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Robert Simpson (1921-1997)

Portrait

Musikgeschichte wird, vor allem in unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen, meist in Trends, Strömungen und Kategorien geschrieben, die stets mit wenigen überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch viele jener Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz Großen" gezählt werden, sehr eigenartige Persönlichkeiten sind, deren Werdegang und Werk in keine vorhandene Kategorie paßt, sondern seine eigene Kategorie begründet. Diesen Tonschöpfern widmen wir künftig, sofern die Präsenz auf CD zureichend und das Œuvre interessant ist, diese fortlaufende Portraitseite – als Anregung für die Erschließung des (noch) Unbekannten.
Portrait Robert Simpson (1921-97)
Die Sinfonie sei tot mit dem Verklingen der Romantik, mit dem Fall unserer herkömmlichen Tonalität, sie sei mit den aktuellen Bedürfnissen nicht mehr in Einklang zu bringen, so belehrten uns immer wieder berufene Vordenker des musikalischen Fortschritts. Die solchem leichtgefällten Urteil kreativ und lebendig widersprachen, galten schnell als unzeitgemäß. Daß aber sinfonische Musik, wenn sie von echter Qualität ist, lebt wie eh und je, beweisen beispielsweise die Werke von Dmitrij Schostakowitsch. Als der Engländer Robert Simpson am 21. November vergangenen Jahres starb, hinterließ er wie Schostakowitsch 15 Streichquartette. An Sinfonien dagegen brachte er es "nur" auf elf, denn einen großen Teil seines Lebens war er mit den Werken anderer Komponisten beschäftigt. Simpson, geboren am 2. März 1921, sollte zunächst Arzt werden. Nachdem er während des Krieges bei Herbert Howells Harmonie und Kontrapunkt studiert hatte, erwarb er 1951 seinen "Doctor of Music" mit Vorlage seiner 1. Sinfonie. Im selben Jahr begann er seine Tätigkeit als Produzent beim BBC, die er 1980 aus Protest gegen die neue Musikpolitik des Senders niederlegte. Die späte sinfonische Blüte Havergal Brians wäre ohne seine fortwährende Unterstützung undenkbar gewesen, und die Durchsetzung der Musik Anton Bruckners und Carl Nielsens (über die er grundlegende Studien vorlegte) auf der Insel ist vor allem seinem Einsatz zu verdanken. Neben diesen beiden Komponisten waren es vor allem Bach, Haydn, Beethoven und Sibelius, die sein eigenes Schaffen beeinflußten. Als Mentor hat er einige wichtige Sinfoniker der jüngeren Generation wie Halvor Haug, Matthew Taylor oder John Pickard geprägt. Seit die Aufnahme seiner 9. Sinfonie 1989 einen Gramophone Award erhielt, wurde sein Schaffen in Großbritannien bekannter. Internationale Erfolge stehen noch aus.
In Sinpsons frühen Werken seit der 1. Sinfonie ist der Einfluß Nielsens offenkundig, wenngleich von Anfang an ins Persönliche integriert. Bruckners Widerhall ist am vernehmlichsten in der 9. Sinfonie, was auch von Simpson selbst in der beigefügten, sehr klaren Einführung bestätigt wird. Doch viel wesentlicher sind bei ihm die nicht offensichtlichen Einflüsse. In seiner ganz eigenen, mit Dissonanzen aller Grade arbeitenden freitonalen Sprache baute er jedes Werk nach einem neuen, einmaligen Plan auf. Diese architektonischen Rahmenbedingungen bezogen sich oft auf klassische Vorbilder, schufen jedoch adäquate Gebilde aus völlig anderem Material. Simpson legte grundsätzlichen Wert auf das organische Erwachsen der Satzstruktur aus den Motiven selbst, was auf der Basis eines durchgehenden harmonischen Plans geschah, dessen Entwicklungsprinzipien stark durch das Studium seiner Vorbilder angeregt sind. Seine Werke sind streng durchorganisiert und man hat nie den Eindruck des Zufälligen, sondern eher den unergründlich aus den Tonbeziehungen heraus motivierter Fortschreitung.

So geschieht meist nicht das konventionell Naheliegende, aus der Situation Assoziierte, sondern jeder Moment ist gesteuert von den umfassenderen Gesetzen des Werkganzen. Simpsons technische Meisterschaft knüpft an die ganz großen Kontrapunktiker an, was in Werken wie der 9. Sinfonie und dem 9. Streichquartett gipfelt. Letzteres besteht aus 32 Variationen und einer großen Fuge über ein Thema von Haydn, dessen zweite Hälfte die exakte Spiegelung der ersten ist. Folglich sind auch alle Variationen spiegelförmig gebaut, und doch klingt es nicht akademisch. Seine Kammermusik ist überall von höchster durchführender Qualität. Die 50minütige 9. Sinfonie vereint drei Abteilungen in einem Satz mit festgelegten Tempoverhältnissen. Der erste Teil ist ein gigantisches Choralvorspiel, das sich erst nach einiger Zeit als solches zu erkennen gibt. Der letzte Satz der herrlich rauhen, dunklen Zehnten ist eine am "Hammerklavier"-Vorbild orientierte Monumentalfuge. Der Finalsatz der Dritten wiederholt mit anderen Mitteln die Zauberei eines kontinuierlichen Accelerando wie im Kopfsatz von Sibelius’ Fünfter. Dem Einsteiger sei zu den Sinfonien Nr. 5 oder 7 geraten, die beide aus einem akkordischen Grundmaterial ihre gesamte Entwicklung ableiten. Simpsons Orchestration ist immer klar, die Gesamtstruktur verdeutlichend, aus der Linie heraus empfunden in einer Spannweite von klassischer Gemessenheit bis hin zu kühner Extremerfahrung. Zu massivsten Aufgipfelungen kommt es am Ende der 4. und vor allem 6. Sinfonie. Beginnt der Simpson-Neuling mit der Achten, so könnte es vielleicht zu einer Abschreckung kommen: Es könnte ihm geschehen, daß er sich mittenhinein in ein äußerst komplexes Geschehen geworfen fühlt, dessen Gründe für ihn erst nach und nach mit mehrfachem Hören mitvollziehbar werden. Simpsons Musik folgt, bei aller Wechselwirkung mit ihren Vorbildern, ihren ureigenen Gesetzen, und dies in jedem Stück neu.
Christoph Schlüren

(Längere Fassung eines 'Kleinen Lauschangriffs' für Klassik Heute, April 1998)
 
 
Diskographie:
Sämtliche CDs bei Hyperion (Vertrieb: Koch)
Sinfonien (Dirigent: Vernon Handley): Nr. 1+8 (66890), Nr. 2+4 (66505), Nr. 3+5 (66728), Nr. 6+7 (66280), Nr. 9 (66299), Nr. 10 (66510);
Streichquartette: Nr. 1+4 (66419), Nr. 2+5 (66386), Nr. 3+6 (+ Streichtrio, 66376), Nr. 7+8 (66117), Nr. 9 (66127), Nr. 10+11 (66225), Nr. 12 (+ 1. Streichquintett, 66503), Nr. 13 (+ 2. Streichquintett, Klarinettenquintett, 66905), Nr. 14+15 (+ Quintett für Klarinette, Baßklarinette und Streicher, 66626);
Trio und Quartett für Horn, Streicher und Klavier (66695);
Sonate für Violine und Klavier, Klaviertrio (66737);
Komplette Solo-Klaviermusik (66827);
Musik für Blechbläserensemble (66449).
außerdem bei BBC Radio Classics (John Ogdon live 1967, Vertrieb: Fono):
Klavierkonzert (+ Konzerte von Rawsthorne, 15656 91762).
(Stand: März 1998)