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Unvollendet, vollendet

Gilels’ Beethoven-Sonaten 

Für viele heute führende Pianisten ist der Russe Emil Gilels (1918-85) das größte Vorbild, hinsichtlich musikalischer Gestaltungskraft, vollendeter Klanglichkeit und grandioser technischer Beherrschung. Gilels war in den unterschiedlichsten Stilarten zuhause. Von Rameau über Mozart und die große romantische Literatur bis zu Schostakowitsch bewies er singuläre stilistische Clarté und Einfühlungsgabe. Legendär wurde der Beethoven-Sonatenzyklus, den er von 1972 bis zu seinem Todesjahr für die Deutsche Grammophon einspielte. Er blieb leider unvollendet (unter den fehlenden 4 Sonaten ist auch die letzte, op. 111, stattdessen gibt’s die Eroica-Variationen und 2 "Kurfürsten-Sonaten"). Umso bezwingender ist das Vorhandene: Wann je hätte man die klanglichen Hürden im ersten Satz der Waldstein-Sonate, diesen Gipfelpunkt subtiler pianistischer Schwierigkeit, mit solcher Beflügelung, ohne jeglichen Anflug von Unsicherheit oder Prätentiösem, gehört? Und in den fesselnd hermetischen Regionen der Hammerklavier-Sonate fand sich vielleicht kein anderer so weitschauend, so unbeirrbar zurecht.

Das Adagio daraus wird ihm zum Hohelied zeitlos tönenden Zusammenhangs und spricht dabei mit jener orchestralen Qualität, jenem reichen Spektrum an Farbkombinationen, die Gilels’ Spiel grundsätzlich auszeichneten. Ein paar Mal könnte, was fast übermenschlich klar und gelungen ist, ein etwas gemesseneres Tempo vertragen. Doch kritisiert man nur ungern einen, der die anderen so eindeutig überragt. Auch wenn sein Tod die Vollendung des Projekts verhindert hat: Wer die Beethoven-Sonaten zuhause haben will, sollte unbedingt zu diesen Aufnahmen greifen, in der überdies preiswerten 9CD-Box, und die nicht eingespielten Sonaten von anderer Seite ergänzen. Man braucht vielleicht nur einmal den so tief erfühlten, dabei völlig unsentimental verstandenen Kopfsatz der Mondschein-Sonate anzuhören, um von Gilels’ hellwacher, körperhafter Geistigkeit hingerissen zu sein.
Emil Gilels spielt Beethoven-Klaviersonaten; DG 453221-2.
Christoph Schlüren

(Rezension für das Münchner Kulturmagazin 'Applaus')