Musikgeschichte wird, vor allem in
unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen, meist in Trends,
Strömungen und Kategorien geschrieben, die stets mit wenigen
überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht
werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch viele jener
Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz Großen"
gezählt werden, Persönlichkeiten sind, deren Werdegang
und Werk in keine Schublade paßt, sondern eine eigene Kategorie
begründet. Als einer der großen Sinfoniker des 20. Jahrhunderts
schlug er Brücken, die über die Verbindung östlicher
und nordischer Welt hinausgingen: der Este
Eduard Tubin (1905-82).
Unauflösliche Stilfusion
(Anspieltip: Sinfonien Nr. 5 und 6)
Was Sibelius für Finnland, Schostakowitsch für Russland,
Nielsen für Dänemark, Pettersson für Schweden oder
Sæverud für Norwegen waren, das war Eduard Tubin für
Estland: der zentrale Sinfoniker. Allerdings unter speziellen, durchaus
tragischen Umständen: Ab 1944, mit seiner Flucht vor der Roten
Armee, wirkte er bis zu seinem Tod als Emigrant in Schweden. Lange
Zeit waren seine Werke im sowjetischen Estland verboten. Tubin wurde
am 18. Juni 1905 als Sohn eines Fischers in einem kleinen Dorf geboren.
Nach dem Lehrerdiplom trat er in die Kompositionsklasse des legendären
Heino Eller (1887-1971) ein, zu dessen Schülern über Generationen
hinweg die meisten bedeutenden Komponisten Estlands gehören
sollten, darunter Arvo Pärt, Boris Parsadanian, Jaan Rääts
und Lepo Sumera. Ellers großes Verdienst bestand darin, ein
solides technisches Fundament zu legen, ohne der jeweiligen Persönlichkeit
stilistische Fesseln anzulegen. Allerdings hört man in den
großen während der dreißiger Jahre entstandenen
Werken Tubins wie seinen ersten zwei Sinfonien durchaus noch Nachklänge
von Ellers romantisch zauberischem Orchestersatz, wobei Tubin freilich
bereits hier in der weit disponierenden Verarbeitung und Steigerung
über die impressionistische Palette seines Lehrers hinausgeht.
Die zweite Sinfonie mit dem Beinamen "Légendaire"
ist seine meistgespielte geblieben. Zudem war Tubin seit Ende der
zwanziger Jahre im Gefolge von Mart Saar (1882-1963) an der nationalen
Folklore interessiert. Nach der Begegnung mit Zoltan Kodály
in Budapest 1938 intensivierte er die Verarbeitung musikalischen
Volksguts, das er in späten Jahren auf unnachahmlich persönliche
Weise in Violin-, Klavier- und Orchesterwerken adaptierte.
Faszinierend ist die schillernde Stilfusion vor allem in seinen
Reifewerken ab der vierten und fünften Sinfonie (1943 und 1946),
wo sich zunehmend Elemente sinfonischer Tradition, altmeisterlicher
Kontrapunktik, barbarischer Rhythmik, modal geprägter zeitgenössischer
Harmonik, estnischer Folklore und authentischer Unterhaltungsmusik
unauflöslich durchdringen und eine organische, vor Überraschungen
überbordende Einheit bilden, die oft auf freier Handhabe strenger
Formtypen (Passacaglia, Fugato etc.) fußt. Gerade die grellen
Blüten trivialer Tanzmusik, eingewoben im dramatischen Kontext
des Finales der fünften oder in der orgiastisch aufgipfelnden
sechsten Sinfonie, sind von schlagender Originalität fern oberflächlichen
Zitierens. Es muß verwundern, daß diese beiden Sinfonien
in ihren drastischen Stimmungsumschwüngen, ihrer suggestiven
Orchesterbehandlung und konzentrierten Faktur hierzulande noch immer
auf den Siegeszug durch die Konzertsäle warten. Sie sind den
stärksten Schöpfungen Schostakowitschs an die Seite zu
stellen. Die Sinfonien Nr. 7, 9 und 10 (letztere einsätzig)
sind knapper in der Faktur, inhibierter im Ausdruck, spiegeln unterschiedlichste
Anregungen (Sibelius, Bruckner, Nielsen etc.) in unverwechselbarer
Eigenart. Am eigentümlichsten ist wohl die sphinxartige, extrem
kontrastreich aus reduziertem Material expandierende achte Sinfonie
von 1966 geraten. Ähnlich wie die drei Jahre zuvor entstandene
Musik für Streicher ist sie von düsterer Glut erfüllt,
spiegelt ergreifend die Einsamkeit fern der Heimat.
Im von der modernistischen Monday-Group beherrschten Schweden konnte Tubin
kaum mehr als Achtungserfolge verbuchen, mußte sich
neben Tätigkeiten als Chordirigent und Kopist als Arrangeur
alter Musik am Hoftheater Drottningholm durchschlagen. Sein internationaler
Durchbruch auf Schallplatten kam erst nach seinem Tod am 17. 11.
1982 in Stockholm mit Neeme Järvis Sinfonien-Zyklus bei BIS.
Heute ist zu hoffen, daß Alternativaufnahmen die Sicht auf
Tubins Werk erweitern, denn schon Peeter Liljes vergriffene Aufnahme
der Zweiten (Melodiya) offenbarte lyrischere, sensitivere Einsichten
als Järvis flott zupackende Art, die die martialisch wuchtige
Seite überbetont. Die derzeit überzeugendste, energetisch
gebündeltste Orchesteraufnahme ist Juha Kangas mit der Musik
für Streicher gelungen. Tubins Violinkonzerte, überhaupt
seine Violinwerke, haben alle Qualitäten, um ins geigerische
Standardrepertoire einzugehen. Sein Kontrabaßkonzert ist ein
singuläres Juwel, desgleichen die zweite Klaviersonate. Sehr
wirkungsvoll ist die Suite zum Ballett "Kratt". Die beiden
Opern berücken mit ursprünglicher Kantabilität. Das
späte "Requiem für gefallene Soldaten" kann
man in seiner herb-innigen Schlichtheit karg nennen, ohne daß
irgendetwas fehlte oder hinzugefügt werden könnte. Denn
innerer Reichtum, unbeugsamer Ausdruckswille und zusammenhängend
formende Kraft sind Eigenschaften, die eigentlich jedem Opus dieses
distinguierten Erzmusikanten eignen.
Christoph Schlüren
(Längere Fassung eines 'Kleinen Lauschangriffs'
für Klassik Heute, 1999)
Diskographie
Sinfonien (Dirigent: Neeme Järvi): Nr. 1 (+ Balalaikakonzert,
BIS 351), Nr. 2 und 6 (BIS 304), Nr. 3 und 8 (BIS 342), Nr. 4 und
9 (BIS 227), Nr. 5 (+ Kratt-Ballettsuite, BIS 306), Nr. 7 (+ Sinfonietta
über estnische Motive, Klavier-Concertino, BIS 401), Nr. 10
(+ Requiem für gefallene Soldaten, BIS 297)
Violinkonzert Nr. 1, Suite über estnische Tänze etc.;
M. Lubotsky (Vl.), Göteborgs SO, N. Järvi (BIS 286)
Violinkonzert Nr. 2, Kontrabaßkonzert, Estnische Tanzsuite
etc.; G. Garcia (Vl.), H. Ehrén (Kontrabaß). Göteborgs
SO, N. Järvi (BIS 337)
Musik für Streicher (+ Werke von Eller, Pärt, Rääts,
Sumera, Tüür); Ostbottn. Kammerorch., J. Kangas (Finlandia/east-west
3984-21448-2)
11. Sinfonie und Elegie/orch. K. Raid (+ Raid: 2. Sinfonie); Estn.
Nat. SO, A. Volmer (Koch 3-7291-2H1)
Sämtliche Werke für Violine und Klavier, Viola und Klavier,
Violine Solo; A. Leibur (Vl.), P. Vahle (Va.), V. Rumessen (Klavier);
(BIS 2 CDs 541/42)
Komplette Klaviermusik; V. Rumessen (BIS 3 CDs 414/16)
Streichquartett, Elegie, Klavierquartett (+ Werke von Pärt
und Tüür); Tallinn Quartett, L. Derwinger (Klavier); (BIS
574)
Violinsonate Nr. 2, Altsaxophonsonate, Männerchorwerke etc.
(BIS 269)
Komplette Männerchorwerke; Estn. Nat. Männerchor, A. Soots
(Forte/Liebermann FD 0056/2)
Barbara von Tisenhusen (Oper in 3 Akten); Estnische Opernkompanie,
P. Lilje; Ondine 2 CDs 776-2D
Der Pfarrer von Reigi (Oper in 6 Szenen), Requiem für gefallene
Soldaten; Estn. Opernkompanie, Estn. Nat. Männerchor, P. Mägi,
E. Klas (Ondine 2 CDs 783-2D
Vertriebe: BIS bei Klassik-Center, Ondine bei Note 1)
(Stand: Juni 1999)
|