Direttissima-MusikHundert Komma Null von Iris ter Schiphorst |
München. Das vierte Musica viva-Konzert dieser Saison mit dem Symphonieorchester
des Bayerischen Rundfunks überraschte die Hörer mit vitaler,
relativ leichter Kost, die weitgehend vortrefflich serviert wurde.
Großen Anteil daran hatte der in England sehr angesehene,
hierzulande weniger bekannte Dirigent Martyn Brabbins. Es war eine
Wonne, wie er John Adams beschließenden Foxtrot für
Orchester The Chairman Dances aufs Natürlichste zum Swingen
brachte, das Charmante, farbig Funkelnde, Wohlklingende auskosten
ließ, kurzum: Das sanfte Reizspektrum der amüsanten Partitur
schwang ungezwungen aus und erfüllte die kommunikative Funktion.
Den gelegentlichen rhythmischen Schwächen im Orchester begegnete
er gelassen, ohne Härte zweifelsohne die rechte Reaktion,
denn diese augenzwinkernde, bisweilen nostalgische Musik muß
tänzerisch federnd bleiben statt ins leblos Maschinenhafte
abzustürzen. Besonders fein und in aller Luzidität ausgehört
gelang die Darbietung von György Ligetis Soundscape-Klassiker
Lontano, wo denn auch die lange Stille am Schluß bezwingend
wirkte. Zu Beginn war die 1980 aus Marco Polos Berichten inspirierte
Streichorchester-Exploration Zipangu vom frühverstorbenen Claude
Vivier (1948-83) zu hören, in welcher Wohlklang und noble Melodie
mit ihrer Zerkratzung und Zersplitterung konfrontiert werden wie
vor einem zertrümmerten Spiegel. Um dem einem Anagramm (Das Leben ist schrecklich) von Unica Zürn und untergliedert sich in drei "Strophen", durchsetzt von drei "Maschinen" und endend mit einem "Refrain". Im Ganzen herrscht hohe formale Bewußtheit, und gegen Ende werden die Bezüge zum Beginnen besonders offenkundig. Die "Strophen" umgibt die Aura des spröde Innigen, des geradewegs antisentimental artikulierten Lamentos mit Spinnweben-Melos, tastend und brüchig, beißend dürrem Gewimmer, Ausmaß des Kontrasts gerecht zu werden und damit die Länge des Stücks zu rechtfertigen, hätten die harschen Seiten radikalerer Umsetzung bedurft. Denn wenn diese Musik zu sehr auf der schönen Seite bleibt, trägt die intervallische Substanz allein nicht sehr weit. Es bleibt dann anscheinend bei eigenwilligen Ansätzen, die nicht zu Ende geführt scheinen. Zwitterwesen aus Vibrato und Glissando. Brachial fährt die Maschinenwelt dazwischen, das Orchester mutiert zum gleißend- draufgängerischen Kollektiv-Metallophon in fantastisch peitschender, schrill sonorer, frappant stimmiger Instrumentation. Ter Schiphorst baut ihre Formteile auch dies Zeichen unverbrüchlicher Art-Rock-Affinität vorzugsweise über strukturellen Versatzstücken, alla passacaglia oder in Ostinati, auf. Es ist Direttissima-Musik, hochfahrend lebenslustig und todesfreudig, unmittelbar wirkend, bei allen instrumentalen Tricks und Extravaganzen nicht die Spur toten Papiers, was die packende Aufführung unterstrich. Das Leben ist schrecklich aufregend. Und Hundert Komma Null eigentlich ein bewegender Roadmovie fürs Konzertpublikum, und nach diesem Einstand muß Iris ter Schiphorst als eine der vielversprechenden Gestalten im Dschungel mitteleuropäischer Orchesterkomposition gelten. von Christoph Schlüren |