Für kritische Beobachter warf der Schlußabschnitt der Münchner
Musiktheater-Biennale '96/97 jetzt im April sicherlich mehr Fragen
auf als er beantwortete. Wer sich bisher eifrig um die Zukunft der
Oper sorgte, wird auch weiter in hehrer Ungewißheit leben
müssen. Waren doch wiederum beide Hauptwerke nicht von solch
überzeugendem dramaturgischen Zuschnitt, um allzu positive
Prognosen für ihr Überleben auf den Bühnen der Welt
stellen zu können. Dabei war das Qualitätsgefälle
enorm.
Viele hatten von Moritz Eggert einen "großen Wurf"
erwartet. Er blieb aus. Eggert, aufstrebender 'Hämmerklavier'-Star
der Münchner Szene, ist einer von jenen jungen Möchteleuchtern,
die die Probleme und Krisen der publikumsfernen Avantgarde eher
als Exotismen betrachten. Daß er selbst jedoch nicht jenseits
sprachlicher Schwierigkeiten operiert, sie umgeht anstatt sie zu
überwinden, das hörte man den vollmundig-wahllosen Längen
seiner 1001-Nacht-Überraschungsbonbonpackung "Helle Nächte"
fast durchgehend an: Tonsatztourismus, der die Parklücke zwischen
Louis Andriessen und Wilhelm Killmayer aufsucht, dabei wenig riskiert
und noch weniger gewinnt; ein Komponist, der gerne darüber
redet, daß seine Musik nicht erklärt werden muß,
dessen Musik jedoch auf der Stelle klebt, kaum einmal Schwung einkehren
läßt. Handwerkliche Schwächen sind überdies
nicht wegzudiskutieren: Das mit 33 Solisten an teilweise im klassischen
Orchester unüblichen Instrumenten besetzte Ensemble wird ständig
zum Sand im Getriebe der Textverständlichkeit. Die Instrumentalisten
sollten wohl die Gesangsstimmen verdoppeln, in Wirklichkeit aber
hörte man Trompete oder Euphonium mit Begleitung eines verdeckten
Sängers. Die Musik kam also weder vom Fleck noch half sie dem
Erzählstoff auf die Beine. Librettist Helmut Krausser führte
mit der kruden Verknüpfung von realistischer Knud Hamsun-Rahmenhandlung
und orientalischen Märchenwelten Elemente unfreiwilliger Komik
ein, und die kunterbunte Inszenierung Tilman Knabes funktionierte
als von Happening zu Happening lavierender Multiplikator der vorausgesetzten
Schwächen. "Helle Nächte" wollte wahrscheinlich
geistreich unterhalten, versuchte dies aber mit ungeeigneten Mitteln
an den falschen Sujets.
Ein ganz anderes Niveau musikalischer Selbstfindung bewies der 1964
geborene Engländer Roderick Watkins, Schüler und Mitarbeiter
Hans Werner Henzes (der nun letztmals für das Biennale-Programm
verantwortlich zeichnete), mit einer weiteren Märchen-Oper:
"The Juniper Tree", nach dem schaurigen Grimm-Märchen
"Von dem Machandelboom". Librettistin Patricia Debney,
Ehefrau des Komponisten, hat leider mit dem Tagesbedarf entgegenkommenden
Psychologisierungen viel von der archaischen Kraft der Erzählung
abgezogen, die Überbrückung der Kluft zwischen brutaler
Realität und Wunder vollends verunmöglicht; und auch hier
vertieften Inszenierung (David McVicar) und Bühnenbild (Michael
Vale) in der schablonenhaften, eindimensionalen Umsetzung die Unzulänglichkeiten,
besorgten beinahe den befürchteten Stau in der Einbahnstraße
- wäre da nicht diese Musik! Watkins ist kein Neuerer, schafft
jedoch ein ungeheuer sensibel ausgehorchtes Klangkontinuum vom Feinsten,
kostet alle Zwischenwerte tönender Introversion aus, kreiert
mit der imaginativen Auffächerung und wirkungssicheren Kombination
weniger Töne, und mit deren gezielter Distribution innerhalb
der vorzüglichen London Sinfonietta-Dutzendschaft unter Markus
Stenz, transparenten Beziehungsreichtum und eine psychologische
Räumlichkeit, die dem Werdegang der Erzählung die Illusion
innerer Plausibilität verleiht. Erstaunlich ist, daß
zwar de facto wohl die Musik am Text entlangkomponiert wurde, womit
die Längen gegen Ende teilweise zu erklären sind, daß
aber letztlich - wenigstens über die ersten zwei Drittel der
Oper - der Eindruck musikalischen Zusammenhangs entsteht, der diesen
Text gar nicht nötig hätte. Einer weitaus abstrakteren
Sprache entspräche Watkins' feinstoffliche Intensität,
die das dinglich Handfeste wohl eher von Natur scheut. "The
Juniper Tree" also eine musikalisch erfreuliche, wenig theaterwirksame
Begegnung.
Daß der Versuch einer merge opera, "Nyx"
vom Jazzkomponisten Gerd Baumann, vollkommen danebenging, war eine
von lokalpatriotischen Gefühlen getragene Unnötigkeit.
Doch die Münchner Biennale lebt auch von ihren kleinen Konzerten,
und hier bewies der junge Klarinettist und Komponist Jörg Widmann
(im Duo mit Eggert) exzellente Begabung auf beiden Gebieten. Wie
er Maxwell Davies' gnadenlos sperrigen "Hymnos" in stets
sprechende Musik verwandelte, wie er die traumwandlerische, die
russisch-orientalische Magie auf neue, zwischen den Zeiten stehende
Weise entfachende "Pastorale" von Rodion Schtschedrin
aus der Taufe hob, welch eine eruptive Dynamik die flüchtigen
Binnenwelten seiner eigenen Haiku-"Bruchstücke" entbergen:
da ist noch viel zu erwarten. Partner Moritz Eggert überzeugte
als Pianist und Ganzkörper-Musiker, sein Showpiece "Tableau"
mit unter dem Flügel liegendem Klarinettisten und allerlei
Schnickschnack gleicht eher einem lauthals überwürzten
Hühnersüppchen.
Der Beitrag des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks unter
dem sehr mäßigen Arturo Tamayo in der Musica Viva enthielt
neben der effektvollen, Roussel-nahen "Salomes Tanz"-Trilogie
von Hubert Stuppner und Sylvano Bussottis subtiler Klangflecken-Spielwiese
"Souvenirs d'Italie" (Uraufführung) "Das Weiße
Requiem" von Roland Leistner-Mayer, ein in Amalgamierung traditierter
Farben und Werte strahlendes Bekenntniswerk auf bestürzend
unbeholfene, pathosselige Wortschwellungen von Rudolf Mayer-Freiwaldau
(Kostprobe: "Wir sind die Nicht-mehr-Irdischen, und wir singen
das Lied der Außerirdischen, wir lachen und weinen im Innerirdischen.").
Leistner-Mayers Musik nimmt diese Schwächen als Stärken
wahr, überhöht ihren hölzernen Gehalt und erreicht
eine echte Größe der Aussage in zeitenthobener, holzschnittartiger
Einfachheit, die sich in weitgespanntem Ritual auf Größen
wie Janácek, Orff oder Bialas stützt, dabei aber ihre
eigene Gestimmtheit ausbreitet. Hier komponiert einer unbeirrbar
abseits von Fortschritt und Experiment. Ein Spaßvogel sprach
von der Uraufführung des "Glagolitischen Requiems",
und sollte dies ohne Häme geschehen sein, so hatte er vielleicht
recht.
Eigentlich hätte diese Biennale noch in einem vierten Abschnitt
zum Ende dieses Jahres fortgeführt werden sollen, doch der
Münchner Stadtrat hat die fest zugesagte Unterstützung
für die längst vergebenen Kompositionsaufträge entzogen
und läßt die abschließende Phase an einer fehlenden
Million scheitern. So kommt es zum Beispiel, daß die Lorca-Oper
vom begabtesten Komponisten der jüngeren Generation in England,
Simon Holt, nun nicht in München, sondern in Huddersfield uraufgeführt
wird. Dafür hat man in England wenig Verständnis, und
auch hierzulande sollte man das nicht unwidersprochen hinnehmen.
Weiter geht es demnach mit der Münchner Biennale, die künftig
in zwei jährlichen Abteilungen druchgeführt wird, im nächsten
Jahr. Henze hatte in seiner Ära als Leiter einige Male eine
erstaunlich glückliche Hand - man denke nur an Turnages Erfolgsoper
"Greek". Die neuen Erwartungshorizonte wird der neue künstlerische
Leiter, Peter Ruzicka, vorgeben. Das wird spannend, aber man sollte
die Erwartungen dämpfen, und wenn man auf den Lauf der Geschichte
zurückblickt, sieht man, daß stets viele Opern entstehen
mußten, um aus ihrer Mitte ein, zwei überlebensfähige
entlassen zu können. Gelingt das, so hat sich der Einsatz mehr
als gelohnt.
Christoph Schlüren
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