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Münchner Musiktheater-Biennale 1999

Zeit für die Zeitenwende im Musiktheater?

Einheitlichere Fragenkomplexe als die vorangegangenen Jahre warf die diesjährige zweite Halbzeit der 6. Münchner Musiktheater-Biennale auf. Das Stockhausen entwendete Motto …wie die Zeit vergeht ließ zwar immensen Spielraum, was sicherlich intendiert war; in seiner scheinbar x-beliebigen Auslegbarkeit schien es manchen Beobachtern ungeignet, ja trivial. Doch die im voraus nicht absehbaren Resultate – die drei Uraufführungen – offenbarten einen dialogfördernden Umgang mit der Aufgabenstellung. Ganz entscheidend hierbei ist die ästhetische Ausrichtung des künstlerischen Leiters Peter Ruzicka selbst. Fast könnte man das Dargebotene in seinen Aspekten des fruchtbar Erneuernden wie des kläglich Scheiternden als Probelauf für die weitere Entstehung seines eigenen bevorstehenden magnum opus, einer für den 20. April 2001 in Dresden zur Uraufführung anstehenden Celan-"Oper", mitbegreifen. Ruzickas Vision umfaßt ein tönendes Theater, das sich dem linearen Erzählen, der unmittelbar handgreiflichen Handlung verweigert zugunsten einer assoziativen Verflechtung unterschiedlicher Ebenen und Schichten des Bewußtseins, des realen Raums, der Zeitdimension. Schwer oder eigentlich unmöglich zu erklären, zu fixieren, was damit konkret gemeint sei. Geht es doch gewissermaßen um die Erneuerung des originär Künstlerischen schlechthin, mithin Sichtbarmachung des Unsichtbaren, womöglich Hörbarmachung des Unhörbaren, gewiß Vorstellen des Unvorstellbaren. Solche Suche entsteht aus der immer drängender aktualisierenden Unvereinbarkeit von dialektischem Diskurs und monistischer Unbeirrbarkeit in der Kunst. Die Welt: außer Balance. Der Künstler, welcher dazu in der Lage ist, kann eine Gegenwelt schaffen, die sich in Balance bringt und hält. Oder er kann über die Zerrissenheit der umgebenden Welt reflektieren, sie in kreative Brechung bringen mit seinem zerrissenen Inneren. In der Regel wird er zwischen den Polen oszillieren. Unfreiwillig. Das Zerbrechen einer unmittelbar verfolgbaren Handlungsebene jedoch ist ein freiwilliger Schritt, ein gezieltes Bekenntnis zur Zerklüftung der äußerlich realen Welt und deren gebrochenem Widerhall im Einzelnen. Und zugleich eine Befreiung aus deren Zwängen. Der Ablauf des Geschehens wird nicht mehr erzählt. Da Erzählung aber auf der bewußten Ebene unsere alltägliche Erfahrung dominiert, bedarf es zur fruchtbringenden Zerschlagung dieser normalen Vermittlungsmethode der Aktivierung der unbewußten Dimension. Letztere kennt keine Logik, ist durchsetzt von unvermittelbar individuellen Prägungen, die paradoxerweise mit vermittelbar kollektiven Empfindungen korrelieren. Es müßte also funktionieren können, einen Zugang zu legen, der den Theaterbesucher mehr oder weniger direkt anspricht, ohne ihm eine Logik in der Sukzessivität zu offerieren, ja zu ermöglichen. Ein Anspruch, den einzulösen kein Weg gewiesen ist, wo kein Weg gangbar gemacht werden soll. Das neue Musiktheater auf weglosen Wegen in unkünftige Zukünfte. Wie erfüllen? Welche musikalische Sprache kann das einlösen? Würde es genügen, dem non-narrativ konzipierten Libretto zu entsprechen mit einer auf immanente Entfremdung eingestellten Klangwelt? So jedenfalls handelte keiner der drei Komponisten, die auf ihrer Expedition durch die unendlichen Weiten des Mottos der scheinbar unumschränkten Herrschaft des Narrativen zu entrinnen suchten. Im Gegenteil. Die Musik aller drei ist bemüht um Verflüssigung. Auf sehr verschiedenartige Weise und mit ungleichem Erfolg.
Am unverblümtesten um das Motto kreiste der Beitrag der 1956 in Hamburg geborenen, u. a. bei György Ligeti ausgebildeten Babette Koblenz RECHERCHE. Über die Substanz der Zeit. Ein Marseiller Filmteam gerät bei der Sichtung dokumentarischer Materialien in rückläufige Zeitschächte. Auf der anderen Seite von Zeit und Wirklichkeit weist am Rand des Hades der Seher Teiresias Odysseus den Weg in die Zukunft und schickt ihn damit auf die Reise in geschichtliche Realität. Es kommt zur zeitüberbrückenden Überschneidung der mythischen und tatsächlichen Welt anhand der Vertreibung der sephardischen Juden aus Spanien 1492 und des spanischen Bürgerkriegs, inmitten realgeschichtlicher Odysseen. Die Rede ist von einer "Polyphonie der Zeitschichten", ergänzt durch eine "geradezu babylonische Sprachenpolyphonie", wobei das in konzeptioneller Zusammenarbeit mit Hans-Christian von Dadelsen erstellte Libretto den Großteil der Textbruchstücke in den Herkunftssprachen verwendet, also auf hebräisch, altgriechisch, französisch, spanisch, englisch und (ein wenig) deutsch – laut Kompinistin gibt es "einen minimalen sprachlichen Bedeutungsgehalt, den der Hörer erfaßt haben muß, um die jeweilige Szene zu verstehen" – die Stimmen erhebt. Kompositorisch korrespondieren diese Verfahren mit verschiedenen Stilschichten sowie – und das ist die große Stärke von Babette Koblenz – polymetrischer Faktur. Als durchaus musikantische Komponistin sind ihr Reggae und andere ethnisch verankerte Musikkulturen, Pop und amerikanische Minimal music gleichwertige Materialien, die sie in der Manier einer Teppichweberin zu einem bunten Miteinander verknüpft. Belebendes Element in der improvisatorisch fein ziselierten, in der Summe der zerbrechlichen Details virtuos gehaltenen Partitur ist die nie versiegende rhythmische Quelle. Dem steht eine gewisse Monotonie des Harmonischen entgegen. In der beständigen relaxten Aktivität schreibt Babette Koblenz kaum die Vorgänge suggestiv steuernde, theaterwirksame Musik. Eher ist das anspruchsvolle Begleitmusik, die der Art und Intensität der Handlungsattacke breiten Spielraum einräumt. Die Musik tendiert also, ganz natürlich in den Hintergrund zu treten zugunsten des eigentlichen Theaters. Dieses freilich wäre dann eine umso anspruchsvollere Aufgabe, die mit Wander-Leuchtbuchstaben-Verdeutlichungsstrategie, auf cool unbeteiligt und leidenschaftslos gestylter, zum Ende hin immer personalüberfrachteterer, hektisch infantiler Dekorationsstrategie und viel aufgewärmten Kindergarteneffekten mehr als unerfüllt blieb. Regisseur und Bühnenbildner Gottfried Pilz betätigte sich als skrupellos aufhäufender Ausstaffierer statt sinnfällig lenkend einzugreifen und hinterließ ein maßlos kontraproduktives Wirrwarr. Die Repertoiretauglichkeit von Babette Koblenz’ Recherche bleibt daher zunächst unprognostizierbar.
Anders De Amore, ein Versuch über die Liebe – oder was man so nennt – aus Musik von Mauricio Sotelo und Texthülsen von Peter Mussbach. Mussbach, zunächst "nur" für Inszenierung und Bühne vorgesehen, sprang als Librettist bei, als Not am Mann war. Er setzt in dieser Revue "prototypischer Situationen einer Liebesbeziehung" gezielt auf banale Typisierung, triviale Standards. "Er" und "Sie" im leeren Raum – zwischen Epilog auf die vorhergehende und Prolog auf die nächste Affäre –, den sie – im Wechsel mit zwei kommentierend-beratenden Cantaoras (Flamenco-Tänzerinnen) – im Dienste des vorübergehend gemeinsam vollzogenen Egotrips mit der inneren Leere anonymer Begehrlichkeit füllen. Mussbach versuchte als Librettist, der Musik "zu ihrer Eigenart zu verhelfen". Ein Verfahren, das fraglos Eigenart voraussetzte.

Die musikalische Substanz beim 1961 geborenen Mauricio Sotelo ist dünn. Begabt ist der Spanier im Dekorativen, in der klangsinnlichen, elektronisch gestützten Ausbreitung des Wenigen, das so viel mehr sein möchte. Die Hereinnahme von Flamenco-Elementen soll nicht folkloristisch sein, ist aber – sehr gleitfähig collagiert – folkloristisch. Die musikalische Form des Werks ist palindromisch, woraus Mussbach die Idee der "Liebe" ableitete, in der Annahme der palindromischen Kontur "einer ganz konkreten Liebesgeschichte in ihrem prototypischen Verlauf: von der ersten Begegnung über die Vereinigung bis zum Auseinandergehen". Dramaturgisch ist die palindromische Form in der Plansollerfüllung der ständigen Aneinanderreihung kurzer Nummern allerdings immer ermüdender, zumal der Fortgang völlig vorhersehbar ist. Die Zeitidee ist eine zyklische: déjà-vu, und so fort – viel beschworene Bedeutung, wenig Erfüllung. Doch hier, wo die Musik wenig ergiebig und ohne finalisierende Energie, der Text in Stilisierung des Alltäglichen nebeneinanderherspazieren, wird die Blässe zum Kunstwerk gemildert, gerettet durch Mussbachs instinktsichere, pathetische Personenführung auf archaisch auseinanderstrebender Bühne, exzellent plastisch und farbintensiv ausgeleuchtet.
Der dritte Beitrag: Wenn die Zeit über die Ufer tritt vom 1955 geborenen, im Moskauer Neue-Musik-Leben entscheidend aktiven Ukrainer Vladimir Tarnopolski. Das Libretto Ralph Günther Mohnnaus, dessen extrovertiert zur Schau getragene Abneigung gegen den Anachronismus in Gestalt des Narrativen nicht frei scheint von Zeitgeist-Konzessionen, ist eine freie Phantasie via Zukunft, ausgehend von Tschechows "Drei Schwestern". Der erste Akt spielt 1899, vor der Jahrhundertwende; der zweite 1999, an der Schwelle zum neuen Jahrtausend; der dritte, in näher nicht bestimmter, relativ naher Zukunft, ist ein suizidales morituri te salutant – Leben hat keinen Sinn mehr, jeder ist autark monadisiert, es ist höchste Zeit, Abschied zu nehmen. Wobei auch dieser Abschied seine Vermittelbarkeit eingebüßt hat. 1899: gesangliche Linie, Dialog, Verwebung, Belcanto. 1999: Kürzung der Mittel, Reduktion des Sprachschatzes, Degeneration des Polyphonen, Rock und Minimal music. Das Zukunftsszenario: Zerhackte Silben, Stagnation, Verharrung, Geräusch schluckt den Klang. Die musikalische Umsetzung dieses Plans ist fesselnd geraten. Sicher, die Stilmittel als solche sind nicht neu. Aber ihre graduelle Überführung von der post-expressionistischen Gebärde hin zur finalen Geräuschkulisse verliert die Sogkraft nicht – nicht zuletzt dank Tarnopolskis vorzüglicher handwerklicher Basis. Und er ist in der Lage, jene Idee einer umfassenden "Euphonie" musikalisch umzusetzen, die das Spektrum des Wohlklingenden weitet von der klassischen Konsonanz über das Auskosten der Dissonanz – auch der schärfsten – bis hin zur Integration des Geräuschs: alles ein graduelles Übergehen, keine unvereinbaren Gegensätze. Die ganze Welt der akustisch wahrnehmbaren Erscheinungen als selbstbezogenes System. Peer Boysens Inszenierung hatte, bei aller Originalität vor allem der die Akte umrahmenden Szenerie und trotz einiger überflüssiger szenischer Garnierung, die Bescheidenheit, sich in den Dienst eines funktionierenden Ganzen zu stellen – geht es doch darum, durchaus Hauptsache zu sein, dies aber in Übereinstimmung mit unverrückbaren Konditionen. Was umso mehr zu goutieren ist anhand der Tatsache, daß der Komponist erst in der letzten Probenphase mit der Komposition des dritten Akts fertig wurde. Kein Wunder hingegen, daß das Timing dieses Akts nicht ganz stimmig schien. Tarnopolskis Musik ist durchaus soghaft, spricht zum Hörer fast ebenso bewußt wie sie ihn unbewußt mitzureißen vermag. Er hat betont, daß es ihm in den drei Akten gar nicht so sehr auf das zeitlich Sukzessive ankommt, sondern vielmehr auf das Nebeneinander verschiedener Handlungs- und Empfindungsebenen und -qualitäten. Also nicht nur Wenn die Zeit über die Ufer tritt, sondern auch Wenn die Zeit aus dem Ruder läuft. Viel intellektuelle Winkelmitvollzüge setzt das Hören seiner Oper nicht voraus, und das hat er denen voraus, die glauben, in einem multimedialen Genre vor dem Publikum beliebig durcheinandergeschichtete, komplexe Bezugssysteme übereinandertürmen zu können, ohne daß dieses sie ganz einfach nicht versteht. Wieviel stärker vermögen doch einige wenige eindeutige Wirkungen zu sein. Was bleibt, ist nicht nur eine Frage des Kalküls.
Höhepunkt der Biennale war übrigens ein Werk, das mit Musiktheater überhaupt nichts zu tun hat, mit dem Zeit-Motto hingegen unmißverständlich übereinklang: die 1970 komponierte Neunte Symphonie von dem Schweden Allan Pettersson (1911-80), einem der ganz großen Komponisten des nunmehr ausklingenden zwanzigsten Jahrhunderts. Mit Zeitgeist, mit Trends, mit außermusikalischen Verlegenheiten hat seine Musik keine Berührungspunkte. Es geht in ihr um die Grundfrage der Existenz, um die durch keine Macht und Ohnmacht dieser Welt zu zerstörende Vitalität, um den Triumph des Seins über den Schein. Mit rein musikalischen Mitteln, in – physikalisch ausgedrückt – 75 Minuten in einem Satz, mit hohem identifikatorischen, leidenschaftlich klangprächtigem Einsatz der Münchner Philharmoniker unter dem imposant akkuraten Gerd Albrecht. Die Zeit vergeht in dieser Symphonie, ohne daß man es merkte. Mithin: Sie vergeht nicht – subjektiv –, sondern dehnt sich zum ewigen Augenblick. Für wen? Nicht für die, welche sich auf die Katharsis nicht einlassen können oder wollen. Die verlassen recht zahlreich während der Aufführung den Saal, ein wenig, als gälte es, dem untersten Deck der sinkenden Titanic zu entkommen. Für jene, die sich der Musik hingaben, war solches Verhalten vielleicht unverständlich (unanständig sowieso). Aber vielleicht hat Pettersson hier ja auch so etwas komponiert wie eine Vertreibung der Geldwechsler aus dem Tempel? Und wer hielte schon das Geldwechseln für eine schmutzige Angelegenheit? Wie die Zeit vergeht… Zweitausend Jahre – ein Nichts.

Christoph Schlüren