Xenakis zwischen Orff und VarèseUraufführung der 'Procession aux eaux claires' |
München. Ferner denn je einem Eintagsfliegenphänomen ist der seit Jahren anhaltende Erfolg der Musica-viva-Reihe des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks situiert, der bisweilen keineswegs nur Münchner Fans der Neuen Musik anzieht. So war auch die jüngste Veranstaltung hoffnungslos ausverkauft und hatte eine Sensation zu bieten: Erstmals waren jene drei frühen, 1952-54 komponierten Werke von Iannis Xenakis gemeinsam zu hören, die er als 'Anastenaria'-Zyklus plante. 'Anastenaria' ist ein uralter griechischer Dorfkult mit Prozession, barfüßigem Tanz auf glühenden Holzkohlen und blutigem Stieropfer in der Kirche. Freilich heißt bei Xenakis bereits der zweite Satz 'Le Sacrifice', und der unhaltbar aus der Sphäre des Zyklus heraustretende dritte Satz ist die bekannte 'Metastaseis', mit der Xenakis Name als Bahnbrecher einer clustergeladenen Glissando-Moderne bekannt wurde. Es ist frappierend, nun erstmals die schwindelerregende Stilentwicklung des jungen Xenakis verfolgen zu können. Die hier uraufgeführte 'Procession aux eaux claires' ist für schlagzeuglastiges Orchester und zwei antiphonisch aufgestellte Chöre geschrieben, der eine ein Männer-, der andere ein gemischter Chor. Man konnte nur staunen, wie unbeweglich tonal diese Musik ist. Sie verdankt die entscheidenden Anregungen zur primitiv-orgiastischen, primär rhythmischen Klangentfaltung Strawinskijs 'Les noces', wobei es immer wieder scheint, als knüpfe Xenakis direkt an Carl Orff an. Er verwendet liturgische Monodie, schichtet die Melodik roh übereinander und lässt die ritualhafte Szenerie zum Schluß üppig aufgipfeln. Die Wirkung wäre trefflicher gewesen, hätte der sehr kompetente, geistesgegenwärtige Dirigent Charles Zacharie Bornstein die Schlagzeuger zu mehr Mäßigung angehalten, um das übrige Orchester deutlicher vernehmbar zu machen und insbesondere die tief gesetzten Chorpartien in ihr Recht zu setzen. Anschließend kam 'Le Sacrifice'
in deutscher Erstaufführung, und die stilistische Nähe
zu Edgard Varèses vorangeschickten 'Déserts' wurde
programmatisch unterstrichen harsch, widerhakig, "ungefühlig".
Welch ein Sprung zwischen den beiden ersten Sätzen, und ein
nicht geringerer Abstand trennt 'Metastaseis' vom Vorhergehenden,
indem Xenakis jegliche tonal-polyphone Überlieferung endgültig
über Bord geworfen hat. Allerdings lässt sich auch hier
eine feinere, detailgerechtere Einstudierung denken. von Christoph Schlüren |