt sich alles innerhalb der Grenzen erlesenen Geschmacks ab. Jedes Klangmittel ist eben recht, solange es nur sinnvoll und die Intentionen des Tonsatzes stützend eingesetzt wird. Faszinierend ist zudem, und ein typisches Beispiel für die mit überlegenem Können experimentierfreudige Instrumentation, wie deutlich in dieser Aufnahme das – in der Intonation sehr problematische Harmonium – zu hören ist. Mitropoulos’ gestalterische Kraft nötigt rundum Bewunderung ab: Wie organisch und eben nicht mit plumper Stärke die hohen Geigen eintreten, um die Modulation auszuführen; und wie innig anschließend ihr schwebender Gesang erklingt. Allen tontechnischen Defiziten zum Trotz ist dieses Dokument von einem zeitlosen Wert, wie ihn später wohl keine Studioaufnahme der Achten erreicht hat.

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2. Satz, Adagissimo 'Mater gloriosa schwebt einher'

Wiener Staatsopernchor, Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde, Wiener Philharmoniker, Dimitri Mitropoulos (live, Salzburg, 28.8.1960)

Orfeo C 519992 (LC 8175)

Track 5, 0’00-2’54 (Dauer: 2’54); ein- und ausblenden!

Aus dem Adagissimo wachsen die liedhaften Gesänge der drei büßenden Sünderinnen hervor, für die allesamt fließender Vortrag gefordert ist. Diese vereinigen sich schließlich zu einem Terzett, zunächst in Kanonform, welches ganz besonders heikel ist, da piano, und dabei "flüsternd, aber deutlich" vorzutragen. Hier zeigt es sich, ob der Dirigent die Temperamente der Damenriege zu zügeln, Eigenmächtigkeiten entgegenzuwirken versteht. Am gelungensten ist dies in der Londoner Aufführung Jascha Horensteins, was auch durch die die Sänger in keiner Weise hervorhebende Tontechnik mitbedingt ist. Hier ergibt sich wirklich eine Ausdruckseinheit, die dem erstrebten Tonfall eines "Geflüsters" sehr nahe kommt.

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2. Satz, Terzett 'Die du großen Sünderinnen…'

Joyce Barker, Kerstin Meyer, Helen Watts, London Symphony Orchestra, Jascha Horenstein (live, London, 20.3.1959)

BBC Legends BBCL 4001-7 (LC 10552)

CD 2, Track 10, 3’58-5’32 (Dauer: 1’34); ein- und ausblenden!

Als typisches Beispiel für eine zwar gepflegte, aber nicht zuletzt auch aufgrund der dynamischen Anhebung der Sängerinnen den Charakter viel weniger erfassenden Aufnahme sei der entsprechende Ausschnitt aus der 1986-er Einspielung des London Philharmonic Orchestra unter Klaus Tennstedt zum Vergleich gestellt. Tennstedts Darstellung der Achten ist im Übrigen insgesamt elegant und schwungvoll und tendiert, trotz manch visionär emphatischer Momente, eher zum Leichtgewichtigen.

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2. Satz, Terzett 'Die du großen Sünderinnen…'

Elizabeth Connell, Trudeliese Schmitt, Nadine Denize, London Philharmonic Orchestra, Klaus Tennstedt (London, 4&10/1986)

EMI 572941 2 (LC 6646)

CD 9, Track 9, 3’43-5’29 (Dauer: 1’46); ein- und ausblenden!

Die Musik strebt von nun an in immer lichtere Regionen, entsprechend dem Goetheschen Bild der Szene, in welchem, so Erich Trunz, "die Vertikal-Bewegung besonders betont ist. Allmählich zieht sich die Handlung von den unteren Regionen in die obere." Diesen unablässigen Anstieg in die Regionen des Lichts in Tönen sinnfällig zu machen, ist Mahler mit nicht nachlassendem Einfallsreichtum tatsächlich geglückt, indem stets die nächste erreichte Station eine Überhöhung der vorangehenden zu sein scheint. Von besonderer Innigkeit ist der Auftritt der Mater gloriosa, die die Sündige ruft: "Komm! hebe dich zu höhern Sphären! wenn er dich ahnet, folgt er nach." Diese kurze Passage markiert den Eintritt in die höchste Sphäre, und sie ist in fast jeder Aufführung von ergreifender Schönheit. Ganz besonders berührend, mit schwereloser Intensität, ist sie der zu früh verstorbenen Arleen Auger in Chicago mit Georg Solti gelungen.

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2. Satz, Mater gloriosa: 'Komm! hebe dich zu höhern Sphären!'

Arleen Auger, Wiener Singverein, Chicago Symphony Orchestra, Georg Solti (Wien, 9/1971)

Decca 430804 (LC 0253)

CD 10, Track 8, 4’15-5’13 (Dauer: 0’58); ein- und ausblenden!

Nach dem Auftritt der mater gloriosa stimmt der Doctor marianus seinen auf die Melodie des Pater ecstaticus zurückgehenden, lobpreisenden Hymnus an, den sodann sämtliche Chöre in hymnischem Überschwang weitertragen. Schließlich wird der alles umschlingende Jubel mit der Wiederkehr des Quartenmotivs aus dem ersten Hauptthema des ersten Satzes in einer instrumentalen Überleitung transzendiert zum finalen Chorus mysticus, den schon Franz Liszt, wenngleich weniger ergreifend, als beschließenden Männerchor seiner ansonsten instrumentalen Faust-Symphonie gewählt hatte: "Alles Vergängliche/Ist nur ein Gleichnis;/Das Unzulängliche,/Hier wird’s Ereignis;/Das Unbeschreibliche,/Hier ist’s getan;/Das Ewig-Weibliche/Zieht uns hinan."

Hören Sie jetzt den Übergang von der Lobpreisung zum Chorus mysticus, dessen Melodie dem Hymnus des Pater ecstaticus entstammt, in der strahlkräftigen Aufnahme der New Yorker Philharmoniker unter Leopold Stokowski.

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2. Satz, Übergang zum Chorus mysticus: Ziffer 193 - Ziffer 204

Schola Cantorum, Westminster Choir, New Yorker Philharmoniker, Leopold Stokowski (live, New York, 9.4.1950)

New York Philharmonic Special Editions NYP 9809/10 (LC 07730)

CD 1, Track 9, 4’21 - Track 10, 0’41 (Dauer: 3’07); ein- und ausblenden!

Kein anderer Dirigent hat den ganzen Schluss so intensiv und erfüllend in seiner Gesamtheit zu gestalten vermocht wie Dimitri Mitropoulos kurz vor seinem Tode mit den Wiener Philharmonikern in Salzburg. Ob man dabei der von Mahler symbolmächtig vertonten Goetheschen Botschaft in Gedanken folgen möchte, ist völlig nebensächlich, denn hier spricht die Musik allein für sich selbst. Und auch die Beantwortung der Frage, ob Adorno mit seiner hämischen Bemerkung von der "symbolischen Riesenschwarte" nicht vielleicht doch recht hatte, ist unter solchen Umständen mit einem Mal hinfällig. "In der Regel: ja", möchte man ihm antworten, "aber hier mitnichten". Unter den Händen so großer Taktstock-Exegeten wie Stokowski oder Mitropoulos, aber auch Horenstein und Bernstein, führt Mahlers musikalische Botschaft weit über die Dopplung der Worte hinaus und gibt dem Werk, das sonst so überladen, so überfrachtet in jeder Hinsicht wirkt, seine eigentliche, zeitlose Existenzberechtigung. Es folgt abschließend der vollständige Schluss von Gustav Mahlers Achter Symphonie in der Salzburger Aufführung vom 28. August 1960 unter der Leitung von Dimitri Mitropoulos.

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2. Satz, Schluss

Mimi Coertse, Hilde Zadek, Lucretia West, Ira Malaniuk, Giuseppe Zampieri, Hermann Prey, Otto Edelmann, Wiener Staatsopernchor, Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde, Wiener Sängerknaben, Wiener Philharmoniker, Dimitri Mitropoulos (live, Salzburg, 28.8.1960)

Orfeo C 519992 (LC 8175)

CD 2, Track 9, 2’20 - Track 10, 6’49 (Dauer: 10’17); einblenden!

Sendemanuskript für BR 2 (Redaktion: Attila Csampai);

Produktion: Karlheinz Steinkeller, 24.10.2000;

Erstsendung: 28.10.2000, 20:05 - 22:00, Bayern 2 Radio,

"Interpretationen im Vergleich".

Christoph Schlüren, 10/2000