Im Akademiekonzert des Bayerischen Staatsorchesters gastiert mit Ida Haendel
eine der überragenden Geigerinnen des Jahrhunderts. Vor gut
zwei Jahren hat sie die Partiten und Sonaten für Violine Solo
von Johann Sebastian Bach aufgenommen, und vielleicht war kein Geiger
seit ihrem Lehrer George Enescu zu einer so bezwingend zusammenhängenden,
die weiten Spannungsbögen artikulierenden Darstellung imstande.
Die Energie und Vitalität ihres Wesens, ihr unmittelbarer Zugriff,
ihre natürliche Würde machen ihr Spiel unverwechselbar.
Sergiu Celibidache hat mit keinem anderen Geiger so viel musiziert
wie mit ihr, und 1953 machten sie zusammen in London die letzte
Aufnahme vor Celibidaches endgültigem Plattenbann: Das Brahms-Konzert,
nach wie vor eine Referenzeinspielung.
Die gebürtige Polin gewann 1935 als Siebenjährige beim
Wieniawski-Wettbewerb den polnischen Preis und wurde Schülerin
von Carl Flesch. Entscheidend war die Begegnung mit George Enescu,
Rumäniens musikalischem Universalgenie: "Als Komponist
war Enescu der große Monodiker seiner Zeit einerseits
ganz rumänischer Zigeuner, andererseits symphonischer Geist,
eine einzigartige Verschmelzung von ursprünglichem Musikantentum
und edelster Kultiviertheit. Als Geiger hat er mein Spiel unauslöschlich
geprägt, vor allem bei Bach, auch wenn ich im Detail vieles
anders mache: Fort mit dem ganzen überflüssigen Zierrat,
alleine sein mit der Anatomie! Zugleich aber muß die Musik
mit einer Eindringlichkeit sprechen, daß Sie jeden Satz, jede
Phrase als Sinn-Zusammenhang erleben."
Die andere Begegnung, die sie tief geprägt hat, war die mit
Celibidache: "Er war der großartigste Musiker, den ich
kannte. Ihn interessierte wirklich nur radikal das Wesentliche,
in jedem Moment, in jedem Kontext. Und er hat geglaubt, er könnte
damit die Welt verändern."
Ida Haendel ist vor allem mit den
großen Konzerten von Brahms, Sibelius, Beethoven oder Tschaikowskij
berühmt geworden. Doch immer wieder hat sie sich für einige
von ihr besonders geliebte zeitgenössische Werke eingesetzt,
z. B. von Luigi Dallapiccola, Allan Pettersson oder Benjamin Britten.
In München musiziert sie das Britten-Konzert zusammen mit dem
finnischen Dirigenten Paavo Berglund: "Ein feiner, echter Musiker.
Man kann so viel von ihm bekommen, von ihm lernen. Er ist eigentlich
ein Dirigent für Musiker. Dem Publikum bietet er keine überflüssigen
Gesten."
Das 1939 komponierte Konzert von Benjamin Britten "spiegelt
den inneren Aufruhr dieses Mannes. Er war sehr jung und auf der
Suche nach sich selbst. Das herrliche Ende ist völlig unaufgelöst,
die letzte Note bleibt förmlich in der Luft hängen. Es
ist ein fantastisches Stück, mit viel Leid durchtränkt,
und der Schlußsatz ist eine Welt für sich." In den
Konzerten von Pettersson und Britten verleiht Ida Haendel dem Solopart
die unbeirrbar bündelnde Kraft des Zusammenhalts in einer von
Konfusion durchfluteten, mit dem Chaos ringenden Welt der emotionsgeladenen
Klanggestalten. Hier, wo sie ständig mit den Grenzen des physisch
wie geistig Möglichen konfrontiert wird, ist sie ausgelastet.
Christoph Schlüren, im Januar 1998
CD-Tips:
Bach, Solo-Partiten und -Sonaten; Testament/Note 1 2CDs 2090.
Konzerte von Brahms (mit Celibidache) und Tschaikowskij; Testament/Note
1 1038.
Konzerte von Walton und Britten (mit Berglund); EMI 764202-2.
Allan Pettersson, 2. Violinkonzert (mit Blomstedt); Caprice/Disco-Center
21359.
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