Der diesjährige Abschnitt der Münchner Musiktheater-Biennale 97/98
der ersten, deren Gesamtkonzeption auf das Konto des künstlerischen
Leiters Peter Ruzicka als Nachfolger Hans Werner Henzes geht
unterstellte sich dem Motto "Dialog der Kulturen", das
im kommenden Jahr durch den ideellen Sammelbegriff "Wie die
Zeit vergeht" ergänzt wird. Beide Mottos, kann man einwenden,
sind lange schon abgegrast. Und wieviele ernsthafte Komponisten
unserer Tage befassen sich nicht in irgendeiner Weise mit kulturellem
Dialog? Und ist das 99er-Motto nicht auch ein auf kulturellen
Dialog angelegtes eben nicht geographisch, sondern historisch?
Mithin also, in diesen Rahmen paßt allerhand, und das ist
wohl auch sinnvoll.
Der Japaner Toshio Hosokawa stellte mit der Shakespeare-Adaption
"Vision of Lear" die erste japanische Oper nach westlichem
Begriff vor. Seine Musik ist, bei aller archaisierenden Beschwörung
fernöstlicher Magie, primär von den Erfahrungen der westlichen
Avantgarde geprägt, und hält sich dabei fern der flinken
Geschäftigkeit im Durchschleusen stilistischen Allerleis, wie
es so manch fleißigem Kollegen beflissener denn je von der
Hand geht. Er webt ungeheuer raffinierte Teppiche, die dem theatralischen
Geschehen unterfüttert sind ein sensitiv agierendes
klangliches Kontinuum rasch sich vertraut machender gestischer Signale.
Die instrumentalen Klänge stören das Bühnengeschehen
nicht, bringen es aber auch nicht weiter, sondern versehen es mit
einer Atmosphäre, die die vokale Schicht kaum vermittelt. Die
Gesangsparts pendeln bevorzugt zwischen Extremlagen, führen
damit weg von der dramaturgischen Direktheit des Shakespeare-Stoffs
in eine entfremdete Welt. Diese relative Orientierungslosigkeit
wird wiederum eingefangen von einer streng archaisierenden Regie
nach Kabuki-Vorbild und einem grandios simplen, den Raum bezwingend
strukturierenden Bühnenbild. So halten sich hier die unterschiedlichen
Erfahrungsdimensionen letztlich in einer frappierenden Balance,
die statisch wirkt und nur eines beinahe in eine Außenseiterrolle
drängt: den Entwicklungsgang des zugrundeliegenden Dramas.
Auch ein Dialog einer, der an sich unselbständigen Geschehensebenen
zum Gesamteindruck relativer Selbständigkeit verhelfen kann.
Wie würde diese Oper in einer anderen Inszenierung wirken,
in einer veräußerlichteren zumal?
Und da ist die Erörterung nicht ganz von der Hand zu weisen,
ob es für die zweifellos im Zentrum stehende Frage nach dem
bleibenden Wert des Komponierten hilfreich ist, wenn der außermusikalischen
Umsetzung ein solcher Aufwand zugestanden wird als gälte
es, mit den großen Häusern zu konkurrieren. Die Verwendung
kostspieliger Mittel kann allemal beeindrucken. Sie kann berechtigt
sein und dem musikalischen Format angemessen. Sie kann aber auch
Mängel übertünchen helfen in der Komposition
wie in der Inszenierung. Wieviel wäre verloren, limitierte
man die Kosten im Einzelfall drastisch und ermöglichte es dafür
einer größeren Zahl von Komponisten, sich auf diesem
Forum zu versuchen? Dem mag viel praktische Erwägung entgegenstehen,
will doch auch eigentlich jeder Koproduktionspartner zuerst eins:
Aufsehen erregen. Diskussionswürdig wäre der im Einzelfall
bescheidenere Ansatz jedenfalls, indem er die Kriterienfindung entschleierte
und eine größere soziale Relevanz besäße.
Er setzte aber auch breites, echtes Interesse am Substantiellen
voraus.
Der 1963 in Indien geborene, in München aufgewachsene Sandeep
Bhagwati präsentierte sein dreieinhalbstündiges Mathematiker-Epos
"Ramanujan", die Geschichte vom spirituell motivierten
Forscher aus dem noch weitgehend intakten Indien, der im materiell
instruierten Europa, das gerade in den Ersten Weltkrieg hineintrudelt,
keinen Halt findet. Das Mammutwerk ist ein Beispiel für tonschaffende
Begabung und Intelligenz im Detail, aber auch für uneinlösbar
überfrachteten Gesamtanspruch. Allzu mächtig begehren
einander in ihrem unvermeidlichen Totalitätsbedürfnis
entkräftigende, elementare Themenbereiche auf, und die Stringenz
der Geschichte leidet. Man kann das alles verstehen aus einer beobachtenden
Warte insofern geeigneter Stoff für einen Roman, einen
Monumentalfilm , doch die zusätzliche Forderung
der Musik, die immer ihre eigenen Rechte
einklagen wird, ist die nach einer Eindampfung des Stoffes, soll
er unmittelbar faßlich wirken. Dieses unmittelbar Faßliche
vermag aber auch die Musik selbst in den langen ersten zwei Stunden
nicht herzugeben zu sehr folgt hier Set auf Set, machtvoll
in sich beharrend, abgrenzend statt überführend. Seltsam
nativ wirken im elaborierten Milieu die indischen Tanzeinlagen,
naiv gar die Kolorierung des Jenseits mit elektronischen Mitteln.
Die Befreiung nach der Pause überrascht umso mehr im ungehemmten
Rückgriff auf Ton und Gestus der großen Operngötter
Puccini, Strauss etc. Hier sucht einer den Weg aus der beliebigen
Materialbereitstellung der Postmoderne und findet vorübergehend
Zuflucht in der Restauration des Belcanto. So gewinnt er einiges
von dem zurück, was einst die Herzen des Publikums der Oper
zuführte, woran er auch erproben kann, inwieweit seine Persönlichkeit
solch wohlig umschmeichelnde Versuchung gewinnbringend zu verdauen
vermag.
Anders der weit unbekümmertere Jan Müller-Wieland (geb.
1966), der die deutsche Übersetzung von Lorcas spätem
Fragment "Komödie ohne Titel" seinen tönenden
Assoziationen unterwarf. Im flotten Konversationston beheimatet,
vermag er auch mit lyrischen Inseln zu verzaubern. Zu fragen ist,
ob die sprunghafte Stimmführung den Text unterstreicht oder
ins Unverbindliche wendet. Gerade Lorcas "Komödie ohne
Titel" scheint fast zwangsläufig einer "Veroberflächlichung"
zu erliegen, wenn sie mit Opernhabitus überzogen wird. Vielmehr
wäre sie vortrefflicher Stoff für ein gesprochenes Drama
mit Musik, die die angesprochenen Assoziationen ausschreiten könnte.
Der Dialog, das liegt nahe, ist der eines Deutschen mit spanischer
Musik, im Besonderen mit deren Rhythmen, und im Schluß-Bolero
wird das Faschistische mit faschistischen Mitteln ausgedrückt.
Dem Motto wird Genüge getan, und man versteht, wie leicht dieses
postmoderner Beliebigkeit gefügig gemacht werden kann. Musik
wie Inszenierung arbeiten unermüdlich mit kurzweiligen Reizmitteln,
mit einigermaßen hoffähigen Gags und professioneller
Emsigkeit.
Die Postmoderne redet viel, doch tut sie sich schwer, etwas Eindeutiges
zu sagen, das nicht einer gewissen Achtlosigkeit im Nacheinander
zum Opfer fiele. Überall liegt Material Europäisches,
Außereuropäisches, Tonales, Atonales usw. Man braucht
es nur aufzuheben, übereinanderzuschichten, aneinanderzufügen.
Kehricht der Kulturen ist auch eine Dialogform, seit der blinde
Elan der Straßenbauer erlahmt ist. Dieser hat die Natur zurückgedrängt.
Ob er ihr damit auch die Aktualität nahm? Muß man "nehmen,
was übrig bleibt"? Der schöpferische Geist agiert
"im Freien". Die Hauptverhinderung vieler heutiger Komponisten
auf dem Weg zu sich selbst und damit zu nachhaltiger Nähe zum
Hörer liegt im Anhäufen beiläufig aufgenommener Klangderivate,
in der Verkleisterung des Kreativen durch akustische Kontamination.
Schon ahnen wir den Ruf einiger Neopuristen nach "Reinigung".
Wovon? Wohin? Sicher ist: "Befreiung" ist angesagt. Was
nichts Neues wäre, es sei denn als zeitloses
Motto.
Christoph Schlüren
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