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Franz Adolf Berwald

Sinfonie singulière (1845) – Die einzigartige Symphonie

Spät erst erkannten die Schweden die künstlerische Bedeutung ihres ersten kompositorischen Originalgenies. Franz Berwald, geboren am 23. Juli 1796 in Stockholm, wurde als Sechzehnjähriger Geiger in der Königlichen Hofkapelle. Ab 1816 ist seine tonsetzerische Tätigkeit belegt. Das Kompositionsstudium dürfte er weitgehend autodidaktisch betrieben haben. Von seinen frühen Werken, die wie fast alles Spätere widersprüchlichste Aufnahme fanden, ist fast nichts erhalten. Der deutschstämmige Berwald lebte ab 1829 in Berlin, wo er sich als Orthopäde über Wasser hielt und einige Erfindungen machte, die von recht dauerhaftem Wert waren. Nachdem er 1841 nach Wien übergesiedelt war, widmete er sich wieder umfassend der Komposition und vollendete in knapp zwei Jahren seine erste Symphonie in g-moll (Sinfonie sérieuse), drei 'Tongemälde' und Teile der Oper Estrella de Soria. Frisch verheiratet kehrte er nach Stockholm zurück, komponierte die Sinfonie capricieuse und versuchte vergeblich, vor der Öffentlichkeit Gehör zu finden. Bis 1846 entstanden zwei weitere Symphonien (Sinfonie singulière, Sinfonie naive in Es), verschiedene 'Tongemälde' und zwei Operetten. Berwald stand im Zenit seines Schaffens. Aber die einzig aufgeführte Symphonie wurde bei der durchweg eisig konservativen Kritik ein gnadenloser Reinfall. So zog Berwald es vor, in anderen Teilen Europas den Erfolg zu suchen, brachte mit Mühe die Mittel für die Reise auf, nachdem sein Ansuchen auf finanzielle Unterstützung vom Hof abgelehnt worden war, und versuchte sich zunächst erfolglos in Paris. Im deutschen Raum waren die Bedingungen günstiger, einzelne Erfolge stellten sich ein, doch geriet er in den unruhigen Zeiten wieder in existentielle Not. Er wollte Musikdirektor an der Universität Uppsala werden, sein Ansinnen wurde jedoch ebenso wie jenes bezüglich der Stockholmer Hofkapellmeisterstelle abschlägig beschieden. 1849 kam er trotzdem nach Schweden zurück und war nun genötigt, bis 1858 jeweils für die Sommermonate die Leitung einer Glashütte zu übernehmen. Im Winter komponierte er in Stockholm, wo in diesen Jahren der überwiegende Teil seiner Kammermusik entstand. Nach dem Bankrott des Unternehmens wechselte er die Hütte. Dann errichtete er für einige Jahre eine Ziegelei, um sich endlich ganz in den Dienst des Komponierens stellen zu können. Die Wende zu einem gewissen Erfolg kam spät. 1862 fand die erfolgreiche Uraufführung der Oper Estrella de Soria statt, 1864 wurde er zum Mitglied der Königlichen Musikakademie gewählt. Er erhielt staatliche Kompositionsaufträge und wurde 1867, allen erbitterten Widerständen zum Trotz, Kompositionsprofessor am Stockholmer Konservatorium. Am 3. April 1868 starb Franz Berwald über der Arbeit an der Neuharmonisierung des Schwedischen Choralbuchs.

Berwalds Symphonien und späte Kammermusik tragen persönliche stilistische Züge höchster Originalität. Der Mangel an Erfolg zu Lebzeiten mochte auch mit der äußerst heiklen und virtuosen Führung der Streicherpartien zusammenhängen – nur exzeptionelle Musikanten können diesen Klippenritten schwindelfrei Natürlichkeit verleihen und ungezwungenen Fluß abgewinnen. Schon der frühe Berwald zeigte unverwechselbares Profil. Ein besonderes Signum seiner formalen Konzeption ist die Hereinnahme des Scherzos in den Adagio-Rahmen: in der Sinfonie sérieuse angedeutet, in der Sinfonie singulière voll ausgeführt – doch schon viel früher, im Grand Septuor von 1828, hat Berwald diesen Plan exemplarisch durchgeführt. In den schnellen Sätzen besticht er durch rhythmische Extravaganz und harmonische Kühnheit, filigranen Kontrapunkt und kleingliedrig sequenzierende, oft überraschend geführte Melodik. Echte Größe beweist er in der erfüllten Schlichtheit und heiteren Ruhe seiner Adagio-Sätze, die trotz der Ferne zu jeglicher Überladung extrem breite Tempi vertragen, ja geradezu einfordern, um ihren idyllischen Charakter entfalten zu können.

Bei aller Wildheit und Emphase seines Naturells war Franz Berwalds Formbeherrschung außergewöhnlich. Man könnte Berwalds Position zwischen Schubert und Berlioz lokalisieren, wäre nicht sein eigener Anteil unüberhörbar. Manchmal nahm er bereits das vorweg, was später als "nordischer Ton" um die Welt geisterte, und einige Male – so im Adagio seines Septetts – antizipierte er die Brahmssche Tonwelt. Franz Berwalds den Tagesmoden enthobener Ausdrucksbedarf mußte den Zeitgenossen wohl ein unlösbares Rätsel sein – für uns sind seine Werke von umso größerem Interesse.

 

 

Sinfonie singulière

I Allegro fuocoso
II Adagio – Scherzo. Allegro assai – Adagio
III Finale. Presto

Berwalds dritte Symphonie, die Sinfonie singulière in C-Dur, entstand 1845 in Stockholm. Berwald scheint – nach der desaströsen Resonanz auf seine Sinfonie sérieuse zwei Jahre zuvor – nicht einmal versucht zu haben, das neue Werk zur Aufführung zu bringen. Erst sechzig Jahre nach der Entstehung leitete Tor Aulin am 10. Januar 1905 in einer Veranstaltung der Konsertföreningen im großen Saal der Musikaliska Akademien in Stockholm die Uraufführung. Seither ist die Sinfonie singulière zu Berwalds beliebtestem, meistgespieltem sinfonischen Werk geworden.

Was ist so einzigartig an diesem Werk, das ja schon die Einzigartigkeit im Titel führt? Die Sinfonie singulière hat vom ersten Augenblick an einen geheimnisvoll introvertierten und zugleich leichtfüßigen Zauber, der zwar oft und vehement vom bizarr hochfahrenden Temperament geschüttelt und verscheucht wird, aber immer wieder sich in Schlüsselmomenten einstellt. Und wie am Ende eines Satzes der Eingangstonfall wie magisch zurückkehrt: am Schluß des ersten Satzes, dem freilich ein geradezu komischer Fortissimo-Nachsatz draufgesetzt wird, und vor allem am Ende des Adagios. Faszinierend modern sind die statisch beharrenden Tendenzen, die, wenn zwei verschiedene Elemente diesen gehorchen und miteinander in Konflikt geraten, bereits auf die für Nielsen so typische Kollision unvereinbarer Gegensätze vorausweisen. Der Kopfsatz gehört zu den rhythmisch delikatesten, ungemütlichsten Übungen der symphonischen Literatur, vor allem in den verwickelten triolischen Varianten mit der geforderten federleichten Ausführung. Der langsame Satz ist mit dem Scherzo in der Mitte von revolutionärer Anlage. Der Kontrast zwischen dem friedvoll schwebenden Adagio und dem turbulent dahintreibenden Scherzo könnte extremer nicht sein. Doch auch die Forte-Einwürfe der ersten Geigen davor und bei der Wiederaufnahme des langsamen Tempos sind untergründige Vorboten von Carl Nielsens befremdlich visionärem Geist. Das mechanistische Ermüden des Scherzos, überhaupt das ständige Spiel mit mechanistischen Tendenzen in Wiederholungen und Sequenzen und ihrer Auffrischung mittels unerwarteter Einschübe, Wendungen, Abbrüche, das ist zukunftsweisend und erschien seinen Zeitgenossen verständlicherweise wirr und ungenießbar. Im stürmischen Finale mit seinem rhythmisch so herrlich sperrigen Hauptthema kommt plötzlich das Adagio wieder, in das Presto-Metrum in breiten Werten integriert, bevor der Satz zu seiner eigenen Welt zurückfindet. Die Sinfonie singulière ist, sowohl was ihre äußerlichen Merkmale angeht als auch bezüglich der musikalischen Innenwelt, einzigartig. Dies erkannte Berwald und machte es zum Programm.

Christoph Schlüren

(Einführungstext für Konzerthaus Wien 1998)