Es läßt sich nicht leugnen: Die tradierte Münchner Reihe für
neue Musik des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, die
musica viva, boomt, seit Udo Zimmermann die künstlerische Leitung
innehat. Den Höhepunkt erreichte der verblüffende Publikumszuspruch
jetzt mit lange vorher ausverkauftem Haus bei der ersten Münchner
Aufführung von Karlheinz Stockhausens Anbetungen für zwei
Solisten und Orchester INORI von 1973/74. Stockhausen selbst dirigierte
erstmals in der musica viva. Grund genug also, dies als lokales
Großereignis zu zelebrieren.
In INORI praktizierte Stockhausen erstmals das, was er als konsequente
Spreizung der Grundformel, der Urgestalt in den Zeitraum, als deren
Projektion in die Großform versteht. In siebzig Minuten wächst
ein esoterisch übertünchtes Ritual östlich inspirierter
Gebärden westlicher Machart von kaum vom Fleck rückender
Beharrung zu eckig aufhüpfender Ekstatik. Der Anfang benimmt
sich, als gälte es, überhaupt erst Vorbedingungen für
klangliche Suggestion ins Werk zu setzen: monoton im Ursinn des
Wortes. Aus der Eintönigkeit schält sich allmählich,
stückchenweise, eine entsubstantialisierte, mechanistisch dekorative
Melodik heraus, die weniger ausrichtet als das synthetische Spiel
der Farben und raffinierten Raumwirkungen, die in ungewöhnlicher
Orchesteraufstellung und ausgeklügelter Schallvernetzungs-Geometrie
gründen. Hierin ist Stockhausen von kaum erreichbarer Professionalität.
Von seinem Dirigat ist solches nicht zu berichten: Elf Tage Proben
hat man ihm zugestanden. Um die optimal zu nutzen, müßte
seine Geste die Proportionen der kleinen rhythmischen Werte übermitteln,
denn es genügt nicht, daß er exakt die absoluten metronomischen
Dauern schlägt. Das kann jede Maschine besser, und vieles ist
nur sehr ungefähr zusammengehalten. Die in vertrackt gebrochenen
Proportionen zueinander stehenden Geschwindigkeitseinheiten sind
durch logarithmische Verhältnisse koordiniert. Ob sich diese labyrinthischen Beziehungen
in der doch wohl intendierten Besonderheit übertragen,
womöglich mit einer psychologischen Motivation, das sei dahingestellt.
In sich sind die rhythmisch so kompliziert aufeinander folgenden
Sets hingegen sehr primitiv strukturiert. In Ermangelung der Erlebniskriterien
der rhythmischen Kombinatorik muß sich der Hörer jedenfalls
ganz dem sensitiv-artifiziellen Farbenzauber zuwenden, um auch genießen
zu können.
Die erste Hälfte des siebzigminütigen Satzes inszeniert
das in Gang Setzen der eigentlichen Szenerie, was dann in vielleicht
zwanzig Minuten faszinierend kohärenter Inkantation einmündet.
Danach herrscht eine gewisse innendramaturgische Verlegenheit, die
außermusikalisch ausgeglichen wird: die beiden parallelgesteuerten
Tänzer-Mimen, die bis dahin auf ihrem über dem Dirigenten
errichteten Podest die Musik mit Gebetsgesten garnieren, entfalten
eigendynamische Aktivität: zuerst der Mann, dann die Frau.
Für sich genommen agieren beide überzeugend, mit Konzentration.
Im akustischen Milieu läßt sich das nirgends verankern
und degeneriert zu scheinspirituellem Schnickschnack. Da spielen
zweierlei Aktionen gesamtkunstwerkelnd nebeneinanderher, die nur
der fromme Wunsch, der Schein möge bitteschön zum Sein
sich rappeln, fusioniert. Hier überhob sich der rheinische
Klanggott schon vor Beginn seines Licht-Zyklus. Dessen ungeachtet
war das Münchner INORI-event ein beträchtlicher Publikumserfolg.
Endlich Stockhausen.
Christoph Schlüren
(Rezension für Frankfurter Rundschau) |