Einheitlichere Fragenkomplexe als die vorangegangenen Jahre warf die diesjährige
zweite Halbzeit der 6. Münchner Musiktheater-Biennale auf.
Das Stockhausen entwendete Motto
wie die Zeit vergeht ließ
zwar immensen Spielraum, was sicherlich intendiert war; in seiner
scheinbar x-beliebigen Auslegbarkeit schien es manchen Beobachtern
ungeignet, ja trivial. Doch die im voraus nicht absehbaren Resultate
die drei Uraufführungen offenbarten einen dialogfördernden
Umgang mit der Aufgabenstellung. Ganz entscheidend hierbei ist die
ästhetische Ausrichtung des künstlerischen Leiters Peter
Ruzicka selbst. Fast könnte man das Dargebotene in seinen Aspekten
des fruchtbar Erneuernden wie des kläglich Scheiternden als
Probelauf für die weitere Entstehung seines eigenen bevorstehenden
magnum opus, einer für den 20. April 2001 in Dresden zur Uraufführung
anstehenden Celan-"Oper", mitbegreifen. Ruzickas Vision
umfaßt ein tönendes Theater, das sich dem linearen Erzählen,
der unmittelbar handgreiflichen Handlung verweigert zugunsten einer
assoziativen Verflechtung unterschiedlicher Ebenen und Schichten
des Bewußtseins, des realen Raums, der Zeitdimension. Schwer
oder eigentlich unmöglich zu erklären, zu fixieren, was
damit konkret gemeint sei. Geht es doch gewissermaßen um die
Erneuerung des originär Künstlerischen schlechthin, mithin
Sichtbarmachung des Unsichtbaren, womöglich Hörbarmachung
des Unhörbaren, gewiß Vorstellen des Unvorstellbaren.
Solche Suche entsteht aus der immer drängender aktualisierenden
Unvereinbarkeit von dialektischem Diskurs und monistischer Unbeirrbarkeit
in der Kunst. Die Welt: außer Balance. Der Künstler,
welcher dazu in der Lage ist, kann eine Gegenwelt schaffen, die
sich in Balance bringt und hält. Oder er kann über die
Zerrissenheit der umgebenden Welt reflektieren, sie in kreative
Brechung bringen mit seinem zerrissenen Inneren. In der Regel wird
er zwischen den Polen oszillieren. Unfreiwillig. Das Zerbrechen
einer unmittelbar verfolgbaren Handlungsebene jedoch ist ein freiwilliger
Schritt, ein gezieltes Bekenntnis zur Zerklüftung der äußerlich
realen Welt und deren gebrochenem Widerhall im Einzelnen. Und zugleich
eine Befreiung aus deren Zwängen. Der Ablauf des Geschehens
wird nicht mehr erzählt. Da Erzählung aber auf der bewußten
Ebene unsere alltägliche Erfahrung dominiert, bedarf es zur
fruchtbringenden Zerschlagung dieser normalen Vermittlungsmethode
der Aktivierung der unbewußten Dimension. Letztere kennt keine
Logik, ist durchsetzt von unvermittelbar individuellen Prägungen,
die paradoxerweise mit vermittelbar kollektiven Empfindungen korrelieren.
Es müßte also funktionieren können, einen Zugang
zu legen, der den Theaterbesucher mehr oder weniger direkt anspricht,
ohne ihm eine Logik in der Sukzessivität zu offerieren, ja
zu ermöglichen. Ein Anspruch, den einzulösen kein Weg
gewiesen ist, wo kein Weg gangbar gemacht werden soll. Das neue
Musiktheater auf weglosen Wegen in unkünftige Zukünfte.
Wie erfüllen? Welche musikalische Sprache kann das einlösen?
Würde es genügen, dem non-narrativ konzipierten Libretto
zu entsprechen mit einer auf immanente Entfremdung eingestellten
Klangwelt? So jedenfalls handelte keiner der drei Komponisten, die
auf ihrer Expedition durch die unendlichen Weiten des Mottos der
scheinbar unumschränkten Herrschaft des Narrativen zu entrinnen
suchten. Im Gegenteil. Die Musik aller drei ist bemüht um Verflüssigung.
Auf sehr verschiedenartige Weise und mit ungleichem Erfolg.
Am unverblümtesten um das Motto kreiste der Beitrag der 1956
in Hamburg geborenen, u. a. bei György Ligeti ausgebildeten
Babette Koblenz RECHERCHE. Über die Substanz der Zeit. Ein
Marseiller Filmteam gerät bei der Sichtung dokumentarischer
Materialien in rückläufige Zeitschächte. Auf der
anderen Seite von Zeit und Wirklichkeit weist am Rand des Hades
der Seher Teiresias Odysseus den Weg in die Zukunft und schickt
ihn damit auf die Reise in geschichtliche Realität. Es kommt
zur zeitüberbrückenden Überschneidung der mythischen
und tatsächlichen Welt anhand der Vertreibung der sephardischen
Juden aus Spanien 1492 und des spanischen Bürgerkriegs, inmitten
realgeschichtlicher Odysseen. Die Rede ist von einer "Polyphonie
der Zeitschichten", ergänzt durch eine "geradezu
babylonische Sprachenpolyphonie", wobei das in konzeptioneller
Zusammenarbeit mit Hans-Christian von Dadelsen erstellte Libretto
den Großteil der Textbruchstücke in den Herkunftssprachen
verwendet, also auf hebräisch, altgriechisch, französisch,
spanisch, englisch und (ein wenig) deutsch laut Kompinistin
gibt es "einen minimalen sprachlichen Bedeutungsgehalt, den
der Hörer erfaßt haben muß, um die jeweilige Szene
zu verstehen" die Stimmen erhebt. Kompositorisch korrespondieren
diese Verfahren mit verschiedenen Stilschichten sowie und
das ist die große Stärke von Babette Koblenz polymetrischer
Faktur. Als durchaus musikantische Komponistin sind ihr Reggae und
andere ethnisch verankerte Musikkulturen, Pop und amerikanische
Minimal music gleichwertige Materialien, die sie in der Manier einer
Teppichweberin zu einem bunten Miteinander verknüpft. Belebendes
Element in der improvisatorisch fein ziselierten, in der Summe der
zerbrechlichen Details virtuos gehaltenen Partitur ist die nie versiegende
rhythmische Quelle. Dem steht eine gewisse Monotonie des Harmonischen
entgegen. In der beständigen relaxten Aktivität schreibt
Babette Koblenz kaum die Vorgänge suggestiv steuernde, theaterwirksame
Musik. Eher ist das anspruchsvolle Begleitmusik, die der Art und
Intensität der Handlungsattacke breiten Spielraum einräumt.
Die Musik tendiert also, ganz natürlich in den Hintergrund
zu treten zugunsten des eigentlichen Theaters. Dieses freilich wäre
dann eine umso anspruchsvollere Aufgabe, die mit Wander-Leuchtbuchstaben-Verdeutlichungsstrategie,
auf cool unbeteiligt und leidenschaftslos gestylter, zum Ende hin
immer personalüberfrachteterer, hektisch infantiler Dekorationsstrategie
und viel aufgewärmten Kindergarteneffekten mehr als unerfüllt
blieb. Regisseur und Bühnenbildner Gottfried Pilz betätigte
sich als skrupellos aufhäufender Ausstaffierer statt sinnfällig
lenkend einzugreifen und hinterließ ein maßlos kontraproduktives
Wirrwarr. Die Repertoiretauglichkeit von Babette Koblenz Recherche
bleibt daher zunächst unprognostizierbar.
Anders De Amore, ein Versuch über die Liebe oder was
man so nennt aus Musik von Mauricio Sotelo und Texthülsen
von Peter Mussbach. Mussbach, zunächst "nur" für
Inszenierung und Bühne vorgesehen, sprang als Librettist bei,
als Not am Mann war. Er setzt in dieser Revue "prototypischer
Situationen einer Liebesbeziehung" gezielt auf banale Typisierung,
triviale Standards. "Er" und "Sie" im leeren
Raum zwischen Epilog auf die vorhergehende und Prolog auf
die nächste Affäre , den sie im Wechsel mit
zwei kommentierend-beratenden Cantaoras (Flamenco-Tänzerinnen)
im Dienste des vorübergehend gemeinsam vollzogenen Egotrips
mit der inneren Leere anonymer Begehrlichkeit füllen. Mussbach
versuchte als Librettist, der Musik "zu ihrer Eigenart zu verhelfen".
Ein Verfahren, das fraglos Eigenart voraussetzte.
Die musikalische Substanz beim 1961
geborenen Mauricio Sotelo ist dünn. Begabt ist der Spanier
im Dekorativen, in der klangsinnlichen, elektronisch gestützten
Ausbreitung des Wenigen, das so viel mehr sein möchte. Die
Hereinnahme von Flamenco-Elementen soll nicht folkloristisch sein,
ist aber sehr gleitfähig collagiert folkloristisch.
Die musikalische Form des Werks ist palindromisch, woraus Mussbach
die Idee der "Liebe" ableitete, in der Annahme der palindromischen
Kontur "einer ganz konkreten Liebesgeschichte in ihrem prototypischen
Verlauf: von der ersten Begegnung über die Vereinigung bis
zum Auseinandergehen". Dramaturgisch ist die palindromische
Form in der Plansollerfüllung der ständigen Aneinanderreihung
kurzer Nummern allerdings immer ermüdender, zumal der Fortgang
völlig vorhersehbar ist. Die Zeitidee ist eine zyklische: déjà-vu,
und so fort viel beschworene Bedeutung, wenig Erfüllung.
Doch hier, wo die Musik wenig ergiebig und ohne finalisierende Energie,
der Text in Stilisierung des Alltäglichen nebeneinanderherspazieren,
wird die Blässe zum Kunstwerk gemildert, gerettet durch Mussbachs
instinktsichere, pathetische Personenführung auf archaisch
auseinanderstrebender Bühne, exzellent plastisch und farbintensiv
ausgeleuchtet.
Der dritte Beitrag: Wenn die Zeit über die Ufer tritt vom 1955
geborenen, im Moskauer Neue-Musik-Leben entscheidend aktiven Ukrainer
Vladimir Tarnopolski. Das Libretto Ralph Günther Mohnnaus,
dessen extrovertiert zur Schau getragene Abneigung gegen den Anachronismus
in Gestalt des Narrativen nicht frei scheint von Zeitgeist-Konzessionen,
ist eine freie Phantasie via Zukunft, ausgehend von Tschechows "Drei
Schwestern". Der erste Akt spielt 1899, vor der Jahrhundertwende;
der zweite 1999, an der Schwelle zum neuen Jahrtausend; der dritte,
in näher nicht bestimmter, relativ naher Zukunft, ist ein suizidales
morituri te salutant Leben hat keinen Sinn mehr, jeder ist
autark monadisiert, es ist höchste Zeit, Abschied zu nehmen.
Wobei auch dieser Abschied seine Vermittelbarkeit eingebüßt
hat. 1899: gesangliche Linie, Dialog, Verwebung, Belcanto. 1999:
Kürzung der Mittel, Reduktion des Sprachschatzes, Degeneration
des Polyphonen, Rock und Minimal music. Das Zukunftsszenario: Zerhackte
Silben, Stagnation, Verharrung, Geräusch schluckt den Klang.
Die musikalische Umsetzung dieses Plans ist fesselnd geraten. Sicher,
die Stilmittel als solche sind nicht neu. Aber ihre graduelle Überführung
von der post-expressionistischen Gebärde hin zur finalen Geräuschkulisse
verliert die Sogkraft nicht nicht zuletzt dank Tarnopolskis
vorzüglicher handwerklicher Basis. Und er ist in der Lage,
jene Idee einer umfassenden "Euphonie" musikalisch umzusetzen,
die das Spektrum des Wohlklingenden weitet von der klassischen Konsonanz
über das Auskosten der Dissonanz auch der schärfsten
bis hin zur Integration des Geräuschs: alles ein graduelles
Übergehen, keine unvereinbaren Gegensätze. Die ganze Welt
der akustisch wahrnehmbaren Erscheinungen als selbstbezogenes System.
Peer Boysens Inszenierung hatte, bei aller Originalität vor
allem der die Akte umrahmenden Szenerie und trotz einiger überflüssiger
szenischer Garnierung, die Bescheidenheit, sich in den Dienst eines
funktionierenden Ganzen zu stellen geht es doch darum, durchaus
Hauptsache zu sein, dies aber in Übereinstimmung mit unverrückbaren
Konditionen. Was umso mehr zu goutieren ist anhand der Tatsache,
daß der Komponist erst in der letzten Probenphase mit der
Komposition des dritten Akts fertig wurde. Kein Wunder hingegen,
daß das Timing dieses Akts nicht ganz stimmig schien. Tarnopolskis
Musik ist durchaus soghaft, spricht zum Hörer fast ebenso bewußt
wie sie ihn unbewußt mitzureißen vermag. Er hat betont,
daß es ihm in den drei Akten gar nicht so sehr auf das zeitlich
Sukzessive ankommt, sondern vielmehr auf das Nebeneinander verschiedener
Handlungs- und Empfindungsebenen und -qualitäten. Also nicht
nur Wenn die Zeit über die Ufer tritt, sondern auch Wenn die
Zeit aus dem Ruder läuft. Viel intellektuelle Winkelmitvollzüge
setzt das Hören seiner Oper nicht voraus, und das hat er denen
voraus, die glauben, in einem multimedialen Genre vor dem Publikum
beliebig durcheinandergeschichtete, komplexe Bezugssysteme übereinandertürmen
zu können, ohne daß dieses sie ganz einfach nicht versteht.
Wieviel stärker vermögen doch einige wenige eindeutige
Wirkungen zu sein. Was bleibt, ist nicht nur eine Frage des Kalküls.
Höhepunkt der Biennale war übrigens ein Werk, das mit
Musiktheater überhaupt nichts zu tun hat, mit dem Zeit-Motto
hingegen unmißverständlich übereinklang: die 1970
komponierte Neunte Symphonie von dem Schweden Allan Pettersson (1911-80),
einem der ganz großen Komponisten des nunmehr ausklingenden
zwanzigsten Jahrhunderts. Mit Zeitgeist, mit Trends, mit außermusikalischen
Verlegenheiten hat seine Musik keine Berührungspunkte. Es geht
in ihr um die Grundfrage der Existenz, um die durch keine Macht
und Ohnmacht dieser Welt zu zerstörende Vitalität, um
den Triumph des Seins über den Schein. Mit rein musikalischen
Mitteln, in physikalisch ausgedrückt 75 Minuten
in einem Satz, mit hohem identifikatorischen, leidenschaftlich klangprächtigem
Einsatz der Münchner Philharmoniker unter dem imposant akkuraten
Gerd Albrecht. Die Zeit vergeht in dieser Symphonie, ohne daß
man es merkte. Mithin: Sie vergeht nicht subjektiv ,
sondern dehnt sich zum ewigen Augenblick. Für wen? Nicht für
die, welche sich auf die Katharsis nicht einlassen können oder
wollen. Die verlassen recht zahlreich während der Aufführung
den Saal, ein wenig, als gälte es, dem untersten Deck der sinkenden
Titanic zu entkommen. Für jene, die sich der Musik hingaben,
war solches Verhalten vielleicht unverständlich (unanständig
sowieso). Aber vielleicht hat Pettersson hier ja auch so etwas komponiert
wie eine Vertreibung der Geldwechsler aus dem Tempel? Und wer hielte
schon das Geldwechseln für eine schmutzige Angelegenheit? Wie
die Zeit vergeht
Zweitausend Jahre ein Nichts.
Christoph Schlüren
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