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4. Symphonie 'Sinfonia lirica' (1943): 2. Satz 'Allegro con anima',
Anfang
Estnisches Nationales Symphonie-Orchester, Arvo Volmer (Tallinn,
September 1998)
Alba ABCD 155 (Vertrieb: Klassik-Center) LC 12009
Track 2, 0'01-1'13, ausblenden (Dauer: 1'12)
Nur das Schicksal wollte es, daß die Vierte Symphonie von
Eduard Tubin, seine sogenannte 'Lyrische', aus der Sie soeben den
Anfang des zweiten Satzes hörten, erhalten geblieben ist. Tubin,
damals längst unstrittig Estlands größter Symphoniker,
hatte sie 1943 während der deutschen Besatzungszeit in Tartu
komponiert. Am 9. März 1944 fand im Estonia-Theater zu Tallinn
eine Aufführung seines Balletts 'Kratt' statt. Während
der Aufführung wurde das Theater von den anrückenden sowjetischen
Streitkräften bombardiert. Künstler und Publikum flohen
aus dem brennenden Haus. Die Partitur der Vierten lag in einem Eisenschrank,
der durch vier Stockwerke hinunter in den Keller stürzte. Am
nächsten Morgen, so Tubin, stiegen einige Männer in den
Keller und fanden den Safe, "der immer noch warm war. Als es
ihnen gelungen war, ihn zu öffnen, nahmen sie mit zitternden
Händen das Manuskript heraus. Die Partitur meiner Vierten Symphonie
war an den Ecken etwas angeschmort. Die Stimmen waren unbeschädigt."
Im September desselben Jahres, einen Tag, bevor die Russen Tallinn
eroberten, floh Tubin mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen
über das Meer nach Schweden. Seine Vierte Symphonie wurde erst
37 Jahre später in Bergen unter Neeme Järvi zum zweiten
Mal aufgeführt, ein Jahr vor Tubins Tod. Dieses Faktum ist
symptomatisch für das Schicksal des Komponisten Eduard Tubin.
Indem er Estland verlassen hatte, wurde er von den Behörden
seiner Heimat schnell mit einem Aufführungsverbot belegt, das
sich erst im poststalinistischen Tauwetter ab Mitte der fünfziger
Jahre etwas lockerte. In Schweden fand er zwar bessere Arbeitsbedingungen
vor, doch erstens interessierte sich dort niemand für die Werke,
die er vor der Emigration komponiert hatte, und zweitens hatte er
im Westen als aus der symphonischen Tradition gewachsener und diese
mit ihren eigenen Mitteln erneuernder Tonschöpfer einen schlechten
Stand. Wie Schostakowitsch oder Pettersson, aber auch vorher Sibelius
und Nielsen, wurde er von den am internationalen Materialfortschritt
orientierten Modernisten als Konservativer eingestuft. Erst in den
letzten zwei Jahren seines Lebens erwies ihm Schweden mit der Verleihung
des Kulturpreises der Stadt Stockholm und der Wahl zum Mitglied
der Königlich Schwedischen Musik-Akademie längst verdiente
Ehren, ausgelöst durch die internationale Resonanz auf den
Einsatz des estnischen Dirigenten Neeme Järvi, der 1980 aus
der Sowjetunion in den Westen emigriert war und Bresche um Bresche
für die Musik seines Landsmanns schlug. Die Gesamteinspielung
seiner Orchesterwerke unter Järvi konnte Tubin, der am 17.
November 1982 in Stockholm an Krebs starb, nicht mehr erleben.
Seine ersten vier Symphonien schrieb Tubin als aufstrebender Dirigent
in seiner estnischen Heimat, die Nummern 6-10 und der in der Instrumentation
unvollendet gebliebene erste Satz seiner Elften entstanden nach
der Emigration in Schweden, wo er als Archivar und Arrangeur für
das Hoftheater zu Drottningholm arbeitete. Nachdem er 1961 schwedischer
Staatsbürger geworden war, konnte er sein Heimatland wieder
gelegentlich besuchen und sich ab 1966 aufgrund staatlicher Förderung
uneingeschränkt der kompositorischen Tätigkeit widmen.
Das melodisch-kontrapunktische Fließen der ersten vier Symphonien,
welches in der lyrischen Vierten seine stärkste Ausprägung
fand, wich in den nachfolgenden Werken einem mehr von der Verarbeitung
kurzer, prägnanter Motive bestimmten Stil. Dies ist bereits
in der Fünften Symphonie, die von Juli bis November 1946 Gestalt
annahm, offensichtlich. Zugleich ist dieses Werk im kraftvoll-markanten
äußeren Gestus am ehesten der sowjetischen Symphonik
um Schostakowitsch oder Prokofjev verwandt. Die Fünfte ist
bis heute Tubins meistgespielte Symphonie, von der im Jahr 2002
immerhin drei Platteneinspielungen vorliegen, mit den Dirigenten
Neeme und Paavo Järvi sowie Arvo Volmer, dem mit dem Estnischen
Nationalen Symphonie-Orchester in Tallinn ein neuer Zyklus zu verdanken
ist, der bisher die Symphonien Nr. 2-7 umfaßt und durchweg
die konkurrierenden Aufnahmen überragt. Es folgt der Schluß
des Kopfsatzes aus Eduard Tubins Fünfter Symphonie, Allegro
energico und Largamente.
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5. Symphonie (1946): 1. Satz 'Allegro energico', Ende
Estnisches Nationales Symphonie-Orchester, Arvo Volmer (Tallinn,
1998)
Alba ABCD 141 (Vertrieb: Klassik-Center)
Track 4, 8'53-10'30, einblenden (Dauer: 1'37)
Nach der Emigration lebte die Familie Tubin bis 1966 in einer 49-Quadratmeter-Wohnung
im Stockholmer Vorort Hammarbyhöjden. Der Verleger Einar Körling
half Tubin in den ersten Jahren und verlegte einige seiner Werke,
darunter die soeben erklungene Fünfte Symphonie, die im November
1947 in Stockholm unter Carl von Garaguly zur Uraufführung
kam. Doch konnte Körling ansonsten recht wenig für den
Komponisten bewirken. Die sogenannte 'Monday Group' um Karl-Birger
Blomdahl, Ingvar Lidholm, den genialen Außenseiter Sven-Erik
Bäck und den Musikwissenschaftler Bo Wallner begann, mit ihrer
modernistischen Haltung allmählich die Neue-Musik-Szene in
Schweden zu dominieren. Die einstigen Neuerer Hilding Rosenberg
und Gösta Nystroem wurden in ihrem zwischen Romantizismus und
Konstruktivismus pendelnden Ton immer seltener gespielt, und die
populären Neoklassizisten Lars-Erik Larsson und Dag Wirén
galten als altmodisch. Für Tubin war als Flüchtling ohne
Lobby kein Platz vorgesehen. Führende Dirigenten wie Hans Schmidt-Isserstedt
oder Tor Mann verstanden seine Musik nicht und ließen bald
die Finger davon. Tubin konnte unter bescheidenen Umständen
gut leben, komponierte mit unbeirrbarer Disziplin, genoß ausgiebig
die Reisefreiheit der westlichen Welt und frönte so unterschiedlichen
Leidenschaften wie Photographie, Schachspiel, Modellbau, Pilzesammeln,
Gourmetküche, Fußball-Wetten oder Kino.
Alfred Hitchcock war sein großer Favorit, und so mag es nicht
wunder nehmen, wenn er in seinen Symphonien stets einen ähnlichen
'Suspense' heraufbeschwor wie der Großmeister unter den Regisseuren.
Unabdingbar wesentliches Element symphonischen Komponierens —
im Unterschied etwa zu Oper oder Ballett — ist es, das Tonmaterial
so zu wählen und zu entwickeln, daß es durchweg den Formprozeß
als Gesamtheit mitbestimmt und zugleich von diesem bestimmt wird
— jede Einzelheit hat ihren unaustauschbaren Sinn in Bezug
auf das Ganze. Dieses Spiel der Kräfte zu beherrschen und in
seinem Dienste zu wirken ist die unabhängig vom Stil entscheidende
Forderung. Unter den großen Symphonikern des 20. Jahrhunderts
wie Sibelius, Nielsen, Prokofjev, Schostakowitsch, Roussel, Vaughan
Williams, Sæverud, Hartmann, Pettersson oder Simpson muß
Tubin als einer der Bedeutendsten gelten. Doch in einer Zeit, die
sich mehr und mehr der rechnerischen Konstruktion und schließlich
der Klangsensation als kurzatmigem Selbstzweck zuwandte und zu welcher
die Apostel des Materialfortschritts die Symphonie für tot
erklärten, wird das leicht übersehen. Und heute, im Zeitalter
der aus der Überflußgesellschaft geborenen Beliebigkeit
der sogenannten Postmoderne, ist die Konzentration auf den Zusammenhang,
auf das Immaterielle also, welches wesentlich hinter dem Klang als
momentaner Erscheinung liegt, ein weniger denn je bekanntes Kriterium.
1952-54 schrieb Eduard Tubin seine Sechste Symphonie, in welche
Elemente der urbanen Gesellschaft in Form des Jazz Einzug hielten,
in welchem Tubin "viel innere Leere empfand, besonders in schlechten
und stereotypen Improvisationen. Daß ich ein Pessimist wurde,
geschah vor allem durch die Begegnung mit der tragischen Seite des
Jazz, mit Drogen und Alkoholismus." Tubins singuläre Begabung
zeigt sich in seiner Fähigkeit, an sich unbedeutende und austauschbare
Patterns von oft geradezu trivialer Statur in Keimzellen einer grandiosen
symphonischen Konzeption von äußerster suggestiver Macht
zu wandeln. Standardisierte Muster aus der Unterhaltungsmusik mitsamt
ihren harmonischen und instrumentatorischen Klischees fungieren
sozusagen als musikalische Doppelagenten und werden zu Protagonisten
des schicksalhaften symphonischen Dramas. Die Sechste Symphonie
bietet ein fantastisches Beispiel für das Gelingen einer solchen
Fusion. In jedem seiner Werke zeigt sich Tubin als ein Verwandelter,
im Sibelius’schen Sinne als "Sklave seiner Themen",
und ist dabei wie alle großen Schöpfer von unverwechselbarer
Eigenart. Das Estnische Nationale Symphonie-Orchester unter Arvo
Volmer spielt den ersten Satz aus Eduard Tubins Sechster Symphonie.
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6. Symphonie (1952-54): 1. Satz 'Andante sostenuto, ma ritmico'
Estnisches Nationales Symphonie-Orchester, Arvo Volmer (Tallinn,
November 1999)
Alba ABCD 147 (Vertrieb: Klassik-Center)
Track 4 (Dauer: 9'15)
Nicht nur hinsichtlich der Originalität und des Erfindungsreichtums
sowie der vollendeten Beherrschung des Kontrapunkts und der großen
Form war Eduard Tubin einer der großen Komponisten des 20.
Jahrhunderts. Auch seine Fähigkeit, das Orchester in allen
Schattierungen klingen zu lassen wie ein kollektives Instrument,
die Orchestration als sinnfälliges Element der symphonischen
Entwicklung organischerstehen zu lassen, ist einmalig.
Am 18. Juni 1905 in einem Dorf bei Kallaste am Peipussee als Sohn
eines Fischers und Schneiders geboren, begann Eduard Tubin Flöte
zu spielen, während er die Schweine hütete. Außerdem
spielte er Geige und bald auch Balalaika und Klavier. Im Zusammenspiel
mit den Dorffiedlern lernte er die estnische Volksmusik kennen.
15-jährig begann er seine Ausbildung als Schullehrer. Nun fing
er an, Chöre zu dirigieren und zu komponieren. 1924 kam er
als Organist an die Höhere Musikschule in Tartu, wo ihn von
nun an Heino Eller in Komposition unterwies. Eller, 1887 geboren
und 1971 gestorben, hat eine ganze Legion bedeutender estnischer
Komponisten ausgebildet, darunter auch Arvo Pärt, Jaan Rääts
und Lepo Sumera. Ellers große Fähigkeit war, so hat Arvo
Pärt später gesagt, jeden Komponisten auf seine ihm gemäße
Weise heranreifen zu lassen, ihm das Handwerk zu vermitteln, ohne
ihn stilistisch zu begrenzen. Tubin stieg als Kapellmeister zu immer
größerer Bedeutung auf und dirigierte 1931-44 am 'Vanemuine'-Theater
das große Opern- und Konzertrepertoire. Als Komponist machte
er sich daran, Estlands überragender Symphoniker zu werden.
Nach zwei folkloristischen Suiten vollendete der 29-jährige
als drittes Orchesterwerk seine groß angelegte Erste Symphonie,
in welcher er einerseits imponierend an die symphonischen Heroen
der Spätromantik anknüpft, andererseits sofort mit einer
persönlichen Sprache von großer Dichte und leidenschaftlicher
Kraft besticht. Die Zweite Symphonie entstand 1937 und wurde in
ihren auf unaufhaltsam vorwärtstreibenden Ostinati aufbauenden,
gigantischen Steigerungswellen zu seinem bis heute in Estland populärsten
Werk. Sie trägt den Beinamen 'Die Legendäre' und scheint
eine aus dem Dunkel sagenhafter Vorzeit auftauchende, archaische
Welt mit ihren Kämpfen und Leiden, durchwirkt von Magie und
Zauber, heraufzubeschwören. Als Andeutung möge ein kurzer
Ausschnitt aus dem stürmischen Toccata-Finale genügen.
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2. Symphonie (1937): Ausschnitt aus 3. Satz 'Tempestoso, ma non
troppo allegro (quasi toccata)'
Estnisches Nationales Symphonie-Orchester, Arvo Volmer (Tallinn,
1998)
Alba ABCD 141 (Vertrieb: Klassik-Center)
Track 3, ca. 4'25-6'20, ein- und ausblenden (Dauer: ca. 1'55)
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Eduard Tubins Symphonien sind allesamt Meilensteine
eines künstlerischen Lebenswegs. Jedes dieser Werke ist ein
individuelles Ganzes, existentiell und wesentlich, eine Welt für
sich. Und je nach Neigung wird der Hörer die eine oder andere
Symphonie favorisieren. Von besonders gelungenen Symphonien zu sprechen
erübrigt sich hier, denn jede ist auf ihre Art vollendet. Wie
anders ist zum Beispiel der Schauplatz, auf dem sich Tubin in seiner
drei Jahre nach der Zweiten begonnenen, 1942 vollendeten Dritten
Symphonie ausspricht. Man hat sie, an Beethoven gemahnend und ihren
geistigen Inhalt mit der jahrhundertelangen Geschichte des estnischen
Freiheitskampfes verknüpfend, auch als seine 'Eroica' bezeichnet.
Unzweifelhaft ist sie eine der gewaltigsten und strahlendsten Leistungen
symphonischer Kontrapunktik und bezieht sich hierin auf die Wiener
Klassik und Bruckner, ohne stilistisch davon beeinträchtigt
zu werden. Ein großer Anteil der Melodik in Tubins Symphonien
bezieht sich auf estnische Volksweisen, ohne daß dadurch ein
folkloristischer Eindruck entstünde, so auch hier. Es folgt
ein Ausschnitt aus dem Kopfsatz der Dritten Symphonie.
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3. Symphonie (1940-42): Ausschnitt aus dem 1. Satz 'Largo'
Estnisches Nationales Symphonie-Orchester, Arvo Volmer (Tallinn,
Februar 1999)
Alba ABCD 147 (Vertrieb: Klassik-Center)
Track 1, ca. 6'20-ca. 11'20, einblenden (Dauer: ca. 5'00)
Eduard Tubin war nicht nur einer der führenden Symphoniker
des 20. Jahrhunderts und in dieser Gattung ein — bis heute
international und zumal in Mitteleuropa nicht entsprechend gewürdigter
— 'Klassiker der Moderne'. Vor allem in seiner estnischen
Zeit komponierte er zahlreiche Lieder. Als Leiter des estnischen
Männerchors in Stockholm schrieb er viele einprägsame
Werke für Männerchor, was im 1979 vollendeten 'Requiem
für gefallene Soldaten' seinen höchsten Ausdruck
findet. Er hat ein stattliches Œuvre an Klaviermusik hinterlassen,
das sich erstreckt von oftmals folkloristischen Miniaturen bis zur
vom Nordlicht inspirierten 2. Klaviersonate von 1950, die in komplex
schillerndem Satz symphonische Dimensionen auftürmt und zu
den großen Klavierwerken ihrer Zeit gehört. Bislang hat
nur der Este Vardo Rumessen, zusammen mit Tubins Sohn Eino der weltweit
führende Tubin-Experte und Gründer der Tubin-Society in
Tallinn, sie im Rahmen seiner ziemlich beeindruckenden Gesamtaufnahme
von Tubins Klavierwerken für das Label BIS eingespielt. Unter
Tubins Kammermusik finden sich zwei Sonaten für Violine und
Klavier, eine Violin-Solosonate, je eine Sonate für Flöte,
Viola bzw. Saxophon mit Klavier, ein frühes Klavierquartett
und das folkloristische späte Streichquartett. Tubin schrieb
mehrere kleinere Orchesterwerke, effektvolle Ballettpartituren,
viel verschollene Theatermusik und einige Solokonzerte, darunter
zwei sehr dankbare Violinkonzerte, gleich nach der Emigration ein
Klavier-Concertino, 1948 ein Kontrabaßkonzert und später,
nachdem er sich von den Fähigkeiten des Bestellers überzeugt
hatte, ein Balalaika-Konzert. Der erste Satz eines Cellokonzerts
blieb unvollendet. Sein Kontrabaßkonzert halte ich für
den gehaltvollsten und eigentümlichsten Beitrag zur Konzertliteratur
dieses nicht sehr reich bedachten Instruments.
Die meisten dieser Werke liegen heute in Plattenaufnahmen vor, wie
auch die beiden spannungsgeladenen, von meisterlicher Ökonomie
der Mittel zeugenden, unaufhaltsam dem tragischen Ende entgegensteuernden
Opern über national-estnische Sujets, 'Barbara von Tisenhusen'
und 'Der Pfarrer von Reigi', die er 1968 und 1971 im Auftrag des
Estonia-Theaters Tallinn schrieb. Und doch, trotz des unbestrittenen
Erfolgs seiner Bühnenwerke, ist Tubin, der über seine
Musik nicht redete, stets primär Symphoniker geblieben. Das
aber sprach sich erst nach seinem Tode herum. Man entdeckte ihn
zu spät. Neeme Järvi nahm sein gesamtes Orchesterschaffen
für das schwedische Label BIS auf. Leider sind Järvis
Einspielungen von extremer Oberflächlichkeit geprägt,
von strukturellem Verständnis und Einfühlung kann die
Rede nicht sein. Insofern ist es ein großes Glück, daß
sich Arvo Volmer mit dem Estnischen Nationalen Symphonie-Orchester
daran gemacht hat, für die kleine finnische Company Alba Records
eine zweite Gesamtaufnahme der Symphonien vorzulegen. Die Esten
spielen mit einer identifikatorischen Kraft und strukturbewußten
Hingabe, die keinen Zweifel an der zeitlosen Qualität dieser
Musik übrigläßt und ihre wahre Größe
unwiderstehlich entfaltet. Da zum Zeitpunkt dieser Produktion die
Achte Symphonie unter Volmer noch nicht erschienen ist, müssen
wir uns für dieses eine Mal auf Järvis Aufnahme stützen.
In der 1955 komponierten Siebten Symphonie hatte sich Tubins seit
der Fünften eingeschlagener und in der Sechsten vehement vorangetriebener
Weg hin zu einer abstrakter geprägten, scheinbar distanzierteren,
das jugendlich Schwärmerische hinter sich lassenden Klassizität
fortgesetzt. Die Achte Symphonie, komponiert 1966, ist der tragische
Höhepunkt dieser Entwicklung. Sie ist in ihrer fast unnahbaren
harmonisch-rhythmischen Eigenart eine symphonische Sphinxgestalt.
Indem Tubin 1961 schwedischer Staatsbürger geworden war, konnte
er endlich gefahrlos seine estnische Heimat bereisen, was er denn
auch sogleich tat. Dies zog übelste Verdächtigungen und
Befehdungen von Seiten estnischer Emigrantenkreise nach sich. Tubin
bekannte denn auch, er habe "eine ziemlich schwere Zeit nach
meiner ersten Reise nach Estland gehabt […] Eine solche Reise
wurde als Kollaboration mit den unterdrückenden Mächten
angesehen. Ich nehme an, daß sich der Zorn über die vielen
mich beschimpfenden Artikel in mir aufstaute und sich im Finale
der Achten Symphonie entlud, wo überspannte Tonwiederholungen
wie eine Art 'Hymne auf mich selbst' klingen. Wenn der Mensch älter
wird, traut er sich, seine Gefühle zu zeigen, er wagt es, zu
lachen und zu weinen."
Es folgt das Finale, 'Lento, tenuto e maestoso' aus der 1966 komponierten
Achten Symphonie von Eduard Tubin, gespielt vom Symphonie-Orchester
des Schwedischen Rundfunks unter Neeme Järvi.
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8. Symphonie (1966): 4. Satz 'Lento, tenuto e maestoso'
Symphonie-Orchester des Schwedischen Rundfunks, Neeme Järvi
(Stockholm, 1986)
BIS-CD 342 (Vertrieb: Klassik-Center); LC 3240
Track 7 (Dauer: 7'33)
Als ihn ein Reporter fragte, wie er das Dasein als estnischer Exilant
und zu wenig anerkannter Komponist in Schweden überstanden
habe, ohne bitter zu werden, antwortete Eduard Tubin: "Aber
mein Lieber, wofür könnte es gut sein, bitter zu werden?
Das hilft überhaupt nicht. Natürlich habe ich mich anfangs
sehr nach meiner Heimat gesehnt. Alles, was ich dort hatte, mußte
ich zurücklassen, und plötzlich bin ich hier und arrangiere
Barockmusik [in Drottningholm]! Doch ich konnte darüber hinwegkommen."
"Und wie konnten Sie darüber hinwegkommen?" "Manchmal
nahm ich einen Schluck Wodka und wurde fröhlicher."
Nach der rätselhaft düsteren, komplex sich auftürmenden
Achten, aus der soeben das Finale zu hören war, vollendete
Eduard Tubin noch zwei weitere Symphonien: 1969 die zweisätzige,
knapper dimensionierte Neunte, die er als 'Sinfonia semplice' bezeichnete,
und 1973 die Zehnte Symphonie, die wie einst schon Schönbergs
Kammersymphonie oder die Siebente von Sibelius die einzelnen zueinander
kontrastierenden Sätze in einem einzigen Satz umschließt
und vereinigt. Doch bedurfte es für Tubin nicht der Macht des
großen Orchesters, um große, symphonische Musik zu schreiben.
Das Lieblingsstück seines 1942 geborenen Sohns Eino, der heute
in der Türkei lebt und zu diesem Porträt wichtige Informationen
beitrug, ist die 1963 komponierte 'Musik für Streicher'. Wie
die meisten von Tubins Symphonien ist sie dreisätzig, mit der
eingeschränkten klanglichen Vielfalt jedoch nur halb so lang
aber keineswegs weniger dicht und substantiell als die Symphonien.
Wir hören nun den Kopfsatz daraus, eine variantenreiche Passacaglia
von eindringlicher Sprachkraft, ohne eine Spur von Redseligkeit.
Die Musik eines Überlebenden, nicht glückstrahlend zwar,
aber auch nie klagend. Juha Kangas leitet das Ostrobothnian Chamber
Orchestra in einer exzellenten, sehr expressiven Darbietung.
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Music for Strings (1963): 1. Satz 'Moderato'
Ostrobothnian Chamber Orchestra, Juha Kangas (Kaustinen, Mai 1997)
Finlandia CD 3984-21448-2 (Vertrieb: Warner Classics) LC 1169
Track 12 (Dauer: 5'00)
Die Musik für Streicher, vortrefflich gespielt vom Ostrobothnian
Chamber Orchestra unter Juha Kangas, ist in der Bescheidung der
klanglichen Mittel ein Gegenpol zu den maximalen Kontrasten, die
das große Orchester bereitstellt und die Eduard Tubin als
Medium nutzte, um seine Zuhörerschaft in eine andere Welt mitzunehmen.
Diese Welt liegt jenseits der Klänge, welche den Sirenen gleich
das Publikum in Bann ziehen. Tubin gelang es, wie nur ganz wenigen
Komponisten im 20. Jahrhundert, den Hörer mit der Banalität
zu verlocken und ihn mit symphonischen Mitteln auf den Weg in die
Transzendenz des klingenden Materials zu schicken. Wie könnte
dies rabiater erfolgen als mit der auf Rumba-Rhythmen in den Abgrund
treibenden Jazz-Kapelle, die das große Orchester im zweiten
Satz, Molto allegro, seiner 1954 vollendeten Sechsten Symphonie
beschwört. Zum Abschluß folgt der Schlußteil dieses
Satzes mit dem Estnischen Nationalen Symphonie-Orchester unter Arvo
Volmer. Tubin stellte übrigens fest, er kümmere sich "nicht
darum, aufzufallen. Ich habe meine eigenen Ideen, ich schreibe sie
nieder und schaue, was aus ihnen wird. Das ist für mich die
wichtigste Sache…" Umsomehr möge seine Musik künftig
auch hierzulande auffallen.
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6. Symphonie (1952-54): Ausschnitt aus 2. Satz 'Molto allegro'
Estnisches Nationales Symphonie-Orchester, Arvo Volmer (Tallinn,
November 1999)
Alba ABCD 147 (Vertrieb: Klassik-Center)
Track 5, 6'00-Schluß, einblenden (Dauer: 3'39)
Informationen zu Eduard Tubin über:
EDUARD TUBIN SOCIETY
Endla 3, Room 2150
10122, Tallinn
Estonia
Tel. & Fax. 00372/63 07 465
Tubina.y@mail.ee
http://www.kul.ee/emc/ets
Sendemanuskript für BR 2 (Redaktion: Wilfried Hiller)
Produktion: 2.10..2002
Erstsendung: 15.10..2002, 23'05, "Musik unserer Zeit"
Christoph Schlüren 10/2002 |