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Direttissima-Musik

Hundert Komma Null von Iris ter Schiphorst

München. Das vierte Musica viva-Konzert dieser Saison mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks überraschte die Hörer mit vitaler, relativ leichter Kost, die weitgehend vortrefflich serviert wurde. Großen Anteil daran hatte der in England sehr angesehene, hierzulande weniger bekannte Dirigent Martyn Brabbins. Es war eine Wonne, wie er John Adams’ beschließenden Foxtrot für Orchester The Chairman Dances aufs Natürlichste zum Swingen brachte, das Charmante, farbig Funkelnde, Wohlklingende auskosten ließ, kurzum: Das sanfte Reizspektrum der amüsanten Partitur schwang ungezwungen aus und erfüllte die kommunikative Funktion. Den gelegentlichen rhythmischen Schwächen im Orchester begegnete er gelassen, ohne Härte – zweifelsohne die rechte Reaktion, denn diese augenzwinkernde, bisweilen nostalgische Musik muß tänzerisch federnd bleiben statt ins leblos Maschinenhafte abzustürzen. Besonders fein und in aller Luzidität ausgehört gelang die Darbietung von György Ligetis Soundscape-Klassiker Lontano, wo denn auch die lange Stille am Schluß bezwingend wirkte. Zu Beginn war die 1980 aus Marco Polos Berichten inspirierte Streichorchester-Exploration Zipangu vom frühverstorbenen Claude Vivier (1948-83) zu hören, in welcher Wohlklang und noble Melodie mit ihrer Zerkratzung und Zersplitterung konfrontiert werden wie vor einem zertrümmerten Spiegel. Um dem
Mit Spannung wurde die erste Orchesterkomposition von Iris ter Schiphorst erwartet. Die 1956 in Hamburg geborene Autodidaktin ist bisher vor allem als Partnerkomponistin des Berliners Helmut Oehring bekannt geworden. Ihre musikalischen Wurzeln liegen in der avancierten Rockmusik, und die Verwandtschaft des neuen Werks mit dem ultimativen Titel Hundert Komma Null zum Art Rock bester Tage (King Crimson, Univers Zero) ist unüberhörbar in den drei Abschnitten Maschine A, B und C. Das dreiteilige Werk wurde angeregt von

einem Anagramm (Das Leben ist schrecklich) von Unica Zürn und untergliedert sich in drei "Strophen", durchsetzt von drei "Maschinen" und endend mit einem "Refrain". Im Ganzen herrscht hohe formale Bewußtheit, und gegen Ende werden die Bezüge zum Beginnen besonders offenkundig. Die "Strophen" umgibt die Aura des spröde Innigen, des geradewegs antisentimental artikulierten Lamentos mit Spinnweben-Melos, tastend und brüchig, beißend dürrem Gewimmer, Ausmaß des Kontrasts gerecht zu werden und damit die Länge des Stücks zu rechtfertigen, hätten die harschen Seiten radikalerer Umsetzung bedurft. Denn wenn diese Musik zu sehr auf der schönen Seite bleibt, trägt die intervallische Substanz allein nicht sehr weit. Es bleibt dann anscheinend bei eigenwilligen Ansätzen, die nicht zu Ende geführt scheinen. Zwitterwesen aus Vibrato und Glissando. Brachial fährt die Maschinenwelt dazwischen, das Orchester mutiert zum gleißend- draufgängerischen Kollektiv-Metallophon in fantastisch peitschender, schrill sonorer, frappant stimmiger Instrumentation. Ter Schiphorst baut ihre Formteile – auch dies Zeichen unverbrüchlicher Art-Rock-Affinität – vorzugsweise über strukturellen Versatzstücken, alla passacaglia oder in Ostinati, auf. Es ist Direttissima-Musik, hochfahrend lebenslustig und todesfreudig, unmittelbar wirkend, bei allen instrumentalen Tricks und Extravaganzen nicht die Spur toten Papiers, was die packende Aufführung unterstrich. Das Leben ist schrecklich – aufregend. Und Hundert Komma Null eigentlich ein bewegender Roadmovie fürs Konzertpublikum, und nach diesem Einstand muß Iris ter Schiphorst als eine der vielversprechenden Gestalten im Dschungel mitteleuropäischer Orchesterkomposition gelten.

von Christoph Schlüren