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Geschlechtsloses und Waldeinsamkeit

Zwei Uraufführungen bei der Münchner musica viva

Die musica viva-Reihe des Bayerischen Rundfunks hat einen deutlich gesteigerten Publikumszuspruch zu verzeichnen, seit Udo Zimmermann mit Beginn dieser Saison die künstlerische Leitung übernahm. Lange Schlangen an der Abendkasse sind in München sonst nicht gerade üblich, wenn es um zeitgenössische Musik geht. Das dritte Konzert der Saison richtete die Ohren in die westliche Welt: Neben Uraufführungen von Chris Newman und Kevin Volans gab es (zum hundertsten Geburtstag) Henry Cowell und Iannis Xenakis.
Was wäre eine Symphonie heute? Eine solche wie die Zweite von Chris Newman? Eine fast zwanzig Minuten in ihren Ausgangsmustern verharrende, geschlechtslose Musik ohne Ausdruck, ohne Psychologie, ohne Dramaturgie. Und von simpler Struktur: Banal rhythmisierte Repetierklänge, in denen sich meist nur einstimmige oder parallele Stimmbewegung ohne Kontrapunkt ereignet, die ein bißchen im Orchester wandert. Das geriet sehr langweilig, auch weil Marek Janowskis Dirigat nicht den geringsten Ansatz tänzerischen Federns vermittelte. So schlecht ist Newmans Musik nicht, wie sie hier war. Gerade indem es ihm darum geht, die "Wahrnehmung der Wahrnehmung" (!) zu vermitteln, ist eine so lieblose, gelangweilte Aufführung fatal. Newman erntete muffige Buhs und wurde nicht nach vorne gerufen.
Auch der in Irland lebende Südafrikaner Kevin Volans konnte mit der Aufführung seines heiklen, wenn auch fürs Orchester nicht besonders schwierigen Cellokonzerts nicht zufrieden sein. Zwar spielte Solist Wen-Sinn Yang fulminant und sensibel auf, doch oft genug hinkte das Orchester nach, und in den zwei einzigen Fortissimo-Ausbrüchen verwischten die Hochgeschwindigkeitspatterns zur Unkenntlichkeit. Volans schrieb zuerst ein Solocello-Stück, das exakt identisch ist mit dem Solopart des Konzerts. Dann schnitt er es durch und erhielt zwei Sätze, die er nun mit dem kleinen Orchester garnierte. Das Werk hat auf diese Weise über längere Abschnitt eine lineare Energie, die für Volans eher ungewöhnlich ist. Der zweite Satz entwickelt

gar eine faßliche Formpsychologie, die ihren leisen Höhepunkt hat: ein einsamer Gesang, ein Moment knospender Romantik, so etwas wie "Waldeinsamkeit". Doch ist Volans' Sprache dadurch keine andere. Er hat die afrikanischen Einflüsse, die er seit dem Studium in Köln begierig aufnahm, transzendiert. Er muß nicht aus dem Folklorefundus zitieren, sondern schreibt eine kosmopolitische Personalfolklore. Für Volans ist Morton Feldman der größte Komponist der zweiten Jahrhunderthälfte, und es ist anzunehmen, daß auch er die Utopie verwirklichen möchte, anhaltende klangliche Konzentration jenseits persönlichen Ausdrucks zu erzeugen. Gelingt das, kann man gewiß neue Welten öffnen.
Sichere Ernte bot das übrige Programm. Henry Cowells Klavierkonzert ist unverkennbar ein Zeitdokument der zwanziger Jahre in Amerika. Und doch tönt da so viel skurrile Verstiegenheit durch die offenkundig revolutionären Strukturprogramme der drei Sätze: Polyharmony, Tone Cluster und Counter-Rhythm. Nach wie vor originell, vital und intelligent wirkt dieser Avantgardezirkus von einst mit Cluster-Slapsticks und rhythmischen Querständen. Stefan Litwin durfte sich als Ultravirtuose profilieren. Marek Janowski hingegen überzeugte einzig in Xenakis’ vielschichtigem Jonchaies, in jener Musik mithin, deren Metrik additiv organisiert ist und die vom Dirigenten nicht musikantisch sich übertragende Qualitäten fordert, sondern einzig rigide Kontrolle über die eigendynamischen Regungen des Materials.

von Christoph Schlüren