Die 1986-87 komponierte Neunte Symphonie in Dis von
Robert Simpson erstreckt sich in einem einzigen, zwei große
Abteilungen umfassenden Satz über fünfzig Minuten. Das
ganze Werk ist von einem unveränderten Grundpuls getragen,
der die wechselnden Tempi in strenger Relation zusammenhält.
Der weitgespannte erste Teil, dessen Beginn soeben zu hören
war, ist in der Art eines Choralvorspiels gehalten. Die harmonische
Progression des Beginns bewegt sich konstant in aufsteigenden Quarten,
die den gesamten Quintenzirkel abwärtsschreitend durchqueren.
In immer neuen Anläufen wird ein gewaltiger Spannungsbogen
errichtet, der im anschließenden Scherzo in einem massiven
Höhepunkt gipfelt. Der eigentliche Höhepunkt des Werks
wird im daran anknüpfenden Adagio erreicht, das fugiert anhebt
und mit Variationen über ein Palindrom, ein spiegelförmiges
Thema, fortschreitet, um in eine ruhevolle Coda auszumünden.
Simpson bekannte, in diesem Satz habe er "einiges von Bruckners
Adagios lernen müssen".
"Der Begriff der Symphonie ist zu unbestimmt geworden. Einige
Komponisten nennen ihre Werke Symphonien, ohne daß sie bezwingend
symphonisch konzipiert wären. Das geht zurück auf die
sogenannten Symphonien Strawinskijs, die sich meines Erachtens nicht
grundsätzlich unterscheiden von seinen brillanten Ballettmusiken.
Es sind ausgesprochen imaginative Werke, aber als Symphonien im
Sinne einer organisch sich entfaltenden Gesamtheit kann ich sie
nicht sehen. Diesen Sinn für organischen Zusammenhang läßt
Musik unserer Zeit häufig vermissen, diese Kraft der Fortschreitung,
die die Klassiker haben."
Als Robert Simpson am 21. November 1997 starb, war er als Komponist
nach einem schweren Schlaganfall, der ihn 1991 in einem ständigen
Schmerzzustand hinterlassen hatte längst verstummt.
Bis dahin hatte er elf Symphonien, 15 Streichquartette und viel
weitere Orchester- und Kammermusik geschrieben ein uvre
von konstant höchstrangiger Qualität. Indem er so intensiv
die tradierten Königsgattungen der Instrumentalmusik pflegte
und sein Hauptaugenmerk auf die Weiterentwicklung der klassischen
Formprinzipien richtete, mußte er oberflächlichen Beobachtern
als ein Konservativer erscheinen, auch wenn die herbe Eigenständigkeit
seiner Tonsprache, die unmittelbare emotionale Kraft seiner Formpsychologie
fernab sentimentaler Aufweichung nie ernsthaft bezweifelt werden
konnten. Indem er sich zu einer Zeit, als der äußerliche
Fortschritt der musikalischen Mittel als oberstes Qualitätsmerkmal
galt, unbeirrbar zu seinen klassischen Wurzeln bekannte, trug sein
Schaffen den Stempel des "Unzeitgemäßen". Robert
Simpson dachte nicht nur beim Komponieren in anderen Kategorien
als die meisten seiner Zeitgenossen.
"Es erscheint mir bemerkenswert, daß ich niemanden kenne,
der fähig ist, eine Symphonie zu schreiben, und zugleich sagen
würde: 'Die Symphonie ist tot!' Die meisten Leute, die davon
reden, daß die Symphonie eine tote Form sei, sind solche,
die keine Symphonien schreiben wollen oder die es überhaupt
nicht können. Es ist nicht sehr fair, allen übrigen einzutrichtern,
daß die Symphonie tot sei und man keine mehr zu schreiben
hätte. Ich betrachte die Symphonie als eine extreme Herausforderung,
wie das immer gesehen wurde, seit sie sich als die am höchsten
organisierte Form von Orchestermusik durchsetzte; und seit der Zeit
Haydns und Mozarts, und natürlich seit Beethoven, verstehen
wir die Symphonie als die größte Herausforderung, der
sich ein Komponist stellen kann."
Anfang des 1. Satzes 'Allegro' der 5. Symphonie (1972);
Royal Philharmonic Orchestra, Vernon Handley;
Hyperion CDA 66728.
Der ganztönige Akkord, mit dem Robert Simpsons 1972 komponierte
Fünfte Symphonie im Pianissimo anfängt, ist der Grundklang,
mit dem das in fünf ineinander verschränkte Sätzen
untergliederte Werk nach vierzig Minuten auch endet. Mitten hinein
in die fast statische Ruhe fährt schlagartig das eigentliche
symphonische Allegro mit beethovenischer Entschiedenheit und Vehemenz.
Die symphonische Auseinandersetzung nimmt ihren Lauf und konstituiert
eine Form, die keinem vorgegebenen Schema gehorcht. In jedem Werk
gibt der Komponist durch die Wahl des motivischen Hauptmaterials,
durch die ersten harmonischen Schritte neue Entwicklungsgesetze
aus, die sich in einem jeweils einmaligen, lebendigen Formprozeß
manifestieren.
"Es gibt grundlegende Gemeinsamkeiten in den Werken, die ich
als wirklich symphonisch ansehe. Sie sind allesamt Werke, die einen
hohen Grad an organischem Wachstum, an Konzentration und Organisation
aufweisen, die damit in der Konzeption höherentwickelt sind
als beispielsweise ein mosaikartiges Stück, eine Art Suite
oder eine Ballettpartitur, wo Teile aufeinanderfolgen, die sich
nicht notwendigerweise zu einem umfassenden Organismus ergänzen.
Für mich bildet die Symphonie eine Analogie zu einem Lebewesen.
Dazu bedarf es wenigstens für mich einprägsamer
Ideen, die weiterentwickelt werden oder sich verwandeln können.
Der ganze Kompositionsprozeß beruht für mich,
wie für Sibelius darauf, einen Keim zu finden, aus dem
alles wachsen kann, wie eine Pflanze oder ein Tier. Wenn ich in
einer Symphonie von der Architektur spreche, so meine ich etwas
Organisches, ja geradezu Biologisches. Denn Kunst ist für mich
eine Entsprechung zum Biologischen, ohne welches wir nicht existieren
könnten. Der Komponist, der etwas schafft, ist selbst eine
biologische Ganzheit. Und was wir schaffen, kommt ja irgendwie aus
uns und ist eine Entsprechung zu uns."
aus dem 2. Satz 'Allegro' des 1. Streichquartetts (1951);
The Delmé String Quartet;
Hyperion CDA 66419.
Robert Simpson wurde am 2. März 1921 in Leamington Spa, England,
als Sohn einer Holländerin und eines Schotten geboren. Auf
Wunsch seiner Eltern studierte er zwei Jahre lang Medizin, bevor
er sich endgültig für den musikalischen Werdegang entschied.
Während des Krieges erhielt er Unterricht in Harmonie und Kontrapunkt
bei Herbert Howells, einem der wichtigsten englischen Komponisten
seiner Generation. Nach dem Krieg erwarb sich Simpson einen Ruf
als brillanter Lehrer und Musikschriftsteller, der 1952 das bis
heute grundlegende Standardbuch über den dänischen Symphoniker
Carl Nielsen vorlegte. Später sollte die klassische Studie
'The Essence of Bruckner' folgen.
1951 erhielt Simpson den Titel eines Doctor of Music für seine
erste Symphonie. Im selben Jahr begann er seine Tätigkeit als
Produzent bei der BBC, die er 1980 aus Protest gegen die Musikpolitik
des Senders anläßlich der künstlerischen Leitung
der Proms niederlegte. Er wurde schnell zu einem der angesehensten
und beliebtesten Musikredakteure der BBC und nutzte seine Position,
um zu Unrecht vernachlässigte Musik nachdrücklich zu fördern,
indem er eng mit dem BBC Symphony Orchestra unter Adrian Boult zusammenarbeitete.
Die Durchsetzung der Musik Anton Bruckners und Carl Nielsen auf
der Insel ist seiner Initiative zu verdanken. Er ermutigte den fast
achtzigjährigen Havergal Brian, weitere Symphonien zu schreiben,
indem er ihm Aufführungen garantieren konnte. So brachte es
Brian, der bis dahin sieben Symphonien komponiert hatte, noch auf
die unglaubliche Anzahl von 32 Symphonien.
Der Einfluß Carl Nielsens ist in Simpsons frühen Werken
Anfang der fünfziger Jahre offenkundig, wenngleich er wie ein
selbstverständlicher Aspekt der musikalischen Sprache anmutet,
nicht wie ein fremdes Element. Simpson hielt nichts von der Idee
einer Originalität um ihrer selbst willen und gab gerne Auskunft
über seine großen Vorbilder.
"Beethoven war immer das Zentrum meiner Welt. Außerdem
Mozart und Haydn: Für beide hege ich eine enorme Liebe. Die
habe ich alle sehr viel studiert. Nach Beethoven haben mich die
Symphoniker am meisten beeinflußt, die am wenigstens in die
romantisch-expansionistische Bewegung involviert waren in
diese Übertreibung der persönlichen Gefühle des Künstlers:
'Hier bin ich, ich leide aufs Entsetzlichste. Ich bin mitten auf
einer riesigen Bühne. Was für eine schreckliche Welt das
ist! Wie unglücklich ich bin! Es ist grauenhaft!' Der Künstler,
der mir mehr Befriedigung verschafft, ist einer, der mir sagt: "Schau,
was ich daraus machen kann, und wohin es sich entwickelt"
der sich nicht so sehr um das kümmert, was er sagt. Natürlich
müssen Sie etwas zu sagen haben. Aber wenn sich das zu sehr
im Persönlichen bewegt, geraten Sie schnell aus dem Gleis.
Womit Sie sich befassen müssen, ist der Vorgang der Schöpfung.
Wenn Sie etwas Menschliches zu sagen haben, etwas Individuelles,
mit echtem Charakter, dann kommt es in jedem Fall raus. Sie
können anstellen, was Sie wollen, es tritt sowieso zutage.
Und wenn Sie das nicht haben, so werden Sie es auch mit keinen Mitteln
produzieren können.
Nach den Klassikern ist es Bruckner, der mich sehr interessiert.
Bei ihm finde ich die architektonische Seite stimulierend und faszinierend,
doch auf meine Musik hat er nie einen offensichtlichen Einfluß
gehabt die ist nicht sehr brucknerisch, vielleicht mit Ausnahme
meiner Neunten Symphonie. Dann ist da Dvorák, den ich in
seinen besten Werken für einen sehr feinen und etwas vernachlässigten
Symphoniker halte, und natürlich Carl Nielsen und Jean Sibelius."
Immer wieder hat Simpson seine Formen auf klassische Formvorbilder
bezogen, hat im intensiven Austausch mit den Vorbildern eigene Lösungen
gesucht. Einige Kompositionen hat er gar über die konkrete
Form vorhandener Werke modelliert, so seine Streichquartette Nummer
drei bis sechs, die er als Studien über Beethovens drei Rassumovsky-Quartette
konzipierte bis in subtile Details hinein, jedoch durchweg
mit anderem klingenden Material, weswegen der darüber nicht
informierte Hörer allenfalls Übereinstimmungen in Gestus
und Proportionen erahnen kann. In freierer Form sind beispielsweise
das 11. Streichquartett von Beethovens Opus 95 oder der fugierte
Schlußsatz der 10. Symphonie von der Fuge aus der Hammerklavier-Sonate
beeinflußt. Solche Gleichzeitigkeit von Einfühlung in
das Werk eines anderen und Eigensprachlichkeit prädestinierte
Simpson als eminenten, stilsicheren Meister der Variationsform,
der auch bei großer Entfernung und Veränderung den Charakter
des Themas noch zu bewahren vermag, so im archaischen Tonfall fern
jeglicher Konvention seiner späten Variationen und Fuge über
eine Sarabande von Bach für Streichorchester von 1991. Im finalen
zweiten Satz seiner 1962 entstandenen Dritten Symphonie schuf er
mit völlig anderen Mitteln eine Form, wie sie vor ihm Sibelius
im Kopfsatz seiner Fünften Symphonie verwirklicht hatte: eine
kontinuierliche Beschleunigung vom Anfang zum Ende, die eine schlüssige
Gesamtgestalt ergibt. Es spielt das Royal Philharmonic Orchestra
unter Vernon Handley.
Zweiter Satz aus der 3. Symphonie (1962);
Royal Philharmonic Orchestra, Vernon Handley;
Hyperion CDA 66728.
Das Royal Philharmonic Orchestra unter Leitung von Vernon Handley
spielte den zweiten Satz aus Robert Simpsons Dritter Symphonie.
Simpson verfügte über eine überlegene technische
Meisterschaft wie nur wenige Komponisten in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts.
Sein 1982 entstandenes Neuntes Streichquartett
besteht aus 32 Variationen und einer großen Fuge über
ein Thema von Joseph Haydn, dessen zweite Hälfte die exakte
Spiegelung der ersten ist. Folglich sind auch alle Variationen spiegelförmig
gebaut. Doch muß der Hörer nichts davon wissen, und es
spielt, so Simpson, "keine Rolle, ob er nicht in der Lage ist,
eine Quinte von einer Frikadelle zu unterscheiden". Auf den
erlebenden Zugang kommt es an, und dies nicht nur für den Hörer.
"Wir müssen aufpassen, wenn wir über 'kompositorische
Techniken' sprechen. Denn eigentlich gibt es beim Komponieren nicht
wirklich so etwas wie 'Technik': Es geht nur um Imagination, um
die konkrete Vorstellung. Die Technik liegt darin, genau das zu
Papier zu bringen, was Sie in der Vorstellung hören, und das
ist manchmal sehr schwierig, vor allem, wenn die Ideen nicht so
konventionell sind. Also: Nicht die Technik kommt zuerst, sondern
die Vorstellung. Die großformatige Konzeption einer Symphonie
enthält womöglich eine große Vielfalt von Dingen,
und genau um diese Dinge geht es, nicht um Technik."
Die vielen überraschenden, originellen Details, die unerwarteten
Rückungen, Innehaltungen und Richtungswechsel in Roberts Simpsons
Musik sind stets aus dem übergeordneten Zusammenhang zu begreifen
aus einem Zusammenhang, der nicht nur in motivischer Verwandtschaft,
sondern vor allem in der Korrelation harmonischer Bezüge gründet.
Mit dem Prinzip tonaler Gravitation hat Simpson nie zu brechen versucht.
Vielmehr begriff er sich als Erforscher tonaler Räume.
"Die Tonalität, das Gefühl für Tonalität,
ist ein Sinn, über den Sie verfügen. Jeder Mensch verfügt
darüber. Die Tonalität kann natürlich modifiziert
werden, aber abschaffen können Sie sie genauso wenig, wie Sie
den Geruchssinn abschaffen können, es sei denn, Sie verlieren
die Fähigkeit der physischen Wahrnehmung. Tonalität ist
die direkte Folge der Tonschritte, der Intervalle, und die musikalischen
Intervalle lösen in Ihnen sehr unterschiedliche Empfindungen
aus. Terz und Quarte sind sehr verschieden. Die Sexte, die Septime
alle haben unterschiedliche Wirkung. Die Kombinationen wirken
sich verschieden aus, die Obertöne außerdem. Alle diese
Tatsachen schlagen sich in unserem Tonalitäts-Sinn nieder,
und ich habe nicht die Absicht, das alles zu ignorieren. Ich erforsche
und modifiziere das vielleicht, habe möglicherweise meine eigene
Art der Empfindung, aber nie hätte ich mich jemandem anschließen
können, der sagt: 'Wirf das alles über Bord' denn
Sie sollten überhaupt nichts von vornherein ausschließen.
Ich möchte neue Dinge in natürlichen Phänomenen finden.
Mit natürlichen Phänomenen meine ich die natürlichen
Intervalle, die wir in unserer westlichen Musik finden. Die haben
bestimmte Resonanzen, bestimmte Beziehungen untereinander, und von
denen können wir eine Menge lernen, und sie immerzu wieder
auf frische, unmittelbare Weise verwenden, sodaß neue Dinge
entstehen können, neue Formen von Tonalität zum Beispiel;
ein neues Gefühl für die tatsächliche Resonanz eines
Intervalls. Ich habe etwas dafür übrig, ein ganzes Werk
auf einem einfachen Intervall, oder einem Intervallpaar, zu errichten.
Mein ganzes achtes Streichquartett ist auf der einfachen Quinte
gebaut es gibt, außer der Oktave, kein einfacheres
Intervall."
Robert Simpson hat kaum Vokalmusik geschrieben. Das hatte nichts
mit einer Abneigung gegen die menschliche Stimme zu tun, die er
für das vollkommenste aller Instrumente hielt. Vielmehr sah
er wenig Sinn in der Verknüpfung von Worten mit Musik. Das
erste seiner zwei einzigen Chorwerke entstand 1975 auf einen eigenen
Text, den er ins Lateinische übersetzte: Media morte in vita
sumus.
Anfang von Media morte in vita summus (1975);
Corydon Singers & Orchestra, Matthew Best;
Hyperion CDA 67016.
"Heute können wir sehen, daß Haydns Musik ihrer
Zeit angehört, und auch, daß Bachs Musik ihrer Zeit angehört.
Aber keiner von beiden hat sich vorgenommen, den Zeitgeist in seiner
Musik zu reflektieren. Sie haben das, was sie machten, einfach so
gut und natürlich sie es konnten gemacht, dienten den Zwecken,
die sie als erfüllend ansahen, taten ihren Job bestmöglich,
usw. Ich würde sagen: Je mehr Komponisten heute in dieser Weise
ihrer Arbeit nachgehen, desto besser, denn selbstbewußter
Intellektualismus ist lange noch nicht dasselbe wie Intelligenz."
Robert Simpson hat nie formell Komposition unterrichtet. Doch hat
er als freundschaftlicher Mentor einige wichtige Symphoniker der
jüngeren Generation wie Halvor Haug, Matthew Taylor oder John
Pickard entscheidend geprägt. Jede Art schematischer oder gar
dogmatischer Herangehensweise erschien ihm grundsätzlich unkünstlerisch.
Er baute jedes Werk nach einem neuen, einmaligen, nicht vorgefaßten
Plan auf.
"Ich mache keine Skizzen. Ich beginne mit dem Keim einer Idee.
Ich habe eine eher vage Konzeption des Ganzen vor Augen, wenn ich
anfange. Laß es beginnen, laß es wachsen! Erlaube den
Dingen, zu wachsen, und fühle das Richtige. Es klingt sehr
naiv, aber ich denke, es stimmt, daß das richtig ist, was
sich richtig anfühlt. Wenn Sie etwas als falsch empfinden,
sollten Sie den Mut haben, es zu entfernen und durch etwas anderes
zu ersetzen. Als ich einmal gefragt wurde, wie das so sei, zu komponieren,
sagte ich: 'Eigentlich ist es ziemlich einfach. Wenn Sie etwas Schlechtes
geschrieben haben, werfen Sie es raus und ersetzen es durch
etwas Gutes. Kein Problem!' Das ist ein fürchterlicher Witz,
denn es ist tatsächlich ein teuflisches Problem. Wenn Sie dasitzen
und daran arbeiten, ist es ein Mord! Schrecklich! Manchmal, wenn
ich mit dem Schreiben aufhöre, schmerzt mein ganzer Rücken,
mein Nacken, meine Beine, meine Arme, mein Kopf alles tut
weh, und ich will nur noch zu Bett gehen, oder kollabieren, irgendetwas,
sogar Fernsehen!"
In England hat man immer wieder konstatiert, Robert Simpsons Stil
sei stark kontinental geprägt und nicht typisch englisch. Man
hat dabei übersehen, daß die angestammte Mentalität
eine universelle Ausbildung und schöpferische Haltung keineswegs
ausschließt. In ihrer herben Eleganz, ihrem bissigen Witz
und funkelnd trockenen Humor, ihrem distinguiert sprühenden
Musikantentum sind Simpsons Werke sogar ausgesprochen exemplarische
Zeugnisse englischer Kultur. Dies jedoch nicht in einschränkendem
Sinne: Er war gewiß alles andere als ein "Nationalkomponist".
In einigen Werken wie beispielsweise der Siebten oder Zehnten Symphonie
ist seine Tonsprache oft besonders harsch und wurde deswegen gelegentlich
als "modern" bezeichnet ein Attribut, dem Simpson
unverhohlene Abscheu entgegenbrachte. Er verwahrte sich gegen solche
Vereinnahmung und verstand es, die Idee vom musikalischen Fortschritt
als zentralem Wertekriterium als Perversion zu entlarven. Sein Schaffen
belegt diese Haltung nachdrücklich.
Robert Simpson war Englands bedeutendster Symphoniker. Seine Orchestration
ist immer, die Gesamtstruktur verdeutlichend, aus der Linie heraus
empfunden, in einer Spannweite von klassischer Gemessenheit bis
hin zu kühner Extremerfahrung. Dem einen oder anderen mögen
seine Werke zunächst kompliziert oder fremdartig erscheinen.
Sie gewinnen mit jedem Hören, wenngleich das Geheimnis ihrer
Wirkung auch dem mit seiner Musik Vertrauten letztlich unergründlich
bleiben muß. Robert Simpsons Werke können uns lehren,
daß es zu ausgeprägter Originalität nicht einer
vermeidenden oder gar verweigernden Einstellung bedarf, daß
das Eigene vielmehr im innigen Kontakt und lebendigen Austausch
mit den großen Meisterwerken immer weiter vertieft werden
kann. Eigenart spricht sich aus, ohne über sich sprechen zu
müssen, und erfüllt damit auch umfassend die soziale Funktion
von Kunst. Warum sollte Musik Berührungsängsten unterworfen
werden, wenn ihr denn letzten Endes doch stets die Aufgabe zufällt,
zu berühren?
"Etwas zu schaffen bedeutet, dem Tod zu trotzen. Der Gedanke
an den Tod macht mich grimmig, wie überhaupt die Tatsache,
daß das Leben so kurz ist. Ich will das Beste daraus machen,
und ich möchte in der einen oder anderen Form überleben.
Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod. Ich bin keine religiöse
Person. Aber indem ich meine Werke hinterlasse, bleibt wenigstens
etwas, wozu die Leute 'ja' oder 'nein' sagen können."
Zum Abschluß hören Sie Thea King und das Delmé
Streichquartett mit dem 1968 komponierten Klarinettenquintett von
Robert Simpson.
5.+6. Satz des 'Quintet for clarinet and strings' (1968): Allegro
molto Andantino Meno mosso, molto sereno;
Thea King (Klarinette), The Delmé String Quartet;
Hyperion CDA 66905.
Benutzte Literatur:
'Tonic. The Journal of the Robert Simpson Society', Vol. 6, 7, 8,
9 und Extraheft 'A Memorial Tribute'.
'The Symphonies of Robert Simpson', edited by Robert Matthew-Walker;
Lengnick, London 1991.
Informationen über Robert Simpson:
The Robert Simpson Society, Brian Duke (Secretary), 24 Regent Close,
FLEET, GB Hampshire GU13 9NS, England.
Wichtigste Verleger der Kompositionen Robert Simpsons:
Alfred Lengnick & Co. (Sally Willison, General Manager), 27
Grove Rd., GB Beaconsfield Bucks HP9 1UR, England.
Faber Music Ltd., Performance Promotion Dept., 3 Queen Square, GB
London WC1N 3AU.
DISKOGRAPHIE ROBERT SIMPSON
Sämtliche CDs bei HYPERION (Vertrieb: Koch)
Sinfonien (Dirigent: Vernon Handley): Nr. 1+8 (66890), Nr. 2+4 (66505),
Nr. 3+5 (66728), Nr. 6+7 (66280), Nr. 9 (66299), Nr. 10 (66510);
Streichquartette: Nr. 1+4 (66419), Nr. 2+5 (66386), Nr. 3+6 (+ Streichtrio,
66376), Nr. 7+8 (66117), Nr. 9 (66127), Nr. 10+11 (66225), Nr. 12
(+ 1. Streichquintett, 66503), Nr. 13 (+ 2. Streichquintett, Klarinettenquintett,
66905), Nr. 14+15 (+ Quintett für Klarinette, Baßklarinette
und Streichtrio, 66626);
Trio und Quartett für Horn, Streicher und Klavier (66695);
Sonate für Violine und Klavier, Klaviertrio (66737);
Komplette Soloklavier-Musik (66827);
Komplette Chorwerke: 'Media morte in vita sumus', 'Tempi' (67016);
Komplette Musik für Blechbläserensemble (66449).
(Stand 1998)
Sendemanuskript für BR2 (Redaktion: Wilfried Hiller);
Sprecher der Simpson-Zitate: Gerd-Udo Feller;
Produktion: 13.7.1998;
Erstsendung: 15.7.1998, 23:o5-24:oo, "Mittwochsthema"
Christoph Schlüren, im Juli 1998
Bournemouth Symphony Orchestra,
Vernon Handley
Hyperion CDA 66299
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