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Space-Brimborium
neontöniger Erleuchtung

Stockhausens Michaelion in der Musica viva uraufgeführt

München. Nachdem sich im Januar in der zuletzt boomenden Musica viva-Reihe des Bayerischen Rundfunks Karlheinz Stockhausens Anbetungsritual INORI als Kultereignis herausgestellt hatte, war der Publikumserfolg dieser Uraufführung voraussehbar: Im ehrwürdigen Prinzregententheater hob der von Rupert Huber glänzend einstudierte Südfunk-Chor Stuttgart mit Stockhausen-erprobten Solisten die einstündige, abschließende vierte Szene aus Mittwoch aus Licht, das Michaelion, aus der Taufe. Der Auftrag kam von der Musica viva zum 70. Geburtstag des Komponisten, der selbst vom Mischpult aus die künstlerische Leitung und Klangregie innehatte und mit markigen Worten die Einmaligkeit der Aufführungsbedingungen unterstrich und den messiantischen Anspruch seines Werks für eine künftige Aufführungspraxis anmeldete. Noch gäbe es in Deutschland kaum mehr als vier Chöre von einer seinen Anforderungen angemessenen Qualität, aber in einigen Jahrzehnten könnten es vielleicht, dank seiner Vorreiterrolle selbstverständlich, hundert Chöre höchsten Niveaus sein… Das Träumen ein Traum.
In der Tat kann die Leistung der Ausführenden dieses Werks, das konzertant bestellt und buntscheckig-szenisch abgeliefert wurde, kaum genug gewürdigt werden. Alle Stimmen wurden direkt aus der Partitur in ihrem Zusammenhang mit dem übrigen Geschehen auswendiggelernt und minutiös eingeübt, was in der Koordination scharfer, offener Rhythmen in räumlich oft äußerst heikler Abstimmung deutlich zu hören war. Dabei ist die Musik rhythmisch, melodisch und auch harmonisch sehr uninteressant und ermüdend. Wie schon in den vielen Vorgängerwerken teilt sich Stockhausens strukturelles Hauptanliegen, das schroffe Aufeinanderprallen sehr kompliziert gegeneinander opponierender absoluter Geschwindigkeiten, mangels erlebbarer Relation nicht mit und bleibt für den Hörer abstrakte Rechnerei – hier hat sich der Komponist in eine nur mit unermüdlicher Spezialisierung erreichbare Wahrnehmungsnische zurückgezogen. Diese Nische ist ihm aber so sehr zur zweiten Natur geworden, daß er im Ernst glaubt, sie biete Zukunftsraum für alle. Was sich auch im Michaelion wieder vor allem mitteilt, ist die klangauratische Begabung Stockhausens, der eink geradezu hypnotische Stimmung herzustellen vermag, den ganzen Raum klingeln, glitzern, funkeln und flackern machen kann.

Dabei läßt die instrumentale Balance erheblich zu wünschen übrig: So gut Trompete, Posaune sowieso, auch Bassetthorn meistens zu hören sind, so schlecht ist es um die Durchsetzungskraft der Flöte bestimmt – sie fällt bei der Verstärkung schlicht unter den Tisch. Auch Michael Vetters Blockflötenspiel bleibt meist auf den optischen Eindruck reduziert. Umso mehr vermag Vetter als "Operator" mit seinen übrigen Gaben fesseln: Oberton-singend, grummelnd, überfallsartig gestikulierend, hemmungslos schauspielernd auf dem für ihn bereiteten Podest – "Operator for president".
Einige absurde Albernheiten werden nebenbei als quiekendes Knabbergebäck ausgegeben. Das Michaelion ist nichts anderes als das Parlament des Universums, in dem ein neuer Präsident gewählt wird. Torero "Posaunuß" fordert "Luzikamel" heraus und unterliegt. Dem siegreichen Trampeltier entsteigt "Operator" Vetter und wird inthronisiert. Er empfängt Kurzwellen-Signale aus dem All und schickt die Delegierten in den (Zuschauer-)Raum hinaus, um diesen und schließlich sogar das Foyer mit der allmählich verebbenden Schallflut froher Botschaften zu durchtränken. Die zwischendurch ein wenig epileptische Ekstase der Musik paßt gut zum skrupellos privatreligiös aufgedonnerten Gegenstand: "Hört Menschen: in unserer Stimme steht – Stimme der Intuition –, Liebe auf ewig zu singen in sorgfältiger Formel-Musik zum Lob Gottes: HU!" Auch dies eine Methode postpsychedelischer Aggression: dem Publikum mit Neontönen die "Erleuchtung" einstanzen. Pink Floyd haben das einst unbedarfter aber liebevoller und letztlich sogar eleganter gemacht. Insofern ist Stockhausens überflutendes Space-Brimborium in seiner positivistischen Blindflugtrunkenheit gar recht betagt, ein bißchen wie Echos aus der Hippieeulen-Strafkolonie. Hinzu kommt der abstruse Text. Das erzeugt ratlose Faszination. Michaelion wurde – mit einer Pause – gleich zweimal gegeben. Die Wiederholung mutierte über weite Strecken zu hohltönender Vereinnahmung bei grell angehobenen Lautstärken und stieß – Folge auch der Nachwehen jahrzehntelangen Münchner Stockhausen-Entzugs? – auf vehemente Zustimmung.

Christoph Schlüren
(Rezension für Frankfurter Rundschau)